(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 1. Jahrgang, Heft 4, 1951

Das Buch zählt zu den entscheidenden Kulturfaktoren der abendländischen Welt. In seiner Pflege, Schätzung und Verbreitung kann man die Ra1i.gstufcn der Kulturhöhe der vergangenen zwei Jahrtausende bes tätigt finden, wie sie nach den Leistungen der bildenden Kunst , der Dichtung und Musik in den Gesd1ichtswerken fes tgelegt sind . :Qas Buch umfaßt zugleich alle diese Gebiete des geistigen Lebens und steht damit im Angelpunkte unserer gesd1ichtlichen und gegenwärtigen Kultur. Für die älteste abendländische Epoche unseres Heimat- landes sind die C o d i c e s M i 11 e n a r i i in Krems- münster ebenso wie der berühmte Tassilo-Kelch feste Be- griffe geworden, die uns um fast zwölf Jahrhunderte in der geschichtlichen Entwicklung zurückvers etzen. Damit ist nicht etwa gesagt, daß diese hervorragenden Kunstwerke aller wissenschaftlichen Rätsel und Probleme beraubt wären. Wie bei dem Kelch, dessen Zugehörrgkeit zum angelsäch-, sischen Kunstkreis unbestritten ist, die entscheidende Her- kunftsfrage „Festland oder Insel" noch heftig diskutiert ,vird, so geht es Gei den Handschriften danun, ob sie nicht vielleicht in dem Kloster angefertigt wurd en, dem sie sd10n so lan,ge verwachsen sind. Der Name „Codex Millenarius" bedeutet tausendjähriges Buch, eine Beze ichnung, die heute noch mehr stimmt als HOLT€R. vo r fast zweihundert Jahren, da sie geprägt wurde. Sie ~u.mmt von dem bibliothekarisch interessierten Nuntius G;"trampi, der den Papst im Jahre 1777 bei der Tausend- T ahr-Feier des Stiftes Kremsmünster vertrat. Als ihm dort die älteste Handschrift, ein Evangelienbud1 (Plenarium), in herrlicher Unzialschrift geschrieben und mit kostbaren Evangelistenbildern verziert, vorgelegt wurde, rief er er- freut aus: ,,Codex vere millenarius! " Der Name ist der Handschrift geblieben und sogar auf eine zweite, etwas iüngere übertragen worden, die der ersten seit vielen Jahr- hunderten zur Seite ist und in einen gleich kunstvollen Einband gebunden wurde. Auch sie hat ein Alter von tausend J;hren überschritten. Während der jüngere Millenarius Minor, wie wir jetzt wissen, aus dem karolingisd1en Skriptorium der Bisd1of- stadt F r e i s in g stammt, ist der Maior gewißlich öster- reichischer Entstehung und entweder in Salzburg oder einer davon sehr abhängigen Werkstatt unserer engeren Heimat geschrieben und gemalt worden. Es ist heute noch ve~früht, über diese Frage abschließend zu berichten, an der mit allen Mitteln moderner Forschun2; gearbeitet wird . Wir können aber darauf verweisen, daß diese kostbarste Handschrift nicht allein jene Frühzeit verkörpert, sondern daß vor allem in Wien, Linz, Kremsmünster, Lambad1 und Sankt Florian gleid12eitige Codices, teils ganz, teils i~1 Fr~gmenten e:rhalten sind. Wir können heute von k a r o l 1 n g 1s c h e n S c h r e i b s c h u 1 e n in Mondsee und Kremsmünster sprechen, deren Bedeutun2; ni~ht zuletzt in dem Nachw_ei s der kulturellen Kontinuität über die Zäsur der Ungarnem- fälle hinweg besteht. Die Menge der Fragmente ist größer als man glau- ben sollte, obgleich von vielen Handschriften nur ganz oe rin o-e Überreste oft nur ein Blatt oder nur ein Teil davon, ~rhal;en sind. Di~s erklärt sich daraus , daß im späten Mit- telalter, als die alten Handschriften zerlesen oder unleserlich geworden und ersetzt worden waren. ihre Seiten mir. Vor- liebe als Buchbindermatcrial verwendet wurdrn. Soll m'ln das Vorgehen jener Jahrhunderte, die nod1 da, Erwad1e 11 c1es historischen Interesses für diese alten Denkmäler unc1 die Erfindun? des Buchdrucks gesehen haiben. als „Barbarei" ,cO „ d k anprangern oder soll man den fleißigen Händen an en, die uns iene Fragmente wenigstens als Unterkleb1.111gen erhalten haben? Heute hat jede lebendige, gut geführte Bibliothek, so etwa die Studienbibliothek in Linz, di e Stift e Kremsmünster, Reici1ersberg und St. Florian, ihre F r a g - m e n t e n - S a m m 1 u n g , aus der die Fachleute von Zeit zu Zeit immer wieder Kostbarkeiten für die Forschung ans Lid1t bringen. Das wichtigste Denkmal ist hier die Ar n - B i b e] der Krem~münsterer Stiftsbibliothek, von der 28 Blatt erhalten sind und die als eines der ältesten in Dster- reid, ;esd1riebenen Büd1er angesehen wird. Neben diesen Denkmälern der ersten Frühzeit wirkt die B ü c her - m e n g e des H o c h m i t t e 1 a 1 t e r s , der Zeit vom '! 1. bis "13. Jahrhundert, geradezu überwältigend. Aus der Buchkultur, die in allen Klöstern gleichmäßig blühte, a_ber infolge der Zeitereigni sse nicht überall gleich gut erhalten geb li eben ist, heben sich verschiedene Glanzpunkte recht Codex mille11ari1-1s mainr, Evangelist Matthät<s, Stiftsbibliothek /( remsmü11ste r.

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