OÖ. Heimatblätter 1995, 49. Jahrgang, Heft 4

Oberösterreich vor 1938, denn bei Kriegsende war es viel zu riskant, mit solchem Material erwischt zu werden, und so wurde praktisch alles vernichtet. Kein Wunder auch, daß 1945 mit dem Zusammenbruch des NS-Systems auch diese Form der Zeitgeschichte ein abruptes Ende fand. Wer sich damit beschäf tigt oder gar profiliert hatte, war nun zum Schweigen verurteilt; viele andere For scher vermieden es nach dieser Erfahrung, sich an zeitgeschichtlichen Erörterungen die Finger zu verbrennen, und widmeten sich lieber der ferneren, in der Not der Nachkriegszeit besonders verklärt erscheinenden Vergangenheit. In dieser Situation blieb die Zeitgeschichte den relativ wenigen Forschern überlassen, die aus dem Widerstand kamen und nun die zeitgeschichtliche Forschung als Geschichte des Widerstandes gegen die Nazis betrieben, meist auf unzureichender Quellenbasis und oft auch unverkennbar tendenziös. Diese Mängel lieferten breiten Bevölke rungskreisen eine Begründung für die tiefsitzende Abneigung gegen Zeitgeschichte: Es mußte ja der Eindruck entstehen, diese Zeitgeschichte befasse sich vorwiegend mit Phänomenen und Ereignissen, die in Wirklichkeit gar keine oder nur eine sehr periphere Rolle gespielt hatten; sie schildere die jüngste Geschichte nur aus dem Blickwinkel einer kleinen Minderheit, mit einem Wort: sie stelle Geschichte nicht richtig dar. Der tieferliegende Beweggrund für die Ablehnung der Zeitgeschichte war aber zweifellos, daß viele dieser Veröffentlichungen als Anklagen, als Vorwurf, ja als Nestbeschmutzung aufgefaßt wurden und schon deshalb auf offene oder stumme Ablehnung stießen - ein Phänomen, mit dem Zeitgeschichte bis heute kon frontiert ist. Ganz bewußt tendenziös war in der Besatzungszeit die offizielle Zeitge schichtsforschung: Typisch für diese von der Staatsraison geprägte Sichtweise ist das „Rot-weiß-rot-Buch", das 1946 im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet wurde und den heroischen Abwehrkampf der Österreicher gegen den Nationalso zialismus dokumentieren sollte - natürlich im Hinblick auf den Staatsvertrag. Etwas später - ungefähr zu Beginn der sechziger Jahre - begann sich nach ausländischen Vorbildern an den österreichischen Universitäten die Zeitgeschichte als eigene Disziplin zu etablieren, untrennbar verbunden mit dem Namen Ludwig Jedlicka, der zum ersten prominenten Zeitgeschichtler Österreichs wurde. Hauptge genstand der Forschungen war damals die Erste Republik. Dies führte dazu, daß Sozialisten und Kommunisten bzw. diesen nahestehende Forscher an der neuen Geschichtsrichtung wesentlich mehr Interesse hatten, denn sie blieben von jenen Abgrenzungsproblemen verschont, die der „schwarzen Reichshälfte" bei der Ausein andersetzung mit der jüngsten Vergangenheit immer wieder Schwierigkeiten berei teten; Namen wie Seipl, Dollfuß und Starhemberg rufen selbst heute noch zwiespäl tige Reaktionen hervor. Der gewaltige Aufschwung der Zeitgeschichte als universi täre Disziplin in den siebziger Jahren fällt nicht von ungefähr in die Jahre der soziali stischen Alleinregierurig. Diese Jahre und ihre Personalpolitik prägten auch die tief sitzenden Vorbehalte ÖVP-naher Kreise gegen diese „Modewissenschaft" - Vorbe halte, denen man auch heute noch begegnet. Weitgehend unbemerkt von der öffent lichen Meinung erlebte die Zeitgeschichte in diesen Expansionsjahren aber auch ent scheidende inhaltliche Veränderungen. Die Übernahme moderner, meist sozialwis-

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