Nationalismen sind so einflußreich, weil sie so einfach sind. Man braucht praktisch überhaupt kein Programm, weil das Programm der Nationalismus selber ist. Gerade seine Unbestimmtheit und sein Mangel an programmatischem Gehalt verleihen dem Nationalismus innerhalb der eigenen Gemeinschaft potentiell allge meine Unterstützung. Wir erleben die Verwandlung kommunistischer Funktionäre, die noch vor kurzem die „Internahonale" sangen, in stramme Nationalisten, wir erleben die Zie hung neuer Grenzen, nachdem zuvor deren Verschwinden gefeiert worden war, und wir erleben die offene Deklaration der ethnischen Säuberung als politisches Ziel. Die Erben der kleinstaatlichen Bewegungen, die sich gegen die fiabsburgermonarchie, das Osmanische Reich und das Zarenreich richteten, spüren die Pro bleme des Nationalismus neuerlich, und weil die Möglichkeiten der Ausbalancie rung in kleineren Staatsgebilden viel geringer sind, auf wesentlich akzentuierterer Ebene. Fundamentalistische und nationalistische Bewegungen verbinden sich. Die „fundamentalen" Dinge, die vom Fundamentalismus betont werden, stammen stets aus einer früheren, angeblich ursprünglichen und reinen Periode der eigenen, heili gen Geschichte. Sie werden dazu benutzt, Grenzen zu setzen, Menschen der glei chen Art anzuziehen und andere fernzuhalten und ein Terrain zu markieren. Was ist Nationalismus anderes als die Vereinnahmung des kulturellen Erbes eines Volkes zur Rechtfertigung von Macht- und Führungsansprüchen? Die Ähnlichkeiten der fundamentalistischen Tendenzen mit den ethnisch nationalistischen Phänomenen sind nicht zu übersehen, vor allem, wo diese mit einem gruppenspezifischen religiösen Glauben verbunden sind oder solche Verbin dungen wiederherzustellen versuchen, etwa im Konflikt der christlichen Armenier mit den muslimischen Aserbaidschanern, der orthodoxen Serben mit den katholi schen Kroaten und der muslimischen Bevölkerung Bosniens, aber auch in den zahl reichen Konflikten der Dritten Welt. Der Nationalismus eskaliert, obwohl die Nationen inzwischen dasjenige weitgehend verloren haben, was im 19. Jahrhundert eine ihrer prägnantesten Funk tionen war, nämlich die Herstellung eines territorial definierten Wirtschaftsgebietes, einer „nationalen" Ökonomie. Seit dem Zweiten Weltkrieg, ganz besonders aber seit den sechziger Jahren, schrumpft die Bedeutung „nationaler" Wirtschaften aufgrund der großen Veränderungen in der internahonalen Arbeitsteilung, deren Grundbau steine multinationale Unternehmen und internationale Organisationen und Zusam menschlüsse sind. Nationen spielen im Wirtschaftsgeschehen keine zentrale Rolle mehr. Wir träumen vom Europa der Regionen, in welchem jeder seine Heimat behalten darf und finden kann. Das Umgehen mit dem Begriff Heimat muß dafür sorgen, daß dieser Traum in Erfüllung geht und nicht Eigennutz und Nationalismus im Mäntelchen der Heimat eine habgierige und blutige Spur ziehen können.
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