OBEROSTERREICHISCHE il
OBEROSTERREICHISCHE-r-i. 51. Jahrgang Heft 3/4 Herausgegeben vom Institut für Volkskultur Helmut Renöckl Kultur braucht tiefe Wurzeln und weite Horizonte Andreas Kopf und Peter Pfarl Eine bemalte Decke aus dem 17. Jahrhundert im Schloß von St. Wolfgang Manfred Koller Der spätgotische Schrank in der Stadtpfarrkirche von Steyr Elisabeth Maier Volkstümliche Elemente in der Musik des 19. Jahrhunderts oder Anton Bruckners „Musikösterreichertum" Andrea Harrandt Bruckner und die Chormusik seiner Zeit Johannes Ebner, Monika Würthinger, Willibald Mayrhofer, Alfred Hager Dokumente zur Pfarrgeschichte Josef Demmelbauer Die Regionalgeschichte als Quelle „großer" Geschichte Von der nachlassenden Wirkung der Ideologien Klaus Petermayr Oberösterreichische Landschaft, Geschichte und Bevölkerung im literarischen Schaffen Johann Beers Franz Sonntag Ein Beitrag über kaiserliche Anordnungen aus der Zeit von 1782 bis 1790 Herbert Kneifel Fremdenverkehrswerbung im 19. Jahrhundert am Beispiel von Enns Sabine Nöbauer Vom „artigen Markt" zum Fremdenverkehrsort Ein architektonischer Streifzug durch Bad Ischl Das Haupt des Johannes aus der Olberggruppe zu Ried im Innkreis - Hugo Schanovsky Die fünf Bilder an der Empore der Pfarrkirche von St. Veit i. M. - Herbert Traxler Kleindenkmale von Messerern und Steinmetzen in Steinbach a.d. Steyr - Heinrich Kieweg Dr. Hans Schnopfhagen d. J. (1870-1937). Eine Ergänzung zum Lebenslauf eines kulturbeflissenen Arztes - Gerlinde Moeser-Mersky Buchbesprechungen
Medieninhaber: Land Oberösterreich Herausgeber: Institut für Volkskultur Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexem plare) und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter der OÖ. Heimatblätter: Dr. Alexander Jalkotzy, Institut für Volkskultur, Spittelwiese 4, 4010 Linz, Tel. 0 73 2/7720-5640 Jahresabonnement (2 Doppelnummern) S 160,- (inkl. 10 o/o MwSt.) Hersteller: Druckerei Rudolf Trauner Ges.m.b.H., Köglstraße 14, 4020 Linz Grafische Gestaltung: Mag. art. Herwig Berger, Hafnerstraße 19, 4020 Linz Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der jeweilige Verfasser verantwortlich Alle Rechte vorbehalten Für unverlangt eingesandte Manuskripte über nimmt die Schriftleitung keine Haftung ISBN 3-85393-080-8 KULTUR lAND OBEROSTERREICH Titelbild: Tiefe Wurzeln im Stein. Foto: Fritz Fellner Mitarbeiter; W. Hofrat Dr. Josef Demmelbauer Parkgasse 1, 4910 Ried im Innkreis Dr. Johannes Ebner p.A. Diözesanarchiv, Harrachstraße 7, 4020 Linz Alfred Hager Nikolaus-Otto-Straße 16, 4020 Linz Dr. AndreaHarrandt p.A. Anton Bruckner Institut Linz, Brucknerhaus, Untere Donaulände, 4020 Linz Kons. Heinrich Kieweg 4594 Steinbach a.d. Steyr 165 Kons. Dr. Herbert Kneifel p.A. Museum Lauriacum, Hauptplatz 19, 4470 Enns Doz. Dr. Manfred Koller Bundesdenkmalamt, Arsenal, Objekt 15, Tor 4, 1030 Wien OSR Andreas Kopf Rußbach 92, 5351 Aigen-Voglhub Dr. Elisabeth Maier p.A. Anton Bruckner Institut Linz, Brucknerhaus, Untere Donaulände, 4020 Linz Willibald Mayrhofer p. A. OÖ. Landesarchiv, Anzengruberstraße 19, 4020 Linz Dr. Gerlinde Moeser-Mersky Neubaugasse 1, 3400 Klosterneuburg - Ma. Gugging Mag. Sabine Nöbauer Richard-Strele-Straße 11, 5020 Salzburg Klaus Petermayr Anzengruberstraße 20, 4850 Timelkam Dr. Peter Pfarl Schröpferplatz 5, 4820 Bad Ischl Univ.-Prof. Dr. Helmut Renöckl Wischerstraße 29, 4040 Linz Prof. Hugo Schanovsky Urbanskistraße 6, 4020 Linz Kons. OSR Franz Sonntag Mittelstraße 15, 5230 Mattighofen Dr. Herbert Traxler 4173 St. Veit im Mühlkreis 79 Dr. Monika Würthinger p.A. Diözesanarchiv, Harrachstraße 7, 4020 Linz
Kultur braucht tiefe Wurzeln und weite Horizonte^ Von Helmut Renöckl Die Einrichtungen der Volkskultur haben eine große und schöne Aufgabe: „Die emotionalen und schöpferischen Kräfte der Menschen zu wecken und zu ent falten, die Gestaltung sozialer Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Neuem zu fördern und dies eingebettet in unser Land als Heimat. Wir Men schen brauchen Heimat als Raum der Verwurzelung und Geborgenheit. Heimat ist und bleibt aber nur durch unser bewußtes kulturelles Mitgestalten wirklich Hei mat."^ Ich vertrete entschieden einen umfassenden Kulturbegriff: „Kultur" umfaßt die menschenwürdige Gestaltung unseres Lebens und unserer Umwelt insgesamt, beschränkt sich beispielsweise nicht auf Kunst, Musik, Theater, Literatur ..., so unverzichtbar diese für die Kultur sind. Volkskultur ist keinesfalls auf bloße Verzie rung des Lebens oder auf Idyllen am Rand zu reduzieren. Kein wichtiger Bereich, keine wesentliche Dimension darf ausgelassen werden, auch nicht Wirtschaft und Technik, weder der persönliche, häusliche, noch der öffentliche, politische Bereich, andernfalls herrscht in den ausgelassenen Bereichen und insgesamt Unkultur statt Kultur. Diese umfassende Perspektive muß Anliegen echter Volkskultur sein. Volks kulturell engagierte Menschen und Einrichtungen widmen sich in aller Regel jeweils einem konkreten Anliegen. Dies steht nicht im Gegensatz zum geforderten weiten Horizont, wenn dies als Beitrag, als Mosaikstein zum großen Ganzen verstanden und praktiziert wird. Die Aspekte der Kunst und der Volkskunde wurden im Rahmen dieser Tagung speziell behandelt. Ich möchte den Blick auf die gegenwärtigen, durchaus dramatischen Veränderungen unseres Landes, unserer Heimat richten und die damit gegebenen kulturellen Gestaltungsaufgaben verdeutlichen. Vortrag, für die Publikation bearbeitet, im Rahmen der 5. Jahrestagung des „Oberösterreichischen Fo rums Volkskultur" am 15. 3. 1997 im Bildungshaus Stift Reichersberg, gewidmet den vielen, die in den Mitgliedseinrichtungen ehrenamtlich wertvolle Kulturbeiträge ermöglichen, und speziell Herrn Hofrat Dr. Dietmar Assmann, dem langjährigen Inspirator und Förderer der Volkskultur und Er wachsenenbildung in Oberösterreich, anläßlich seines Umstiegs in die „Phase des freien Schaffens". Der Autor lehrt philosophische Ethik an der Theologischen und Technisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Linz, hat den Lehrstuhl für Theologische Ethik, Sozialethik und ethische Bildung an der Theologischen Fakultät Budweis und ist Referent für Theologische Erwachsenenbildung im Pastoral amt der Diözese Linz. ■ Sinngemäß zitiert aus D. Assmann: Bildungsauftrag Volkskultur - Forum Volkskultur. In; 40 Jahre Verband Österreichischer Bildungswerke. Wien 1994, S. 53.
Drei gleichzeitige (Ver-)Störungen: Ende der österreichischen Gemütlichkeit? Nach Jahrzehnten einer sehr erfreulichen Entwicklung unseres Landes, ver gleichsweise ruhiger und wohlhabender Verhältnisse auf unserer „Insel der Seligen", werden wir ziemlich plötzlich und unvorbereitet von rauhen Winden und Stößen durchgerüttelt: Die Trennmauer quer durch Europa und Österreichs Sonderrolle sind weg Da ist erstens die dramatische Veränderung in Europa durch die Auflösung des totalitären Marxismus und des Sowjetimperiums 1989/90 zu nennen. Ohne gro ßen Krieg - das ist geschichtlich einmalig - brach dieses mächtige, totalitäre Impe rium zusammen, die Völker in unserer Nachbarschaft wurden frei, die Trennmauer quer durch Europa fiel, die Absperrungen, auch riesige und höchst gefährliche mili tärische Rüstungen auf beiden Seiten konnten abgebaut werden. Das ist an sich eine weltgeschichtlich einmalige Chance, ein Kairos, aber für uns in Österreich war damit die durchaus komfortable Sonderlage (die militärischen Risiken haben wir ver drängt) im Windschatten der Ost-West-Trennmauer vorbei. Die geopolitische und kulturpolitische Lage Österreichs mitten in Europa im Schnittpunkt der Wege, Ein flüsse und Interessen, die unsere Geschichte, unsere Kultur und Mentalität geprägt hat, ist wieder in aller Intensität und Schärfe spürbar. Erinnern wir uns an die Formu lierung unserer Bundeshymne: „heißumfehdet, wild umstritten, liegst dem Erdteil du inmitten". Ob das anschließende „einem starken Herzen gleich" stimmt, muß sich noch herausstellen. Vorerst reagiert unsere Bevölkerung auf diesen Umbruch zum Unbe quemen, Ungeschützten, Ausgesetzten überwiegend verstört, ja beleidigt. Das ist verständlich, aber nicht hilfreich, sondern lähmend. Diese neue alte Lage ist eine Herausforderung für unsere Wahrnehmungs- und kulturelle Gestaltungskraft! Bedenken wir: Der Reichtum der österreichischen Kultur erwuchs wesentlich aus den Begegnungen und Auseinandersetzungen der verschiedenen Traditionen und Kräfte in der Mitte Europas! Verspätete Integration in die „Baustelle Europa" Zweitens bringt die verspätete Integration in die „Baustelle Europa" schmerz liche Umstellungs- und Anpassungsprozesse mit sich. Erinnern wir uns: Schon vor rund 30 Jahren wollte sich Österreich an der europäischen Integration beteiligen, aber damals scheiterte dies am sowjetischen „Njet". In der Zwischenzeit ist in den Stammländern der Europäischen Union das Zusammenwachsen schrittweise erfolgt, bei uns geht es jetzt für viele bisher geschützte Bereiche schockartig schnell. Es kommt noch dazu, daß die politisch Verantwortlichen die Menschen darauf nicht vorbereitet haben. Man hat - wie in der Wirtschaftswerbung üblich - nur die Vor teile herausgestellt und den Aufwand, das Schwierige verschwiegen. Es geht dabei gar nicht nur um den Wirtschaftsbereich, sondern um schwierige Umstellungen im Bewußtsein, im Empfinden, Denken und Handeln insgesamt, um eine Umstellung
vom Kleinräumigen, teils Vertraut-Gemütlichen, teils Provinziellen, zum Großräumigen. Offenen, mit einer anderen Atmosphäre, sehr anderen Rahmenbedingungen und neuen Erfordernissen im Denken und Handeln. Das geht nicht leicht und nicht schnell. Für die Integration Europas gibt es viele gewichtige Gründe, ein (durchaus noch mögliches) Scheitern wäre schlimm. Aber vieles am „Haus Europa" ist erst im Bau oder harrt sogar noch der Planung.^ Am weitesten ist der „Wirtschaftstrakt" gediehen, aber selbst da ist vieles noch sehr unfertig und provisorisch. Im „Wohnbe reich", erst recht bei den geistig-seelischen Dimensionen, und das sind unersetzliche Wurzeln und Horizonte für die humane Kultur, stehen wir noch ziemlich am Anfang. Da gibt es große Leerräume und Disproportionen, hier ist noch sehr viel kultureller Gestaltungseinsatz nötig. Das ist keineswegs - wie weithin gewertet - sekundär gegenüber der dominierenden Ökonomie, sondern Sinn und Ziel des Ganzen. Was nützt eine stetig zunehmende wirtschaftliche Dynamik, wenn sehr viele Menschen dabei auf der Strecke bleiben, wenn Unrecht und soziale Spannun gen wachsen, wenn das Leben von immer mehr Menschen und das Gemeinwohl verkümmern? Wirtschaft ist unersetzlich auf der Ebene der Mittel; Sie stellt notwen dige Voraussetzungen für körperliches und geistiges Leben, für Individuen und Gemeinwohl bereit, aber Wirtschaft ist nicht Selbstzweck!" Der langjährige Präsi dent der Europäischen Kommission, Jacques Delors, hat es pointiert formuliert: „Wenn Europa seine Seele nicht findet (entwickelt), wird es seine Geburt nicht über leben!" „Globalisierung": weltweite ökonomische und kulturelle Revolution Drittens vollzieht sich derzeit eine weltweite ökonomische und kulturelle Revolution, die „Globalisierung". Die geschichtliche Entwicklung verläuft nicht in gleichmäßigem Tempo. Neben ruhigeren Zeiten gibt es Beschleunigungsphasen, ja geradezu Umbruch-Schübe. Ein derartiger Umbruch im 19. Jahrhundert bekam die Bezeichnung „Technische Revolution", weil durch die Einsatzreife wichtiger Techni ken nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Sozialgefüge, Bewußtsein und Lebens form radikal verändert wurden. Der Umbruch erfolgte mit unwiderstehlicher Wucht, die massiven Folgen waren ambivalent, teils befreiend, teils deformierend/ zerstörend. Man hat dieses Geschehen nicht rechtzeitig und nicht gründlich genug verstanden und ist daher die humane Gestaltung, die Kultivierung dieser Entwick lungen weithin schuldig geblieben. ^ Vgl. dazu: H.-W. Platzer: Lernprozeß Europa. Die EU und die neue europäische Ordnung, Bonn ''1995. - K. Koch: Christsein in einem neuen Europa. Provokationen und Perspektiven. Freiburg/ Schweiz 1992. - H. Renöckl: Wir brauchen zukunftsfähige Werte. In: Kat. Blätter München 120 (1995) S. 719-729. " Ausführlicher dazu: P. Koslowski: Wirtschaft als Kultur. Wirtschaftskultur und Wirtschaftsethik in der Postmoderne. Wien 1989. - P. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdien lichen Ökonomie. Bern 1997.
Jetzt ist mit der „Globalisierung" eine vergleichbare Revolution weltweit in Gang. Ausgelöst und getrieben wird sie durch die Schlüsseltechnologien elektroni sche Datenverarbeitung, Telekommunikation und Gentechnik. Informationen ebenso wie Waren, Produktionen, Dienstleistungen und Kapital werden schnell und billig weltweit bewegt und gehandelt. Osterreichische Produktionsbetriebe und Dienstleistungen stehen nicht nur mit den europäischen, sondern auch mit amerika nischen, japanischen, koreanischen, chinesischen ... Konkurrenten in Wettbewerb. Durch die neuen technischen Möglichkeiten verlagern sich mit den Informations und Warenströmen rasant die Entscheidungszentren, die Arbeitsplätze, verändern sich die Lebensverläufe, Bedeutsamkeiten, Bewußtsein und Verhalten. Die Bewußt seins- und Einstellungsveränderung beispielsweise durch die elektronischen Mas senmedien läßt sich am Fernsehen gut zeigen: Ich bin Geburtsjahrgang 1943, meine erste Fernsehsendung erlebte ich mit ca. 12 Jahren und sah in der Folge ein- bis zwei mal pro Woche eine Sendung. Fleute liegt der durchschnittliche tägliche Fernseh konsum deutlich über zwei Stunden, und er beginnt bereits mit ca. zwei Jahren, in der Stadt wie am Bergbauernhof! Ein durchschnittlicher ISjähriger hat mehr Stun den vor dem Fernseher als in der Schule verbracht. Die Programme, Bilder, ITandlungsmuster, Informationen kommen aus aller Welt. Die stabilen geschlossenen Lebenswelten wie früher gibt es nicht mehr, Lebensverhältnisse und Bewußtsein, die Sicht der Welt und des Lebens, Einstellungen, Möglichkeiten und Grenzen sind sehr anders als früher - und der Wandel geht rapid weiter. Vieles läuft wiederum mit unwiderstehlicher Eigendynamik, die Folgen sind ambivalent. Erfreulichem steht Bedrohliches gegenüber. Es ist außerordentlich wich tig und dringlich, diese neuen Verhältnisse zu kultivieren, persönlich und öffentlich strukturell! Nur wenn man hellwach diese Vorgänge wahrnimmt und mit aller Kraft gründlich zu verstehen versucht, wird man humane Gestaltungschancen entdecken und realisieren können. Je früher man sich damit auseinandersetzt, umso größer sind die Gestaltungschancen, umso geringer die Schäden. Die Augen vor diesem Umbruch zu verschließen, die Auseinandersetzung damit aufzuschieben, sind ver ständliche, aber verhängnisvolle Haltungen, die allerdings bei uns derzeit vorherr schen. Drei große Veränderungsschübe gleichzeitig - das überfordert viele und dis poniert für problematische Haltungen und Tendenzen, individuell und kollektiv. Problematische Tendenzen verstehen - um ihnen NICHT zu erliegen Außergewöhnliche Umbrüche (erst recht, wenn mehrere gleichzeitig auftre ten) haben starke Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung („Identität"), auf die psychosoziale und politische Lage. Darauf hat schon der Klassiker der Sozio logie Emile Dürkheim' mit seiner „Anomie-These" hingewiesen. Neue Forschungen E. Dürkheim: Le Suicide 1897, deutsche Neuausgabe Neuwied 1973. Vgl. dazu .W Korff: Wie kann der Mensch glücken? München 1985, bes. S. 9-32.
bestätigen und vertiefen diese Erkenntnisse. Es geht um folgende Zusammenhänge; In „normalen" Zeiten mit moderatem Veränderungstempo erfolgt die individuelle und kollektive Persönlichkeitsentwicklung als Hineinwachsen in und Geprägtwer den durch eine bestimmte Kultur. Man wird nicht Mensch im abstrakten Sinn, son dern konkret Österreicher, Japaner, Russe usw. Trotz mancher Reibereien (vor allem in der Pubertät) wächst man relativ unproblematisch in die geltende Eebensform hinein, in die vorhandenen Ansichten, Werte, Regeln seiner Heimat, seines Glau bens, konkret in Orientierung an den Eltern, Eehrern, Seelsorgern, Freunden und Vorbildern. Radikale Umbrüche wie jetzt bringen es mit sich, daß Erziehende, alle Vorbilder und Autoritäten unsicher sind, was noch gilt bzw. was wie im Hinblick auf die sich ändernden Verhältnisse geändert werden muß, wie jetzt gelebt werden sollte. Die Identitätsfindung und Lebensorientierung, die Entwicklung stabiler, belastbarer Persönlichkeiten ist daher in Umbruchszeiten tendenziell erschwerU^ Es kommt individuell und gesellschaftlich zu einer problematischen Schere zwischen ver ringerter Belastbarkeit und erhöhter Belastung. Weil man - verunsichert und wenig belastbar - komplizierte Neuorientie rungen und anstrengend-langwierige Wege schlecht „aushält", neigt man zu allzu einfachen Deutungen und „Lösungen": Man träumt sich zurück in die „vergoldete" Vergangeneit oder in eine utopisch-ideale Zukunft, man neigt zu Schwarz-WeißMustern, religiösen und profanen Fundamentalismen, zu persönlicher und politi scher Polarisierung mit projektiven Alleinschuld-Zuweisungen zur jeweils anderen Seite. Die skizzierte persönliche und psychosoziale Lage trägt wesentlich zum Schrumpfen der Perspektive bei. Das Interesse und Engagement für das Gemein wohl ist rückläufig, es kommt zur Entsolidarisierung, man zieht sich auf die eigene Gruppe bzw. auf die eigenen Interessen zurück. Das zeigt sich in akhven bis aggres siven Formen in der Brutalisierung der ökonomischen und sozialen Auseinanderset zungen, in der Ausrichtung auf schnelle Erfolge ohne Rücksicht auf Schäden, man setzt verstärkt auf defensiv geschlossene Identität (neue Nationalismen, AusländerPhobie) ... Ebenso beachtlich sind die passiven bis depressiven Formen: Antriebslosigkeit, Entscheidungsschwäche, Selbstbemitleidung (in den ehemals kommunisti schen Nachbarländern wird trotz ungleich schwierigerer Verhältnisse viel weniger gejammert als bei uns), Rückzug in vertraute Kleingruppen und in den Privatbereich. Auch die „postmoderne Beliebigkeit" gehört in diesen Zusammenhang. Johann Baptist Metz hat es bissig einmal so formuliert: „Hier stehe ich, ich kann auch anders. Ich bin nie bloß meiner eigenen Meinung. Alles geht, auch das Gegen teil." Derartige Haltungen können Ausdruck des mühsamen Tastens im Ubergang ' Vgl. dazu U. Beck (Hg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt H997. - G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt 1993. - R. Bly: Die kindliche Gesellschaft. Über die Weige rung, erwachsen zu werden. München 1997. - Immer noch sehr beachtenswert: H. Klages: Wertorien tierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognose. Frankfurt ^1985.
sein, nachdem das bisherige Paradigma an Orientierungs- und Formkraft verloren hat, Neues aber noch nicht deutlich wurde. Aber die Empfindung „gleich gültig" macht leicht gleichgültig. Wir brauchen eine angemessene „Unterscheidung der Gei ster", dazu aber die derzeit eher rare Urteilsfähigkeit und Willenskraft. Pluralismus kann Ausdruck kreativer Lebendigkeit sein, es gibt aber auch den Pluralismus der Schwäche, Toleranz kann die kostbare Tugend des Respekts vor anderen und ande rem, aber auch feiges Ausweichen vor notwendiger Auseinandersetzung sein. Die Schere zwischen verringerter Belastbarkeit und erhöhter Belastung erschwert das Verstehen, Gestalten oder wenigstens Aushalten der zunehmenden Kompliziertheit unserer hochentwickelten Gesellschaft. Man bekommt fortwährend von der Werbung suggeriert, für alle Probleme gebe es „Instanf'-Lösungen. Da hört man gerne auf vermeintlich einfache Deutungen und Rezepte bei politischen Populi sten, bei alternativen fieilern, in esoterisch-synkretistischen Religionsangeboten. Uberfordert von der Komplexität, wird Aufmerksamkeit und Engagement meist auf ein einziges Anliegen, ein Thema, einen Faktor fixiert. Gleichzeitig nehmen ange sichts des üblichen Lebensstils Sinnlosigkeitsempfindungen zu, es steigt der Frustra tions- und Angstpegel, teilweise bis zu apokalyptischen Anschärfungen.^ Diese Stimmungslage ist nicht ungefährlich. Wacher, klarer Blick und kultu relle Gestaltungsbereitschaft sind wichhger denn je. Dazu gehört, die aktuellen pro blematischen Tendenzen wahrzunehmen, um ihnen NIGHT zu erliegen. Unser Land, unser Volk ist reich an geistigen und materiellen Ressourcen. Identifizieren wir anstrebenswerte Ziele und zukunftsfähige Werte und setzen wir die Reserven dafür Tiefe Wurzeln - weite Horizonte: Lebenskultur für heute und morgen Personen schaffen Kultur® Viele passen sich konformistisch an die vorherrschenden Tendenzen und Stimmungen an. Aber das ist gerade nicht die fialtung freier Persönlichkeiten. Gegen häufige Illusionen und Ideologien ist klarzustellen: Entgrenzung, Zuwachs an Möglichkeiten ist noch nicht Freiheit. Alles kommt darauf an, daß Personen ihr ' Vgl. dazu z. B. U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986. - U. Horstmann: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Frankfurt 1985. - O. Höffe: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt ^1993. - Ph. Schmitz: Wohin treibt die Politik? Über die Notwendigkeit von Ethik. Freiburg/Br. 1993. " Klassisch zu „Kultur": A. L. Kroeber, C. Kluckhohn: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York 1963. - F. Steinbacher: Kultur. Begriff - Theorie - Funktion. Stuttgart 1976. - M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. München 1961. - A. Weber: Kultur geschichte als Kultursoziologie. München H951. - Aktuell: W. Lipp (Hg.): Industriegesellschaft und Regionalkultur. München 1984. Heimat heute. Mit Beiträgen von H. Bausinger u.a. Red.: H. G. Weh ling. Stuttgart 1984. - 1. Mörth, G. Niel, O. Stoik: Kulturheimat Oberösterreich? Kulturelle Identität im Europa der Regionen. PADL Linz o. ]. (1993). - Vgl. dazu auch die Schriftenreihe des OÖ. Landes instituts für Volksbildung und Heimatpflege/OO. Volksbildungswerk.
humanes Bewußtsein und ihr fachliches Können entwickeln, das Unterscheidungs vermögen zwischen wertvoll, wertlos und schädlich trainieren und entsprechend handeln: privat, beruflich und politisch. Diese drei Ebenen sind zu beachten und jede für sich wäre differenziert zu erörtern. Die Strukturen, Regelungen und Verfah ren in Wirtschaft und Gesellschaft stellen wirksam wichtige Weichen, verteilen Wer tungen, Chancen, Grenzen und Lasten. Zur Kulturaufgabe gehört, diese Strukturen und Regelungen auf reale Vorgaben, Kräfte und Zusammenhänge einerseits und auf humane Zielsetzungen andererseits durchzudenken, Humanität sichernde „Spielre geln" immer wieder bestmöglich zu aktualisieren und durchzusetzen. Diese wichtige strukturell-politische Ebene kann hier nicht weiter ausgeführt werden. (Es besteht großer Gestaltungsbedarf!) Die ordnungspolitischen Aufgaben werden human gut nur kultivierte Persönlichkeiten zu leisten vermögen. Dafür skizziere ich abschlie ßend einige Leitlinien. Wiedergewinnen eines humanen Rhythmus, angemessener Prioritäten und Proportionen Wir sind in unseren Lebensvollzügen bis tief hinein in das Empfinden und Fühlen von den Mustern unserer Leistungs- und Konsumzivilisation bestimmt. Das Wirtschaftliche hat einen dominierenden Stellenwert und es gibt beachtenswerte Gründe dafür: Die Integrations- und Globalisierungs-Herausforderungen erfordern derzeit einen besonderen Einsatz. Aber auch in normalen Zeiten gilt: „Ohne Ökono mie kein Leben!" Zur Entfaltung des physischen und geistigen Lebens brauchen wir viele Voraussetzungen und Mittel, welche von einer leistungsfähigen Wirtschaft her vorgebracht werden. Die im 2. Abschnitt skizzierten Tendenzen zu Kurzsichtigkeit, Einseitigkeit und Rücksichtslosigkeit sind auch ökonomisch gefährlich. Demgegenüber ist an uralte Grundhaltungen bäuerlicher Kultur, nämlich „Nachhaltigkeit" und „Gemein wohl", zu erinnern. Bauern wußten, daß man die „Substanz": Boden, Wasser, Leben, d.h. die Umwelt, nicht verbrauchen und schädigen darf, sondern pflegen muß, damit die gegenwärtige und künftige Generationen die Früchte, den Zuwachs nüt zen können. Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl gilt heute weithin als altmodisch, es zählt nur der kurzfristige Einzelnutzen. Dabei wird übersehen, daß alle auf ein gut entwickeltes Gemeinwesen angewiesen sind und deshalb dafür beizutragen und darauf Rücksicht zu nehmen haben. Für Schäden, Verluste, die durch Rücksichtslo sigkeit und Kurzsichtigkeit angerichtet werden, muß man bezahlen. Das betont auch eine alte kaufmännische Weisheit: „Ein Geschäft ist nur dann ein gutes Geschäft, wenn langfristig beide Seiten zufrieden sind." Darüber hinaus ist sehr zu beachten: „Leben ist mehr als Ökonomie!" Zum Leben gehören die Dimensionen des Kalkulierbaren, Produzierbaren, Kaufbaren und Verkaufbaren ebenso wie die ganz anderen Dimensionen der mitmenschlichen Beziehungen, der Erfahrung von Sinn, der Muße, des Geschenkhaften und Unverrechenbaren, des Kreativen, des Schönen, des Transzendenten. Das muß jeder Mensch für seine persönliche Lebensgestaltung bewußt halten und bei der Aufteilung von
LEBENSEMFALTUNfi - L£BENSGESTALTlJNfi • GLOCKEN DES LEBENS [ K oAtekvsplat iot\ ^r c.] ^ defe \ / "A' U T A |lPv I Bcrc-yc-K des N ofc wc^g)^l ge-K , gwg.cktvM»P>;5g,)\ ik^löKONOniE ETHIK I NakbfrfeicK ^ pcf ii^lickt. L«-btMeenL^l+u«^ Lc Hau5kalte*\ * LcbcMi wi'Hfcl Lebmsraunt j-. Ltbti^scu-ijaHuH^ IPOHTIh] Toliiik,^^,kuHuf foiL Bilf^c't\ (MtuSoKsM KJÄrdlj gtital+e-fc-b C^eii\e-ii\ wtstk\ ]n jKei^r Cirt^SicKt u»\cl/\ll33iicl\1 Zeit, Energie und Aufmerksamkeit entsprechend umsetzen. Wir brauchen den Rhythmus von Aktivität und Kontemplation, von Engagement und Abstand. Nur aus diesem Zur-Ruhe-Kommen, Abstand-Gewinnen, aus Rückblick und Ausblick gewinnen wir Uberblick, Tiefe und Weite, so lernen wir das angemessene Auswäh len und Maßhalten in der Angebotsfülle. Nur so gelingt Kultur, die Gestaltung des Ganzen mit angemessenen Prioritäten und Proportionen. Im Leben von Menschen, die sich das nicht gönnen, denen das nicht zugänglich wird, kommt Entscheidendes zu kurz, ihr Leben bleibt verstümmelt, deformiert, trotz materiellem Wohlstand arm selig, unkultiviert. Es gibt solche Deformationen und Nöte in allen Bevölkerungs schichten in erschreckendem Ausmaß! Die tiefsten Fragen nicht aussparen Ich halte viel von Respekt gegenüber den persönlichsten Fragen und Ent scheidungen, die religiösen gehören dazu, und nichts von Aufdringlichkeit und Ver-
einnahmung. Im Zusammenhang des gestellten Themas ist zumindest folgendes zu bedenken: Mit den modernen wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Errungen schaften konnten viele Probleme gelöst, viel Mangel, Elend und Ohnmacht beseitigt und die Lebensmöglichkeiten wesentlich erweitert werden. Wir leben heute inmitten einer überwältigenden Fülle von Produkten, Dienstleistungen, Informationen, Bil dern, Wünschen, Fragen. Viele werden von dieser Angebotsfülle getrieben, ver schüttet, süchtig, bewußt-los. Zu unserer Supermarkt-Zivilisation gehört durchaus auch Religiöses. In esoterischen, fernöstlichen, indianisch-schamanisch-naturreligiö sen, spiritistisch-okkultistischen Varianten und diversen Mischformen findet es der zeit sogar verstärkte Nachfrage. Offensichtlich haben die Menschen auch heute starke, materiell nicht stillbare Sehnsüchte.' Aber vermögen diese oft recht diffusen und unverbindlichen religiösen NeuAlt-Angebote menschliches Leben gültig zu deuten und zu orientieren? Bei den tief sten Fragen sind unzureichende Antworten/Annahmen besonders fatal, weil sie (vor allem in ganz schwierigen Phasen) nicht wirklich tragen und das Leben insgesamt nicht gut genug oder falsch orientieren. Sorgfältig prüfendes und unterscheidungs bereites Nachdenken brauchen gewiß auch die christlichen Glaubenstraditionen und Kirchen. Wieviel Allzumenschliches, Verfehltes, wieviel Herrschaft, Unrecht und Leid wurde nicht schon unter Bezugnahme auf Gott praktiziert, legitimiert, gefordert, zugelassen! Man sollte aber auch nicht übersehen, wie viele Menschen immer wieder inspiriert und orientiert vom Glauben an den biblischen Gott unter schwierigsten Bedingungen durchhalten und Großes vollbringen. Es gibt eine auffällige Parallelität zwischen dem Schwächerwerden des nüch ternen biblischen Glaubens und dem Schwinden von Solidarität und Hoffnungspo tentialen, einer Zunahme von Egoismen und Ängsten, einem Verdrängen von Gren zen, Schwächen und Leiden, und damit verbunden verstärkte Mitleidlosigkeit und Unbarmherzigkeit, einem Nicht-Zurecht-Kommen mit Schuld und Tod. Oft kommt es zu schädigender, versklavender Verabsolutierung („Vergötzung") von Teilwerten wie Geld, Leistung, Macht, Jugend, Sex usw. Ohne das ehrliche Sich-Offen-Halten, Fragen nach Tiefe, Sinn und Horizont unseres Lebens, ohne zumindest Horchen, Fragen nach Gott, findet man schwer die angemessenen Prioritäten und Proportio nen des Lebens. Es besteht ein uralter Zusammenhang zwischen Kult (Gotteswahr nehmung/Gottesdienst) und Kultur. Freiheit und menschliche Würde zerbröseln unter modernen Bedingungen besonders leicht zu bloßer Nützlichkeit. Unsere Gesellschaft hat weithin Züge von hektischem Getriebe, saturierter Fadesse und Gleichgültigkeit. Ist sie nicht nach wie vor zutiefst erlösungsbedürftig?^° ' Vgl. dazu H.-J. Höhn: Gegen-Mythen. Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart. Freiburg 1994. - H. Renöckl: Zur Faszination neuer religiöser Strömungen. Kat. Blätter München 119 (1994) S. 340350. - P. L. Berger: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt 1994. Vgl. bspw. E. Biser: Glaube nur! Gott verstehen lernen. HTB 800. Freiburg/Br. 1980. - H. Zahrnt: Wie kann Gott das zulassen? Hiob - der Mensch im Leid. München ^1996. - J. Werbick: Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre. München 1992. Oers.: Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen. Düssel dorf 1992.
Große Perspektive - menschliches Tempo und Maß Alles im Umbruch - das macht uns zu schaffen, der große Schwung ging verloren, die Stimmung ist labil. In dieser Lage ist volkskulturelle Arbeit schwieriger geworden, aber nicht weniger wichtig! Es geht da auch um eine Neuorientierung. Erinnern wir uns, etwa bis in die sechziger und frühen siebziger Jahre herrschte ein zuversichtlicher Glaube an grenzenlosen Fortschritt, alles schien erreichbar durch den Einsatz von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Viele Ziele wurden erreicht, erreichte Ziele aber bewegen nicht mehr. Die rasante Steigerung des Einsatzes von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft hat uns bewußtgemacht, daß sie neben wün schenswerten auch genug negative Wirkungen und Risiken mit sich bringen. Der grenzenlose Fortschrittsglaube wurde mittlerweile von Skepsis abgelöst, zum Teil sieht man in den bisherigen Instrumenten erhoffter grenzenloser Befreiung die Aus löser apokalyptischer Zerstörung. Von einem Straßengraben in den anderen zu fah ren, ist aber kein Fortschritt. Vielmehr geht es um eine fällige Relativierung und Wei terentwicklung der typisch neuzeitlichen Einstellungen: von unterscheidungsfähi gen Menschen gesteuert, leisten Wissenschaft, Technik und Wirtschaft wertvollste Dienste. Die Lösung aller Probleme, völlige Befreiung, Unsterblichkeit, läßt sich aber nicht durch menschliche Leistung, auch nicht mit höchstentwickelter Wissenschaft, Technik und Wirtschaft erzwingen. Es gilt, wie oben skizziert, auch den ganz anderen humanen Dimensionen wie Mitmenschlichkeit, Schenken und Empfangen, dem Unverwaltbaren und Unverzweckbaren Raum zu verschaffen und sie entsprechend zu pflegen. Weiters ist wahrzunehmen, daß auch Grenzen, Unverfügbares, Schwäche, Leid, Altern und Sterben wesentlich zu unserem Leben gehören. Verdrängen, Verschleiern, Kompen sieren hilft nicht, sondern schadet. Unsere Ghance und Aufgabe ist vielmehr, diese pathischen Elemente und Dimensionen anzunehmen und in eine wahrhaft humane Lebenskultur zu integrieren. Recht betrachtet, ist das Begrenzte durchaus nicht minderwertig, sondern kostbar. Denken wir zur Veranschaulichung etwa an Wasser; Solange man es unbe grenzt, im Uberfluß hat, schätzt man es nicht besonders, vergeudet es oft gedanken los. Wenn Wasser knapp wird, lernt man es schätzen und pflegt einen sorgfältigen, kultivierten Umgang damit. In der Wüste ist ein Becher Wasser kostbarer als Gold. Analoges gilt für alle Güter des Lebens. Die Wahrnehmung der Begrenztheit kann also Kultivierung geradezu stimulieren. Illusionäre Grenzenlosigkeit verführt zu Leichtfertigkeit, Vergeudung und Zerstörung. Nutzen wir die Ghance, an Grenzen qualitativ zu wachsen und zu reifen! Mit dem Hinweis auf das Begrenzte als menschliches Maß komme ich zum Schluß: Ich habe „das Ganze", die schwierigen Anspannungen unserer aktuellen Lage als Aufgabenstellungen für volkskulturelle Arbeit vor Augen gestellt. Das könnte „Fernzielbeklemmung", Lähmung, verspannte Gesichter bewirken. Ich bin überzeugt, wir brauchen den Blick auf die großen Horizonte und umfassenden Auf gabenstellungen. Ohne sie wären wir irrelevante „Zwergerl" am Rand. Und ohne
Besinnung auf die tiefsten Wurzeln wären wir kraftlos Taumelnde in einem Pluralis mus der Schwäche. Aber große Ziele und Aufgaben brauchen viele kleine Schritte und Idandgriffe, die unermüdlichen kleinen Beiträge vieler. Die volkskulturellen Einrichtungen tragen dazu viele wertvolle Mosaiksteine bei. Um nur einige Beispiele zu nennen; im Großräumigen und Globalen bekommt das eigenständige Regionale als lebendige Substruktur neues Gewicht, das Musi sche und Kreative ist unersetzlich als Gegengewicht zur technischen Gleichförmig keit und Standardisierung, das Ehrenamtliche wird zum wichhgen Kontrast zur totalen Kommerzialisierung, erlebte Gemeinschaft wirkt bergend, belebend und hei lend, Erinnern und Vergegenwärtigung von Tradition und Brauchtum sichert gegen Entwurzelung und banale Verflachung ... Gerade in der modernen fdektik und Unübersichtlichkeit ist es gut, von Zeit zu Zeit innezuhalten, zusammenzukommen, um wieder Uberblick zu gewinnen, sinnvolle Zwischenziele und Zusammenhänge der einzelnen Beiträge zu entdecken. Das ist der gute Sinn und wertvolle Dienst des „Oberösterreichischen Forums Volkskultur".
Eine bemalte Decke aus dem 17. Jahrhundert im Schloß von St. Wolfgang Von Andreas Kopf und Peter Pfarl In den Privaträumen des Besitzers des sogenannten „Schlosses" von St. Wolfgang, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, hat sich eine interes sante Kassettendecke aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts erhalten. Sie stammt aus der Zeit, als das Gebäude als Priorat des Klosters Mondsee diente. Durch das Entgegenkommen des Besit zers konnte man die Decke studieren, ausmessen und fotografieren lassen. Ihm gilt daher der besondere Dank, wert volle Hilfe haben geleistet Herr Peter Hödlmoser, Strobl, und Herr Bürgermei ster Johannes Peinsteiner, St. Wolfgang, von dem die Fotos stammen. Die Geschichte des sogenannten Schlosses von St. Wolfgang Daß Wallfahrer an den Abersee ka men, erfahren wir erstmals aus einer Ur kunde des Jahres 1307; sie erwähnt einen Zustrom von Pilgern „aus den verschie densten Weltgegenden". Die Verehrung des heiligen Wolfgang muß also schon damals tiefe Wurzeln geschlagen haben, zumal aus der Zeit zwischen 1314 und 1318 berichtet wird, daß der Abt von Mondsee ein geräumiges Pilgerhaus aus Stein bauen ließ. Wir werden nicht fehl gehen, wenn wir annehmen, daß es west lich neben der Kirche stand, an der Stelle, wo sich heute das große Gebäude erhebt, das im Volksmund „Schloß" ge nannt wird. Hier hatte Mondsee seinen Besitz, hier befand sich immer ein reli giöses Zentrum, vor allem das Priorat, eine Art Dependance des Benediktiner klosters, dessen Alter ziemlich unbe stimmt ist. Abt Wolfgang Haberl (1499-1521) beschloß, das Gebäude großzügig aus zubauen, möglicherweise, um es zu ei nem richtigen Kloster auszugestalten, doch hinderte ihn der Tod an der Vollen dung. Mondsee war damals schon etwas derangiert, ein Trend, der sich unter den folgenden Äbten fortsetzte, als die Re formation die Klöster leerte. So fehlte die Motivation, das Vorhaben in St. Wolfgang weiterzuführen, zumal auch die Wallfahrt einen starken Niedergang erlebte. 1608 heißt es, das „angefangne gepey des dormitori" habe weder Türen noch Fenster, in dem „vordem abteigebei" sei die Bedachung schlecht. Damals war Johann Christoph Wasner (1592-1615) Abt, der dem Bau seine besondere Sorge widmete. Er ist als des sen Hauptschöpfer zu betrachten, und ihm ist auch die Kassettendecke zu ver danken. Nach den wenigen Darstellun gen des Wallfahrtsortes aus dem 17 Jahr hundert zu schließen, wird es sich um eine etwas unregelmäßige Gebäude gruppe gehandelt haben. Die heutige ge schlossene, einheitliche Form dürfte auf Abt Maurus Oberascher (1683-1697) und den Baumeister Leonhard Endthofer aus Vöcklabruck zurückgehen.
Als Pilgerhaus diente der Bau schon lange nicht mehr, zumindest ist keinerlei Nachricht davon überliefert, er war nur mehr Wohnung von Mönchen und Pfarrhof. Nach der Aufhebung des Klo sters Mondsee 1791 wurde er zwischen dem Pfarrherrn und dem (privaten) In haber der ehemaligen Kloster-„Herrschaft" geteilt, bis 1922 die Pfarre ihren Anteil gegen Errichtung eines neuen Pfarrhofes dem Gutsbesitzer abtrat. Seit her gehört ihm das mittlerweile „Schloß" genannte Gebäude allein, er verwaltet von hier aus seinen Gutsbesitz, der im Volksmund immer noch „Iderrschaft" heißt. Es handelt sich um die Familie Scheidt, die aus Kettwig im Ruhrgebiet stammt, 1917 den Besitz erwarb und seither in St. Wolfgang heimisch gewor den ist. Erwähnt sei, daß in diesem Pfarrhof im vorigen Jahrhundert ein hochmittelal terliches Evangelienbuch aufbewahrt wurde, das die damalige Reiseliteratur als besondere Sehenswürdigkeit von St. Wolfgang erwähnte. Es kam später in die Südtiroler Abtei Marienberg und wurde in der Zwischenkriegszeit von dort in die Vereinigten Staaten verkauft, ohne daß man wußte, wohin. Sein derzeitiger Aufbewahrungsort ist unbekannt. Die Baugestalt des „Schlosses" von St. Wolfgang Es handelt sich um einen Vierkanter, der um einen kleinen Hof herum ange legt ist. Die einzelnen Trakte stammen aus verschiedener Zeit, die Bauge schichte ist noch nicht erforscht, dürfte aber recht kompliziert sein, zumal auch in unserem Jahrhundert noch etliche Umbauten vorgenommen wurden. Der Hof wird weitgehend ausgefüllt von ei nem natürlichen Felsen, der nicht abge graben ist, sondern im westlichen Be reich das ganze untere Geschoß abdeckt. Interessanterweise ist in diesen Felsen, der in dem engen Hof relativ hoch auf ragt, eine Stiege eingemeißelt, die nach unten blind endet. Es scheint, als sei ihr unterer Teil, der geradewegs auf die Ecke der Kirche zuführt, durch den Ostflügel des Gebäudes überbaut. Das Ganze macht einen recht urtümlichen Eindruck. Der Bau selber ist relativ nüchtern, er beherrscht die Hauptstraße von St. Wolf gang. Uber dem straßenseitigen Eingang steht eine Statue des heiligen Wolfgang mit Beil und Stab, der kirchenseitige Ein gang ist mit den Wappen des Klosters Mondsee und der Besitzerfamilie ge schmückt. Im Inneren findet sich im Erd geschoß ein Wappen des Abtes Wolf gang Haberl. Ansonsten gibt es kaum mehr alte Bauzier und Einrichtungsge genstände, außer der Kassettendecke, die uns im folgenden beschäftigen soll. Abt Johann Christoph Wasner von Mondsee (1592-1615) Der Abt, der dieses Kunstwerk in Auftrag gab, war eine hochinteressante Persönlichkeit. Er wurde aus dem Stift Niederaltaich in Bayern nach Mondsee berufen, als die Habsburger sich bemüh ten, geeignete Persönlichkeiten aus dem Ausland für die Leitung der darnieder liegenden österreichischen Klöster zu gewinnen. Wasner war ein typischer Re formabt, der mit Erfolg bestrebt war, das durch die Reformation schwer mitge nommene Kloster Mondsee zu erneu ern. Sein Glaubenseifer verband sich mit Härte und Eigenwilligkeit. Er bekämpfte
das Lutherham, bemühte sich, allerdings nicht immer mit Geschick, um finan zielle Konsolidierung und machte es zu seinem besonderen Anliegen, die Wall fahrt nach St. Wolfgang wieder in Schwung zu bringen. Er belebte die ehe mals bestandene Wolfgangi-Bruderschaft und gab ein Mirakelbuch heraus, in dem zum Ruhm der Pilgerstätte vor allem die hier geschehenen Wunder auf gelistet wurden. Er stiftete ein kostbares, heute in der Schatzkammer aufbewahr tes Reliquiar mit Perlenstickerei, ferner das Gitter des Mittelaltares der Kirche und baute, wie wir gehört haben, das Konventsgebäude aus. Andererseits kam er mit seinem Konvent überhaupt nicht zurecht, es gab sogar Verschwö rungen gegen ihn. Wir können daher schwer beurteilen, wie weit die Ge schichten, welche die Klosterhistoriker über den ungeliebten Vorsteher erzäh len, der Wahrheit entsprechen, etwa dal? er an einem Dominikanermönch beson deren Gefallen fand, ihn zu seinem Mit regenten einsetzte und sogar zu seinem Nachfolger machen wollte. Auch daß er tatsächlich geisteskrank wurde, wie be richtet wird, und dies I6I5 der Grund für seinen Rücktritt war, ist nicht gewiß. Georg Grüll hat seine Resignationsur kunde genau studiert und keine Indizien für geistige Schwäche entdeckt. Wohl versehen mit allen Lebensnotwendigkei ten, zog sich der abgedankte Abt nach St. Wolfgang zurück, wo er, vermutlich in dem von ihm selber hergerichteten Abteigebäude, noch 16 Jahre lebte und 1531 starb. Der Festsaal und die Kassettendecke Das Prunkstück des „Schlosses" ist der im zweiten Obergeschoß gelegene Festsaal mit seiner Kassettendecke. Der Raum wurde in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vom damaligen Besitzer Erhard August Scheidt neu ge staltet, es wurden passende Türrahmen und ein Kamin eingebaut, original ist nur die kunstvolle Decke aus dem 16. Jahrhundert. Trotz aller Veränderungen bietet der Saal ein geschmackvolles Bild, er wirkt besonders durch seine Lage hoch über dem Wolfgangsee. In die Südostwand ist ein Relief mit dem färbigen Wappen des Abtes Wasner (Abb. 1) eingelassen, darunter liest man das folgende elegische Distichon: „Anno Milkno sexcentenoque secundo Huius ah integro tecta locata domus Suh loanis Christophori modemmine fausto Posset posteritas ut meminisse sui". Das bedeutet im Versmaß übertra gen etwa: „Sechzehnhundertundzwei sind die Dächer dieses Gebäudes völlig von Grund auf erneut worden mit Glück und Geschick unter Johannes Christophorus, damit auch die Nachwelt sich in Gutem an ihn einst zu erinnern vermag". Das Wappen ist quadriert und zeigt zweimal zwei entgegengesetzte Felder, die einen zeigen das Wappen von Mondsee, die anderen das Einhorn, das Wappentier des Abtes. Dieses scheint auch in der Helmzier auf, zusammen mit der Intel und dem Abtstab. Uber dem Wappen liest man noch einmal ein elegisches Distichon: „Non ego perturhor ventis agitatus iniquis ut divina luhens fata tulere feci".
„Widrige Winde, sie können mich treiben, doch nimmer verwirren, gern ertrage ich das, was Gottes Wille heschliesst". Der Vers gibt die geistige Haltung des Abtes wider. Wir würden ihn heute als einen Fundamentalisten bezeichnen, der unter Berufung auf die göttliche Vor sehung seine Pläne durchzusetzen sucht. Er nahm in der Wandinschrift wohl Be zug auf die vielfachen Schwierigkeiten, mit denen er sich konfrontiert sah. Der erste Vers nennt die Jahreszahl 1602 und nimmt auf irgendwelche Er neuerungsarbeiten Bezug, die Abt Wasner an Gebäuden durchführte. Geht man von der sehr wahrscheinlichen An nahme aus, daß sich das Relief mit dem Distichon an dem Ort befindet, für den es bestimmt war, dann ist mit „diesem Gebäude" das Friorat von St. Wolfgang gemeint. Allerdings melden die Mondseer Bauakten (wie bereits oben er wähnt), 1608 sei die Bedachung des Ab teigebäudes schlecht gewesen. Man kann den Widerspruch zur Inschrift des Reliefs damit auflösen, daß man „tecta" mit „Decken" übersetzt, dann hätte aber der Abt zuerst die Zimmerdecken und dann erst die Dächer hergerichtet, was etwas ungewöhnlich wäre. Eher ist anzu nehmen, daß das Jahr 1602 den Beginn der Bauarbeiten bedeutet, die sich län gere Zeit hinzogen, sodaß sechs Jahre später das Dach des Hauptgebäudes im mer noch nicht ausgebessert war. Die Zeit der Fertigstellung, und damit der Anbringung der Kassettendecke, läßt sich daher auf die sieben Jahre zwischen 1608 und 1615, dem Zeitpunkt der Resi gnation des Abtes, eingrenzen. Bezieht man das zentrale Wappen auf Kaiser Ru dolf II., dann muß die Decke um 1612 fertig geworden sein, denn in diesem Jahr endete die Regierungszeit dieses Herrschers. Auch das zweite Distichon läßt sich zwanglos in diese Zeit einordnen, als der Abt mit immer größeren Schwierigkei ten innerhalb und außerhalb seines Klo sters konfrontiert war. Er kündigt in die sem Vers an, daß er nicht nachgeben werde und die Schwierigkeiten als Prü fungen Gottes betrachte. Die Bildinhalte der Kassettendecke Im mittleren Feld der 12 mal 9 Meter großen Kassettendecke ist ein Wappen mit Doppeladler und zwei Kronen ange bracht (Abb. 2). Es handelt sich um das Wappen, das der von 1576 bis 1612 re gierende Kaiser Rudolf II. führte. Sein Nachfolger Matthias (1612-1619) hat es unverändert übernommen, sodaß es auf diesen oder jenen Kaiser bezogen wer den kann. Wahrscheinlich ist aber die Zuschreibung an Rudolf II., denn er hatte Johann Christoph Wasner zum Abt von Mondsee gemacht. Seine „glückhaf ten Waffen", auf die in den Notenblät tern unserer Decke Bezug genommen wird, hatten die Türken bekämpft, wäh rend aus der Regierungszeit Kaiser Mat thias keine besonderen Erfolge zu rüh men waren. Welcher Monarch immer gemeint war, die Decke ist jedenfalls als Huldigung auf den Kaiser aufzufassen. Um das kaiserliche Wappen sind die vier Elemente angeordnet, offenbar, um die Universalität seiner Herrschaft anzu deuten, links und rechts singen je zwei Kindergestalten das Lob des Herrschers von den Notenblättern, und auch die vier oben und unten befindlichen Kinder spielen auf ihren Instrumenten wohl zu
Abb. 2: Doppeladler in der Deckenmitte
W/ Abb. 3: Planetenbild Saturn mit Aasgeier Abb. 4: Planetenbild Jupiter mit Pelikan
Ehren des Kaisers auf. Nur in den vier Ecken scheint der Schöpfer des Werkes in seinem Wappentier, dem Einhorn, auf, während der darunter befindliche Basi lisk sowie die Tiere und Pflanzen in den Zwischenfeldern (Schlange mit Öl lampe, Taube, Storch und andere) ent weder reine Dekorationsstücke sind, oder eine uns nicht mehr voll zugängli che symbolische Bedeutung haben. Nicht recht in dieses Schema einer Bluldigung an die Majestät des Kaisers lassen sich die am meisten ins Auge springenden Teile der Decke einordnen, die acht großen Gemälde mit den Tier darstellungen. Während die Planeten gottheiten im oberen Teil der Bilder noch auf den Herrscher bezogen werden können - sie umkreisen mit ihren Ge spannen das im Zentrum befindliche kaiserliche Wappen gelingt dies bei den Hauptdarstellungen nicht. Es sind lehrhafte Szenen aus dem Tierreich mit moralischer Nutzanwendung auf den Menschen. Die meisten von ihnen sind dem Physiologus entnommen, einer Na turlehre, die vermutlich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten im ägyp tischen oder syrischen Raum entstand, aber weit ältere Elemente enthält. Die frühesten deutschen Fassungen stam men aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Das Werk gehörte zu den Standardbü chern des christlichen Mittelalters; teils wurden seine Ausführungen als natur kundliche Tatsachen betrachtet, teils als moralische Exempel. Der Physiologus bringt nämlich zahlreiche Geschichten aus dem Tierreich, die als Analogien zu Ghristus oder als Beispiele für menschli ches Verhalten ausgelegt werden. Bis heute wirken die Physiologus-Fabeln nach, wenn wir etwa vom „Phönix aus der Asche" sprechen. Zwei der Darstel lungen unserer Kassettendecke lassen sich mit dem Physiologus nur mühsam oder gar nicht deuten. Uber den Szenen aus dem Tierreich fahren in ihren typischen Gefährten die Figuren der Planeten am Himmel dahin. Auf einem der acht Bilder fehlt ein sol cher Wagen, da man damals nur sieben Planeten (eigentlich fünf, und dazu noch Sonne und Mond) kannte. Die Darstel lungen sind weitgehend genormt, sie gleichen beispielsweise fast völlig denen im Holzschnittbuch des Hans Sebald Beham von 1530/40. So sitzt Jupiter hier wie dort auf einem von einem Pfauen paar gezogenen Wagen, die Räder zei gen die ihm zugeordneten Zeichen Schütze und Fische. Er hält einen langen, den Blitz symbolisierenden Pfeil in der Hand; vor ihm hockt sein Mundschenk Ganymed, der ihm eine Schale reicht. Alle Götterfahrzeuge sind goldfarben, über ihnen sieht man das astrologische Zeichen des betreffenden Gestirns. Die Tierszenen illustrieren offenbar das Wesen der über ihnen dahinziehen den Planeten, denn die Astrologie schreibt jedem Gestirn einen Charakter zu und einen gewissen Einfluß auf die Menschen. Der Hintergrund ist stets eher sche matisch gehalten, bevorzugt sind Felsen szenerien mit Gewässern, manchmal kommen auch Gebäude vor, zweimal werden weite Landschaften vorgeführt. Das kaiserliche Wappen Der nimbierte, schwarze Doppelad ler ist gekrönt von der österreichischen Kaiserkrone, die Rudolf II. anfertigen ließ. Das Wappenschild ist noch einmal
von einer Krone bedeckt. Es ist vierfach gefeldert: das erste Feld zeigt das Wap pen von (Alt-)Ungarn, das zweite den böhmischen Löwen, das dritte ist jenes der spanischen Länder Kastilien und Leon, das vierte enthält das Burgunder wappen, den Tiroler Adler und den habsburgischen Löwen. In der Mitte des Wappens, allerdings abgedeckt durch die Lusteraufhängung, sieht man den österreichischen Bindenschild. Das Wappenschild ist von der Ordenskette des Goldenen Vlieses umgeben (Abb. 2). Die Bilder mit den Planeten- und Tierdarstellungen Die Bilder werden hier in der Rei henfolge des Uhrzeigersinns beschrie ben, beginnend mit dem in der linken oberen (südwestlichen) Ecke befindli chen Saturn. Saturn und der aasfressende Geier Uber den fhmmel fährt Saturn, ein alter Mann, auf einem Wagen, der von einer Echse und einem geflügelten Dra chen gezogen wird. Auf den Rädern sind die Sternzeichen Steinbock und Wasser mann auszunehmen. Saturn bedeutet Tod und Vernichtung, sein Symbol ist daher die Sense. Der griechischen My thologie gemäß frißt er soeben eines sei ner Kinder, während ein anderes hände ringend auf dem Vorderteil des Wagens dasselbe Schicksal erwartet (Abb. 3). Die Darstellung darunter ist dieje nige des ganzen Zyklus, die mit fiilfe des Fhysiologus am wenigsten gedeutet werden kann. Man sieht einen Geier, der an einem Pferdekadaver nagt. Der Rükken des toten Tieres ist teilweise aufge rissen, die Rippen schauen heraus. Den Hiintergrund bildet eine Landschaft mit einem Gewässer und Felsen, rechts ragt ein Baum auf. Man kann die Szene recht deutlich in Bezug setzen zu dem über das Bild herrschenden Planeten als ein Bild der Natur, die ihre eigenen Geschöpfe ver zehrt, oder generell mit Tod und Ver nichtung. Luna und der Teich mit Fröschen und Storch Luna (Abb. 5) ist ein junges Mäd chen, das lässig in seinem Wagen sitzt und in der Linken die Mondsichel hält. Diese kommt oberhalb als astrologi sches Zeichen noch einmal vor. Der Wa gen, in dessen Rad man den Krebs er blickt, wird von zwei jungen Mädchen in weißem und blauem Kleid gezogen. Der Mond symbolisiert Nacht und Dunkel heit, in der Astrologie überdies Nässe, Trübsinn, Trägheit, Stumpfsinn. Die Szene auf der Erde ist die zweite im Zyklus, die sich aus dem Physiologus heraus nicht befriedigend deuten läßt. Im Vordergrund steht auf einem Bein ein Storch mit einer Schlange im Maul. Da hinter erstreckt sich ein offenbar sumpfi ges Gewässer, aus dem fünf Frösche syn chron ihre Köpfe herausstrecken, ein sechster hockt in der Nähe des Storchs am Ufer. Hinter dem Gewässer sind in lockerer Anordnung drei Holzhäuser zu sehen, vor einem sitzt auf einer Bank ein Mann, der an einem Holzstück herum schneidet. Mit dem Holz will er in einem auf seinen Knien aufliegenden Gefäß Feuer anmachen. Vor dem vordersten Haus wächst ein Baum, sein Stamm ist unten von Holzplanken eingefaßt. Die Wasserfrösche, die auf dem Bild die zentrale Rolle einzunehmen schei nen, kommen in einer Physiologus-Fassung vor, es heißt dort, sie würden die
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