OÖ. Heimatblätter 1998, 52. Jahrgang, Heft 3/4

durch die Landgemeinden, also in vier Wählerklassen. „Das Abgeordnetenhaus war also weniger eine Volksvertretung, mehr eine Interessenvertretung." So wa ren z.B. bei den Wahlen 1873 von 20,974.645 Einwohnern nur 1,254.012 Personen wahlberechtigt, weil auf Grund des Steuerzensus der überwiegende Teil der männlichen Staatsbürger, und nur sie waren überhaupt wahlberechtigt, kein Wahlrecht besaß. Dazu kam noch, daß z. B. auf 59 Wähler in der Kurie der Großgrundbesitzer ein Abgeordneter kam, während in der der Landgemein den das entsprechende Verhältnis 84.000 zu eins betrug.^ Dazu nochmals Musil: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bür ger."^ Schrittweise wurde das Wahlrecht ausgedehnt, doch erst 1907 wurde das 1896 auf fünf Wählerklassen verbreiterte Klassenwahlsystem durch das allge meine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht aller männlichen österreichi schen Staatsbürger über 24 Jahre ersetzt. Nicht gewählt wurde dagegen das Herrenhaus. Für das Zustandekommen eines Reichsgesetzes waren die Zustim mung beider Häuser des Reichsrates und die Sanktion des Kaisers erforder lich. Die Kundmachungsformel lautete dementsprechend: „Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen wie folgt": ...Dem Herren haus gehörten Mitglieder des Kaiserhau ses, Angehörige des hohen Adels und des hohen Klerus an, außerdem „aus den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern ausgezeichnete Männer, welche sich im Staat oder Kirche, Wis senschaft oder Kunst verdient gemacht haben"; sie berief der Kaiser auf Lebens dauer in das Herrenhaus.' Zu den ersten solcherart Berufenen zählte 1861 Franz Grillparzer (1791-1872), dessen Rang als politischer Dichter' jüngst wieder durch die „Libussa"-Inszenierung von Peter Stein bei den Salzburger Festspielen 1997 sichtbar gemacht wurde. 1902 wurde die späte Auszeichnung der Beru fung in das Herrenhaus dem österreichi schen Schriftsteller Ferdinand von Saar (1833-1906) zuteil. Im Nachwort zur Neuausgabe von Saars „Novellen aus Österreich" stellt sie deren Herausgeber Roman Rocek neben jenen der EbnerEschenbach als „wohl einzigarhge Zeug nisse der Gattung in Österreich" in die Nähe „des trotz seiner solitären Stellung in der österreichischen Literatur restlos vergessenen Karl Emil Franzos'V Noch weit vergessener ist aber der Staatsrechtler und Soziologe Ludwig Gumplowicz (1838-1909), obwohl sein Buch „Das österreichische Staatsrecht" in der dritten Auflage von 1907 in der ausgewählten Literatur zur Verfassungs geschichte der Monarchie in den führen den jüngsten Werken über das österrei- ^ Schambeck, Entwicklung und System des österreichischen Parlamentarismus, in: Listl/ Schambeck, FS Broermann (1982), S. 588. ^ Musil (FN I), S. 33. ^ § 5 RGBl. Nr. 141/1867; zufolge RGBl. Nr. 16/ 1907 durfte die Zahl dieser Mitglieder 170 nicht überschreiten und nicht unter 150 verbleiben. Zu den Beweggründen hiefür: Schambeck (FN 3), S. 588. ' „Grillparzer war kein Politiker, aber neben Goe the und Kleist der politischste Kopf unter den neueren Dichtern deutscher Sprache." So Hof mannsthal „Grillparzers politisches Vermächt nis", in: Reden und Aufsätze II/l 1914-1924, S. 405. ' Rocek, Döhlau Verlag (1986), S. 317.

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