Hochland, Heft Steyr, November 1919

Seite 8 November 1919 Was dann später noch folgte, waren lichtscheue Verzerrungen einer aufgepeitschten Fantasie. Nicht mehr „Grau in Grau“ sah er alles vor sich, sondern „Schwarz in Schwarz“. Dazwi¬ schen flammte immer gieriger das, von ihm selbst ausgesprochene Todesurteil auf: „Richard Sturm muß sterben!!“ — „Es sei also!“ rief er und griff rasch nach dem Revolver. Wie kalt der sich anfühlte. — Eisig kalt! — Nun kam ihm aber in den Sinn, noch alle Papiere zu ordnen. Die Reise die er an¬ treten wollte, schloß die Rückkehr aus. Böse Nachreden gegen die es später kein sich selbst vertei¬ digen mehr gab, mußten hintan¬ gehalten werden, so lange hiezu noch Gelegenheit und Zeit vor¬ handen war. Beim Durchsehen von Brief schaften, Aufsätzen und Familien¬ papieren, stieß er auf eine läng¬ liche Kartonschachtel, die von einem schwarzen Seidenbande kreuzweise umschlungen war. Der Anblick dieses Gegenstandes machte den armen Burschen zit¬ tern. Später, als er die Schachtel öffnete, begann er zu schluchzen. Aber es war mehr ein Weinen nach Innen. Dies schmerzt am tiefsten. Es sengt immer stärker brennende Male in das Herz. Hastig faßte er nach dem Inhalt der Schachtel: eine angebrannte Wachskerze. „Mütterchens Ster¬ bekerze“ flüsterte Richard und be¬ trachtete voll Inbrunst das Stück Wachs. — Schmerzvollste Erin¬ nerungen knüpften sich daran. Diese Kerze hatte auf einen wack¬ ligen Tischchen gebrannt, als Sturm der eben Verschiedenen die Augen für immer schloß und die heißesten Küße auf die nun ganz Das Kreuz von Kalksburg. kalten Lippen preßte. Niemand war damals im Mansardenstübchen zugegen gewesen als er und sie, seine¬ heilige Tote. Der Abend war hereingebrochen und hatte ein, aus Dämmer¬ licht gewobenes Netz geworfen über die unter großen Schmerzen entschla fene Dulderin. Das Flackern der Flammen rief allerlei Sinnestäuschungen hervor. Einmal war ihm, als sehe er die Lippen der Verstorbenen ganzleicht zittern: ein andermal gerieten die gefalteten Hände in Bewegung. Es schien, sie wollten sich heben um ihn zu segnen. Richard war sich der Täuschungen vollauf be¬ wußt, trotzdem nahm er sie dankbar hin als ob es Wahrheit, Wirklichkeit sei, was er zu sehen ver¬ meinte. Er träumte sich damit in das Weiterleben der Seligen hinein und glaubte zuversichtlich daran, daß sein braves Mütterchen nun den Lohn gefunden hatte, für ein beinahe sechzigjähriges, dem viel Dul¬ den und Ertragen geopfert gewesenes, Frauenleben. Das Knarren der schmalen Holztreppe hatte ihn aus seinem Weltabgewendetsein gerissen. Der Armenarzt war gekommen die Totenschau rasch ab¬ zutun. Die Antersuchung und nachher die Beileids¬ worte nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Was gab es für Dr. Kummer auch viel zu sagen? Freilich, er wußte ganz gut, daß die beiden stets in größter Eintracht mit¬ sammen gelebt und auch gedarbt hatten. Besonders die Mutter, um dem Sohne den Besuch der Hoch¬ schule zu ermöglichen. Er, um Mütterchen doch ab und zu ein Stücklein Fleisch in den Topf zu bringen. All dies und noch viel, viel anderes, kam Richard Petschaft. m. Blämelhuber. in Erinnerung, als er die Kerze in den Hals einer leeren Flasche steckte und hernach anzündete. Beschlossen war: Sie sollte auch ihm die Sterbekerze sein. Richard öffnete beide Fen¬ sterflügel und sah lange zum Himmel hinauf. Daraus wurde ein Gespräch zur Mutter, die er dort oben irgendwo geborgen wähnte. „Bald komme ich auch!“ begann er. „Gott wird mir die Tat verzeihen. Ich habe gerungen so lange als möglich; weiter kann ich es nicht mehr. Verzeihe auch Du mir, Mütterchen!“ Ein greller Hilfschrei, zwei, dreimal wiederholt, riß Richard aus seinem Leben in anderen Welten. Als er sich über die Fen¬ sterbrüstung hinausneigte, hörte Sturm Röcheln, dazwischen hinein Drohen. „Beim Schuhmacher Leuthold ist etwas los“, überlegte Richard, schwang sich aber auch schon auf den Söller hinab, der in Mannes¬ höhe unter seinem Fenster hin¬ lief. In der Stube des Meisters rangen zwei Menschen auf Tod und Leben. Ohne Zögern drückte Richard das Fenster ein und warf sich als Dritter in den blutbe¬ spritzten Knäuel. Lange währke der Kampf, endlich überwältigte der junge Mensch den Mordgesellen, hielt ihn so lange fest, bis Nachbaren zu Hilfe kamen. Bald nachher war der Verbrecher gefesselt und der Gendarmerie übergeben.Doch konnte man den Schwerverwun¬ deten nicht allein lassen. Die Leute baten Richard, er möge so lange beim Meister bleiben, bis dieser ins Spital überführt werden könne. Er willigte ein. Als er mit den Besinnungs¬ losen allein war, fiel ihm aller¬ dings sein Vorhaben ein. Er sagte sich: „Ob ich in der Nacht hinüber¬ M. Blümelhuber. gehe oder erst gegen Morgen, was tut es? Ein noch geleistetes gutes Werkchen kann mir sicher nicht schaden. —“ Der Tag graute bereits, als die Leute vom Spital kamen um den Verwundeten abzuholen, mit ihnen die Gerichtskommission. Während Leuthold auf die Tragbahre gelegt wurde, erhielt Sturm die Weisung, im Laufe des Vormittages beim Gericht zu erscheinen. Mittag war vorüber, als er am Arm eines älteren Herrn das Amtsgebäude verließ. Im Stehen bleiben sah der Führende dem Geschwächten, Ab¬ gematteten. Ausgehungerten, fest in die Augen; dann stellte er die Frage: „Sie waren also wirklich entschlossen, Ihrem jungen Leben ein vorzeitiges Ende zu bereiten?“ „Ja, Herr!“ lautete die kurze Antwort. „Ich wollte sterben. Daß es nicht zur anfangs festgesetzten Stunde durchgeführt wurde, daran ist nicht Wankelmut schuld, oder gar Feigheit. Ich fand die Sterbekerze meiner Mutter, alles andere kam dann nach und nach als Schicksalsverkettungen gegen mein Vorhaben“. Heute ist Dr. Richard Sturm einer der frucht¬ barsten Dichter. In seinem Arbeitszimmer steht unter einem Glassturz, in einem Silberleuchter, „Mütterchens Sterbekerze“ und, —— man kann die Ausleiung nicht belächeln, „Richard Sturms Brieföffner. Lebensretterin“. I. Blümelhuber.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2