Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1895 die Arbeiter als „vaterlandslose Gesellen" bezeichnete, knüpfte er an dieses Bild von der Heimatlosigkeit an, die dem Kapitalismus schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert zugesprochen worden war. Die Heimatlosigkeit und Internationalität wurde zum Programm der Arbeiterbewe gung: „Unsere Heimat ist die Welt: ubi bene, ibi patria - wo es uns wohlgeht, das heißt, wo wir Menschen sein können, ist unser Vaterland. Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinle gen kann. Ihr nennt uns, scheltend, ,vaterlandslos', und ihr selbst habt uns vater landslos gemacht", schrieb der preußische Arbeiterpolitiker Johann Jacoby im Jahre 1870. Die Heimatlosigkeit entstand einerseits aus der sozialen Deplazierung der Industriearbeiterschaft, aus ihrer Verpflanzung an fremde Orte und aus ihrer oft menschenunwürdigen Unterbringung. Die Heimatlosigkeit war andererseits auch der Ausdruck der Weigerung eines Großteils der Arbeiterschaft, sich mit dem kapi talistischen Staat zu identifizieren, und ihres Bestrebens, ihre Heimat in der Arbeiter bewegung zu sehen, die nicht an einen Ort oder ein Land gebunden ist, sondern sich in überregionaler und internationaler Solidarität zu einer Klasse formiert. Die Proletarier, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, erschienen als ernste Gefährdung der politischen Ordnung der neuen Industriestaaten. Allerdings erwies sich sowohl die internationale wie die klassenkämpferische Sprengkraft der Arbeiterbewegung geringer als erwartet oder befürchtet. Die deutschen Sozialde mokraten gingen unisono mit den Deutschnationalen in den Krieg. Die Vorstellung von der Internationalität der Arbeiterklasse und von der Heimatlosigkeit des Prole tariats war mehr propagandistische Seifenblase als tatsächliche Solidarität. Kosmopoliten und Internationalisten Aus dem Heimatbegriff der älteren Sozialpolitik, der auf Haus und Gemeinde bezogen war, bildete sich ein neues nationales Heimatbild heraus, das eine zunehmende Annäherung der Begriffe Heimat und Vaterland brachte und der Verbindung des politischen Begriffes des Staates mit der Vorstellung einer natürlich entstandenen und gewachsenen Bindung an diesen diente. Die Heimat wurde zum Identifikationsmittel für die neu entstehenden Nationalstaaten. Heimat wurde gleichbedeutend mit Nation. Heimatliebe wurde zur Tugend des Nationalismus. Der Ausdruck „international", der im 18. Jahrhundert das ältere „kosmopoli tisch" abzulösen begann, signalisierte die neue Zeitordnung, das Ende des christli chen Universalismus und den Aufstieg des Nationalismus. „Übernational" und „international" wurden einerseits zum Programm, andererseits zum Schimpfwort: Man sprach von der „schwarzen Internationale" der katholischen Kirche und der Jesuiten, von der „goldenen Internationale" der häufig als „jüdisch" apostrophierten Kapitalistenklasse, von der „blauen Internationale" des Hochadels und natürlich von
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