Daran möchte ich meine Thesen knüpfen, wie Volkskulturarbeit in Zukunft zu sehen sein wird: - Das Idinterfragen und das Hineinstellen von Bräuchen in den historischen Kon text, denn die Frage nach der Herkunft, der Funktion und dem Wandel unserer Bräuche muß für alle Beteiligten, egal, ob als Ausführende oder als Zuseher, im mer wieder erklärt, erzählt und neu interpretiert werden. Dies braucht aber keine nostalgische Rückkehr in die Geschichte, vielmehr soll Geschichte eine Brücke sein, die gegenwärtigen Formen zu begreifen. Denn die „Präsenz der Vergangen heit in der Gegenwart, die sie begrenzt und für sich beansprucht... ist das Wesen der Moderne", schreibt Jean Starobinski.® Wir dürfen nicht übersehen, daß - so wie es Adolf Spamer formulierte - Kultur ein historisch gewordener Besitz sozia ler Gruppen ist, der sich im Zusammenhang mit geschichtlichen Prozessen verän dert. Mit der Veränderung seiner Formen löst sich der Brauch jedoch nicht auf, „sondern er wird in seinem symbolischen Profil der veränderten Realität ange paßt. Er ,überlebt', solange er sozialen Gebrauchswert besitzt und kulturelle Ver ständigungen transportieren kann - nicht als Brauch, sondern im Ge-Brauch."' - Den zweiten Gedanken, den ich anhand der Riesenfiguren vor Augen führen möchte, sind die vielfältigen Anlässe, an denen die Festlichkeiten stattfinden. Bräuche geben den Menschen die Möglichkeit, aus dem Alltag herauszutreten, um sich Zeit zu nehmen für das Feiern in der Gemeinschaft. Auch dies wird künf tig ein wichtiger Aspekt der Kulturarbeit sein, denn schließlich sind es diese Mo mente - egal, ob es sich um Bräuche im Ort oder in der Familie handelt -, die uns über Partei- und Altersgrenzen hinweg zusammenführen und jedem Beteiligten einen entsprechenden Platz in der Gemeinschaft zuweisen: Ein Aspekt, von dem ich glaube, daß Volkskultur eine Stütze sein kann, weil ihre Stärke in der Über schaubarkeit liegt. Eine Stärke, die von uns aber im großen wie im kleinen Umfeld vernetztes Denken fordert. Die Blasmusik gibt hier einen ganz spannenden Weg vor, der durch die Erweiterung des Repertoirs eine Vielzahl von musikalischen Richtungen beinhaltet und heute neben Marschmusik auch Zeitgenössisches bie tet. - Als dritter Punkt erscheint mir der Hinweis auf die zunehmende Ästhetisierung wesentlich: Als „Sinnenlehre" oder „Lehre von den sinnlichen Empfindungen und Eindrükken", wie die Ästhetik definiert wird, meint sie nicht in erster Linie Kunst, sondern bezieht sich auf den gesamten Bereich menschlicher Wahrnehmung und Empfin dung, geht also über reines Denken hinaus. Die „Ästhetisierung der Wirklichkeit" macht durch Kulturarbeit auch ein Stück emotionaler Lebenswelt sichtbar.^" ' Zit. in: Marc Auge, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994, S. 90. 'Aus: Wolfgang Kaschuba: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Ge schichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1988, S. 265. ' Vgl. Wolfgang Kellner: Vom engen zum erweiterten Kulturbegriff und zurück? In: Pöllinger Briefe, Heft 1, Horn 1999, S. 9.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2