ICHISCHE 49. Jahrgang Heft 4 r
OBEROSTERREICHISCHE 49. Jahrgang Heft 4 Herausgegeben vom Institut für Volkskultur Roman Sandgruber Heimat - Geschichte und Aktualität eines Begriffes 287 Gerhart Marckhgott Zeitgeschichte und Heimatforschung 300 Michael John Fremde Heimat Oberösterreich: Die italienischen Ziegelarbeiter - ein vergessenes Erbe der Monarchie 310 Georg Wacha Linz unter Maximilian I. (2) Humanisten und Künstler in Linz 322 Arnold Blöchl Anton Ritter von Spaun - ein Pionier der Volkskultur und Volksmusik 359 Otto Kampmüller Die Ottensheimer Uberfuhr zu Kriegsende 1945 370 Ludwig Windtner 95 Jahre Amateurfotografie in Oberösterreich 384 Ein „Nachruf" auf die Heimatpflege - Dietmar Assmann 399 Schwanthaler-Krippen - Sieglinde Baumgartner 401 30 Jahre OÖ. Landesausstellungen und was davon bleibt - Erwin Garstenauer 404 Die Baumeister und Stukkateure von Ried im Traunkreis - Friedrich Thoma 405 „Der alte Angriff auf die neue Stadt" - Stefan Lueginger 408 Volkskultur aktuell 410 Buchbesprechungen
Medieninhaber; Land Oberösterreich Herausgeber: Institut für Volkskultur Leiter: W. Hofrat Dr. Dietmar Assmann Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexem plare) und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter der OÖ. Heimatblätter: Dr. Alexander Jalkotzy, Institut für Volkskultur, Spittelwiese 4, 4010 Linz, Tel. 0 73 2/7720-5643 Jahresabonnement (4 Hefte) S 220,- (inkl. 10% MwSt.) Hersteller: Druckerei Rudolf Trauner Ges.m.b.H., Köglstraße 14, 4020 Linz Grafische Gestaltung: Mag. art. Herwig Berger, Hafnerstraße 19, 4020 Linz Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der jeweilige Verfasser verantwortlich Alle Rechte vorbehalten Für unverlangt eingesandte Manuskripte über nimmt die Schriftleitung keine Haftung ISBN 3-85393-075-1 Mitarbeiter: W. Hofrat Dr. Dietmar Assmann Institut für Volkskultur, Spittelwiese 4, 4010 Linz Dr. Sieglinde Baumgartner Stadtamt Ried, Hauptplatz 12, 4910 Ried i. 1. Prof. Arnold Blöchl Ferihumerstraße 54, 4040 Linz Hofrat Mag. Erwin Garstenauer Institut für Kulturförderung, Spittelwiese 4, 4010 Linz Dr. Michael John Johannes-Kepler-Universität, 4040 Linz-Auhof Otto Kampmüller Mühlenweg 10, 4100 Ottensheim Dipl.-Ing. Dr. Stefan Lueginger Rainerstraße 14, 4020 Linz Dr. Gerhart Marckhgott OÖ. Landesarchiv, Anzengruberstraße, 4020 Linz Univ.-Prof. Dr. Roman Sandgruber Johannes-Kepler-Universität, 4040 Linz-Auhof Kons. Friedrich Thoma Kurhausstraße 8, 4540 Bad Hall Dr. Georg Wacha Büchlholzweg 48, 4040 Linz Kons. Ludwig Windtner Landwehrstraße 4, 4020 Linz 00 KULTUR Titelblatt: „Die beiden Nachbarn", Krippenfiguren aus dem Salzkammergut, Ende 18. Jh. In: Otfried Kastner, Die Krippe. Linz: OÖ. Landesverlag, 1964, S. 142, Abb. 73.
Heimat - Geschichte und Aktualität eines Begriffes'' Von Roman Sandgruber Die Wiederentdeckung der Heimat „Von Heimat darf wieder gesprochen werden." So überschrieb die angese hene Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahre 1979 einen Bericht über den 22. Kon greß der „Deutschen Gesellschaft für Volkskunde". Das betraf damals natürlich zuvorderst die Volkskunde und zahlreiche mit ihr verwandte Bereiche der wissen schaftlichen und medialen Öffentlichkeit, vom Heimatschriftsteller bis zum Heimat schützer, die das Wort „Heimat" im Deutschen so suspekt gemacht und in die Nähe der rassischen und imperialistischen Ziele des Nationalsozialismus gebracht hatten. In ein ähnliches Dilemma waren auch die Heimatvertriebenen geraten, so daß ihre berechtigten Anliegen allzu leicht mit dem Ideengut der Ewiggestrigen verwechselt werden konnten. Daß nicht zuletzt die Heimatfilmer, Heimatsänger, Trachtenvereine und Volkstanzgruppen der fünfziger und sechziger Jahre in großer Zahl in den Bereich des Unechten und Kitschig-Kommerziellen gerutscht waren, hat den Begriff Heimat noch zusätzlich suspekt gemacht. Das Wort „Heimat" tauchte daher zwar in den Sonntagsreden und Unterhal tungsangeboten der fünfziger und sechziger Jahre in immer gleichen Phrasen und Assoziationen auf, während gleichzeitig aber die Wissenschafter, Künstler und Poli tiker, insbesondere, wenn sie linken Positionen nahestanden, sich scheuten, dieses Vokabel in den Mund zu nehmen. Seither ist Heimat in vielerlei Form gesellschaftsfähig geworden. Das betrifft nicht nur geschäftstüchtige „Stadelmusikanten", die die Hitlisten der Rundfunk- und Fernsehanstalten stürmen, und junge Volksmusikanten, die alte, gesellschaftskriti sche Positionen und Funktionen der Volksmusik wiederbeleben, das betrifft nicht nur den Run auf Bodenständiges und Deftiges aus der heimischen Küche, der glei chermaßen hochpreisige Gourmetlokale wie lokale Bauernmärkte umfaßt, und reicht auch über den in der Wissenschaft und Kulturpolitik zu beobachtenden Boom der Heimatmuseen und der Geschichten aus dem dörflichen Alltag hinaus. Heimat und Bodenständigkeit sind ganz generell zu einer wieder akzeptierten politi schen Grundstimmung geworden. Ein neuer Regionalismus hat sich etabliert, der in Umweltbelangen und im politischen Alltag Bürgernähe und Mitbestimmung vor Ort einfordert und dabei den Autonomiebewegungen und Regionalinteressen neuen Boden bietet. Vortrag gehalten am 15. September 1995 anläßlich des Symposions „Zeitgeschichtliche Heimatfor schung. Heiße Heimat Oberösterreich" in Unterach am Attersee - veranstaltet vom Institut für Volks kultur und dem OÖ. Landesarchiv - im Rahmen des Festivals der Regionen.
Sind hier Chancen enthalten, über die Verirrungen, die mit dem Mißbrauch des Heimatbegriffs so häufig verbunden waren, hinauszukommen, oder fordert Hei mat neuerlich tragischen Tribut? Werden hier politische Lösungen geboten, die durch die Nähe zu den Betroffenen Kompetenz und rasche Entscheidung, fern von den langen Wegen der Zentralbürokratien, mit sich bringen, oder entsteht ein neuer Kirchturmshorizont, der die gewählten Entscheidungsträger letztlich völlig immobil macht? Wird die multikulturelle Gesellschaft der Regionen Wirklichkeit, oder geht neuerlich das Gespenst des Nationalismus um, blutig und unmittelbar vor unseren Augen auf dem Balkan, etwas verhaltener im ehemaligen Ostblock, unter der Decke auch im Westen und wenig wahrgenommen, aber nicht weniger massiv, in der Drit ten und Vierten Welt? Heimat und Fremde Eine Vielfalt von Bedeutungen liegt in dem Wort „Heimat" versteckt, in das alles eingeflossen zu sein scheint, was die „deutsche Seele" an Sentimentalität und Nostalgie aufzubringen vermag, von Heimweh bis Heimatfilm, von Heimatmelodie bis Heimkehr. Heimat ist aber nicht etwas, was, wie uns oft vorgemacht wird, für den deutschen Sprachraum spezifisch wäre, auch wenn manche Sonderwege der deutschen und österreichischen Geschichte natürlich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Vorstellung vom Wert der Heimat wird überall von Sehnsüchten getra gen, in die weit zurückliegende Kindheitsträume und diffuse Wunschvorstellungen hineinprojiziert werden. Der Rückzug in die Vertrautheit und Uberschaubarkeit des Grätzels, des Dorfes oder der Kleinstadt läßt ein, wenn auch nur vermeintliches Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit entstehen. Die Heimat ist der Gegenpol zur Fremde, der Wirt der Gegenpol zum Gast: Das deutsche Wort „Gast" hat wie das lateinische „hostis" seine sprachgeschichtliche Wurzel in einem indogermanischen Stamm, der im Sanskrit „essen" bedeutet: Der Gast erscheint damit sowohl als der Beköstigte als auch oder noch viel mehr als der „Verspeiste", als der Fremde, der als Feind den Göttern geopfert und, wie jedes blu tige Opfer, von den Opfernden als frommes Mahl verzehrt wurde. Die Grundbedeutung des deutschen Wortes „Gast" war daher der „Fremde" und potentielle Feind, der mit festgefügten Regeln der Ausgrenzung und Gastlich keit für die Gesellschaft ungefährlich gemacht wurde und wird. In dieser Bedeutung des Landesfremden und „Elenden" verwendete etwa Martin Luther das Wort „Gast", wenn er in seiner Bibelübersetzung bei der bekannten Stelle von den sechs Werken der Barmherzigkeit (Matth. 25, 31 ff.) für das heute gebräuchliche „fremd" das alte „gast" einsetzt: „Ich bin hungerig, dürstig, gast, nacket, krank, gefangen gewest, und du hast mir nicht gedienet..." Mit dem „Gast", dem Fremden, ist das Wort „elend" eng verknüpft: „Elend" im ursprünglichen Sinn waren die Fremden, die ja aus einem „anderen Land" kamen
und für die eigene „Gasthäuser", „Elendszechen" und „Hospitäler" errichtet wurden. „Elend" bedeutete somit das Dasein in der Fremde. Elend und Fremdsein sind damit Gegenbegriffe zur Heimat und Geborgenheit. Heimat bedeutete in diesem Sinne vor allem die Seßhaftigkeit, das Haus oder „Heimatl", und mit der Seßhaftigkeit die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, in der man im Regelfall geboren war oder in der man sich das Heimatrecht durch Besitz erworben hatte. Als Gäste galten in den mittelalterlichen Stadtrechten und ländlichen Weistümern all jene, die nicht Haus und Grund hatten. Bürger und Gast sowie Land mann und Gast erschienen jeweils als Gegenpositionen. Gäste waren die Geschäfts kunden und Kaufleute: der Kaufgast, Mühlgast, Backgast, Brunnengast, Fahrgast, Badegast, Kurgast bis hin zum Gast generell, der im privaten wie geschäftlichen Umgang verköstigt, beherbergt und unterhalten wurde. In neuerer Zeit kamen noch andere Begriffskombinationen dazu, die das Wort „Gast" in verschiedener gesell schaftlicher Bedeutung erscheinen lassen, seien es Gastspiele und Gastschauspieler, Gastarbeiter und Gasthörer. Der Wirt war als Hauswirt, Landwirt, Forstwirt, Betriebswirt ursprünglich der seßhafte, beheimatete Mann mit Haus und Hof und der Gast das Gegenteil, der jenige, der in das Haus kam. Gastsein bedeutete also ursprünglich nicht, eine per sönliche Beziehung zueinander anzuknüpfen. In der ursprünglichen Bedeutung überwog das Gefühl des Fremd- und Elendseins noch gegenüber dem Gefühl der „gastlichen", herzlichen Aufnahme und gegenüber den Ritualen der Gastfreund schaft. Heimat ist der Gegenbegriff zur Fremde. Aber die räumliche Erstreckung reicht vom ganzen Land über den Landstrich und den Ort bis hin zum Haus und zur Wohnung. Die längste Zeit war das Wort Heimat ein an den unmittelbaren Besitz von Haus und Grund gebundener Begriff und ein recht nüchterner Terminus der Rechtssprache ohne jeden sentimentalen Glanz. Das Heimatrecht bezog sich auf jenes Gemeinwesen, auf welches zum Sozialfall gewordene Personen, erwerbsunfä hige und mittellose Leute, vazierende Bettler oder alt gewordene Arbeiter abgescho ben werden konnten. Wenn es um Heimat ging, für Handwerksgesellen und Dienst boten, für Vagabunden und Gelegenheitsarbeiter, für entlassene Strafgefangene und Soldaten, für heimatlos gewordene, das heißt nicht erbende Bauernkinder und die neu entstehende Schicht der Industriearbeiter, hatte vor allem die Polizei mitzure den. Die Heimat als Geburts- oder Wohnstätte bezog sich auf jene Herrschaft oder Gemeinde, in der man durch Geburt oder durch langjährigen Aufenthalt Heimat recht erworben hatte und der zumindest theoretisch die Versorgungslast im Risiko fall zufiel. Das historische Heimatrecht war auf eine einzelne Gemeinde bezogen. Es begründete einen Versorgungsanspruch, der von den aus dem Arbeitsprozeß Aus geschiedenen die Rückkehr in die Heimatgemeinde, also den Geburtsort, forderte und die Last der Versorgung der Geburtsgemeinde oder später jener Gemeinde auf bürdete, in der der zu Versorgende eine bestimmte Frist, zehn oder eine andere Zahl von Jahren, vor seiner Erwerbsunfähigkeit gelebt hatte. Die Gemeinden lösten das Versorgungsproblem meist in der Form der Einleger, das heißt, der zum Sozialfall
Gewordene mußte von Haus zu Haus ziehen und konnte der Reihe nach in jedem der Häuser der Gemeinde für ein paar Tage Kost und Quartier beanspruchen. Ein Gefühl von Geborgenheit und „Heimat" konnte da schwerlich entstehen. Bis 1938 kannte das österreichische Recht das von der jeweiligen Geburtsgemeinde ausge stellte Heimatrecht. Nach 1945 wurde es durch eine einheitliche Staatsbürgerschaft und ein alle Staatsbürger erfassendes soziales Netz ersetzt. Mit der Seßhaftigkeit verschmolzen Mensch und Boden, Haus und Hof, Bürgerrecht und Bürgerhaus. Die Heimat entstand aus dem Besitz von Haus und Boden. Die Besitzlosen waren von vornherein heimatlos und fremd. Die Bedrohung für die Besitzenden kam zuvorderst von den Besitzlosen, von den nicht Seßhaften, von den Durch- und Zuwanderern, von den „Zigeunern" und „Juden", von den Unbekannten und Unbehausten, aber auch von den Städtern und Kapitalisten, von den Lohnarbeitern und Proletariern. Heimatlose Gesellen Man braucht nur Peter Roseggers Bauernromane und Heimaterzählungen zu lesen, um genug zu erfahren von dem als bedrohlich empfundenen Einbruch der „städtischen Kapitalisten" in die „ländliche Waldheimat". Das Kapital hat tatsächlich etwas Vaterlandsloses und Grenzüberschreitendes an sich. Es kennt keine Grenzen. Es unterscheidet sich vom Boden eben durch die Mobilität, sowohl durch die Beweglichkeit im Raum wie durch die Möglichkeit der Vermehrung und Akkumula tion über die Zeit hinweg. Schon Adam Smith beschrieb die Kapitalisten als Kosmo politen, die keiner Nation Bürger sind. Dem „Finanzcosmopoliten" sei es gleichgül tig, ob er an diesem oder an einem anderen Orte wohnt, heißt es in dem vielbändi gen Lexikon, das von Johann Georg Krünitz um die Wende vom 18. zum 19. Jahr hundert herausgegeben wurde. Franpois Quesnay, der Begründer der ökonomi schen Denkschule der Physiokraten, sah in den Kapitalisten Leute, „die weder König noch Vaterland kennen". Greift man zum Kommunistischen Manifest, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 herausgaben, so kann man auch dort deutlich diese Vorstellung vom Verlust der Heimat durch den Kapitalismus herauslesen: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhält nisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpfen, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung ..." Man möchte fast meinen, Marx und Engels weinten hier dem Feudalismus eine dicke Träne nach. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte auch Wilhelm Heinrich Riehl, einer der führenden konservativen Publizisten des deutschen Bürgertums und einer der Begründer der Volkskunde, die Vorstellung von der Heimatlosigkeit von den Kapitalisten auf die Proletarier über tragen.
Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1895 die Arbeiter als „vaterlandslose Gesellen" bezeichnete, knüpfte er an dieses Bild von der Heimatlosigkeit an, die dem Kapitalismus schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert zugesprochen worden war. Die Heimatlosigkeit und Internationalität wurde zum Programm der Arbeiterbewe gung: „Unsere Heimat ist die Welt: ubi bene, ibi patria - wo es uns wohlgeht, das heißt, wo wir Menschen sein können, ist unser Vaterland. Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinle gen kann. Ihr nennt uns, scheltend, ,vaterlandslos', und ihr selbst habt uns vater landslos gemacht", schrieb der preußische Arbeiterpolitiker Johann Jacoby im Jahre 1870. Die Heimatlosigkeit entstand einerseits aus der sozialen Deplazierung der Industriearbeiterschaft, aus ihrer Verpflanzung an fremde Orte und aus ihrer oft menschenunwürdigen Unterbringung. Die Heimatlosigkeit war andererseits auch der Ausdruck der Weigerung eines Großteils der Arbeiterschaft, sich mit dem kapi talistischen Staat zu identifizieren, und ihres Bestrebens, ihre Heimat in der Arbeiter bewegung zu sehen, die nicht an einen Ort oder ein Land gebunden ist, sondern sich in überregionaler und internationaler Solidarität zu einer Klasse formiert. Die Proletarier, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, erschienen als ernste Gefährdung der politischen Ordnung der neuen Industriestaaten. Allerdings erwies sich sowohl die internationale wie die klassenkämpferische Sprengkraft der Arbeiterbewegung geringer als erwartet oder befürchtet. Die deutschen Sozialde mokraten gingen unisono mit den Deutschnationalen in den Krieg. Die Vorstellung von der Internationalität der Arbeiterklasse und von der Heimatlosigkeit des Prole tariats war mehr propagandistische Seifenblase als tatsächliche Solidarität. Kosmopoliten und Internationalisten Aus dem Heimatbegriff der älteren Sozialpolitik, der auf Haus und Gemeinde bezogen war, bildete sich ein neues nationales Heimatbild heraus, das eine zunehmende Annäherung der Begriffe Heimat und Vaterland brachte und der Verbindung des politischen Begriffes des Staates mit der Vorstellung einer natürlich entstandenen und gewachsenen Bindung an diesen diente. Die Heimat wurde zum Identifikationsmittel für die neu entstehenden Nationalstaaten. Heimat wurde gleichbedeutend mit Nation. Heimatliebe wurde zur Tugend des Nationalismus. Der Ausdruck „international", der im 18. Jahrhundert das ältere „kosmopoli tisch" abzulösen begann, signalisierte die neue Zeitordnung, das Ende des christli chen Universalismus und den Aufstieg des Nationalismus. „Übernational" und „international" wurden einerseits zum Programm, andererseits zum Schimpfwort: Man sprach von der „schwarzen Internationale" der katholischen Kirche und der Jesuiten, von der „goldenen Internationale" der häufig als „jüdisch" apostrophierten Kapitalistenklasse, von der „blauen Internationale" des Hochadels und natürlich von
der „roten Internationale" der Arbeiterbewegung. Der Adel, die Kirche, das Freimaurertum, die republikanischen Freiheitsbünde und die sozialistische Arbeiterbewe gung können als Prototypen der sich wandelnden Zuordnung des Ausdrucks „inter national" gesehen werden. An sich wurzelt die Vorstellung von der ganzen Welt als Heimat in einem kosmopolitischen Gedankengut, das eine bis in die Antike zurückreichende Tradi tion hat und von Meleager von Gadara im ersten vorchristlichen Jahrhundert plaka tiv formuliert wurde: „Das einzige Vaterland, Fremder, ist die Welt, in der wir leben; ein und dasselbe Chaos hat alle Sterblichen geschaffen." In der berühmten Sentenz des Menander, die wir aus der lateinischen, häufig mißverständlich interpretierten Version des Terenz kennen, wird die Menschheit als Einheit verstanden: „Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd." Der ganzen Welt als wahrer Heimat des Menschen setzte das Christentum die Vorstellung der irdischen Heimatlosigkeit und des Jenseits als der wahren Hei mat entgegen. Des Menschen Leben sei eine Pilgerreise: „Wir sind nur Gast auf Erden ..." „Mein Heimat ist dort droben" heißt es in einem Kirchenlied von Paul Ger hardt aus dem Jahr 1666. Die kosmopolitische Vision der Aufklärung, der zum Weltbürger gewor dene Mensch, ist Idee geblieben. Die Aufklärung hat vielmehr den Nationalstaaten und Nationalismen die Bahn geebnet. Die Industrialisierung hat unsere Welt schein bar kleiner, enger und uniformer gemacht. Aber statt Fortschritte in Richtung einer universellen Heimat zu machen, waren nationale Enge und vielfache Heimatlosig keit die Folge. Tiefe Verzweiflung klingt aus den bekannten Sätzen Ernst Tollers, des ver triebenen und heimatlos gewordenen deutschen und jüdischen Schriftstellers, in denen er an den Kosmopolitismus der alteuropäisch-aufgeklärten Geisteswelt anknüpft: „Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde ..." Sehnsucht nach der Heimat Als Eigenwert ins Bewußtsein gerückt ist die Heimat mit der Aufklärung und dem Umbruch der Industrialisierung. Die Romanhk verklärte die altständische Gesellschaft, deutete sie biedermeierlich um und verbrämte sie ideologisch. Heimat ist im Grunde ein romantisches Idealbild, ein Universum, woraus der moderne Mensch, nach seinem Empfinden, vertrieben worden ist und wohin er zurückkehren will, unter Schmerzen und Opfern, wie Hölderlin es in der ersten Fassung seines Gedichtes „Die Heimat" formulierte: „Wohl möcht auch ich zur Heimat wieder, aber was habe ich, wie Leid, geerntet?" Oder im Hyperion: „Ach! Für des Menschen wilde Brust ist keine Heimat möglich." Die echte Heimat ist eine Illusion, hat keinen Ort, sie existiert nicht. Sie ist das ideelle Bild einer glücklichen Welt, einer überirdi schen Heimat, die mit dem Himmelreich ident wäre.
So wurde der Begriff „ffeimat" allmählich immer mehr zu einem Begriff für schöne, unberührte,höchstens durch die sorgsamePflege des Landmannsveredelte Natur, für verträumte Dörfer in altdeutschem Stil, fern jedenfalls von allen äußeren Zeichen der Industrialisierung. In den Dorferzählungen und Heimatromanen wurde Heimat zu einer heilen Welt, wo die Wälder rauschen und die Bächlein gluckern, bevölkert von schwarzen Wildschützen und reichen Erbbauern, von reschen Dirnen und alternden Dorftrotteln, wo altsässiges Bauerntum zwar auch manchmal gegen stolze Aristokraten, sehr viel häufiger aber gegen heimatlose Proletarier und bourgeoise Kapitalisten zu Felde ziehen muß, wo die Anonymität der Städte und die zer störerisch-störrischeMacht der Fabriken die grünen Täler bedroht, wo die Sogkraft der alle Ordnung durcheinander bringenden Großstädte, der Wasserköpfe der Zivi lisation, biedere und zufriedene Landbewohner in eine unsichere Zukunft lockt. Heimat war dort, wo der Herr noch mehr als der Knecht galt, der Mann noch mehr als die Frau, der Pfarrer noch mehr als der Lehrer, auch wenn dieses Hei matschrifttum nicht selten von einer tüchtigen Portion Antiklerikalismus geprägt war. Geschrieben wurde dies alles ja weniger für den Bauern und aus der Perspek tive der Dörfler, sondern für national motivierte, liberal und antiklerikal eingestellte Bildungsbürger, die in der heraufziehenden Häßlichkeit der Industrielandschaft den Preis, der für den Massenwohlstand zu zahlen sei, erkannnten und mit dem Rück griff auf ländliche Traditionen zu kurieren vermeinten. Heimatschutz Der Musikprofessor Ernst Rudorff prägte mit seinen zwischen 1880 und 1900 veröffentlichten Broschüren den Begriff „Heimatschutz". Rudorff nahm heute wohlbekannte Themen der Umweltkritik vorweg; die rasch voranschreitende Verän derung des vertrauten Landschafts- und Städtebildes, das Verschwinden der Feld raine ebenso wie die disproportionierten Fenster der modernen Bauten, die Hotelpa läste in den schönsten Winkeln des Landes, die Erschließung und Zerstörung von Naturschönheiten durch den Massentourismus, die Auflösung der kleinteiligen Landschaftsformen durch die mechanisierte Landwirtschaft, die rationelle Forstwirt schaft mit ihrer Tendenz zur Monokultur, die den Wald so naturfern machte wie das vom Unkraut gesäuberte Weizenfeld. Rudorff sah gleichermaßen die Natur und das vertraute gesellschaftliche Gefüge in Gefahr. Im Jahre 1904 wurde der Bund Heimatschutz gegründet. In der Heimat schutzbewegung fanden sich alle jene Bestrebungen zusammen, die angesichts der massiven Veränderungen der landschaftlichen Umwelt im Verlauf der Industrialisie rung im Sinne einer konservativen Kritik formuliert worden waren: Denkmalpflege und Pflege der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise, Ortsbilderhal tung, Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen, Rettung der Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Eigentümlichkeiten, Pflege der Volkskunst und Erhaltung von Sitte und Brauchtum. Eine neue Schlichtheit von Baukunst und
Lebensweise wurde gefordert, die in der inneren Harmonie bäuerlicher oder altstän discher Bauformen verwirklicht schien und die man auch in volkstümlichen Prakti ken der Heilkunde, der Ernährung, der Kleidung und Freizeitbetätigung zu finden glaubte. Rudorffs Krihk richtete sich vor allem gegen den beginnenden Tourismus, der das „natürliche", unberührte Land sucht und damit zerstört, mit Bergbahnen, Hotels und Würstelbuden, und gegen den Wunsch, die unberührte Idylle in immer ferneren Winkeln aufzustöbern, der damit in Kauf nehme, den Bazillus der Zerstö rung immer weiter voranzutreiben. Rudorff forderte Schutzgebiete für „unantast bare Heiligtümer der Natur und der Geschichte" und griff die amerikanische Idee der Reservate und Nationalparks auf. Heimatvereine und Heimatmuseen wurden gegründet, Heimatzeitschriften und wissenschaftliche Gesellschaften entstanden, Heimatkunde wurde Schulfach, Heimatpflege wurde zur öffentlichen Aufgabe erklärf und Heimatschutz zur militärischen Angelegenheit gemacht. Heimat - das waren nunmehr Fachwerkhäuser, alte Bräuche, alte Trachten. Die Erhaltung der Heimat wurde eingeengt auf ganz wenige Bereiche und Reservate, während gleichzeitig das übrige Leben einem rücksichtslosen Zerstörungsprozeß anheimfiel. Beschworen wurde eine idealisierte Vergangenheit, deren Ursprünge sich im Mythischen verloren. Kritisiert wurden die fortschreitende Industrialisie rung und die Arbeiterschaft mit ihrem „heimatfremden Internationalismus", ihrer Gleichmacherei und Vaterlandslosigkeit. Die konservative Kulturkritik bekam damit eine merkwürdige Schlagseite. Ausgehend von einem diffusen Unbehagen an der Moderne, wurden die kulturlo sen Massen der städtischen Ballungsgebiete und ihre Massenproduktion zum Hauptpunkt der Kritik. Übersehen wurde, daß auch die Versatzstücke der Heimat von der Stange geliefert wurden: die Heimatlieder und Heimatschlager, die mit immer gleichen Requisiten eine anheimelnde Atmosphäre handwerklicher, nichtin dustrieller Gemütlichkeit erzeugen sollten, die Heimatromane und Heimatfilme, die als Massenprodukte hergestellt wurden, die Trachten, die eine ganze kleine Industrie beschäftigten, die Heimatstilhäuser, die vom architektonischen Fließband rollten. Heimat wurde zum Bestandteil der Kulturindustrie. Für die Zivilisationskritiker war klar: die Emanzipation der Massen, die industrielle Massenproduktion, der Untergang dezentraler Lebensformen, der Ver lust handwerklicher Qualität, all das würde zur allgemeinen Nivellierung, zur Über füllung, zur Verschandelung und letztlich zum Untergang der Zivilisation führen. Als Symbol dafür stand Amerika, das Land des Kapitalismus, der Massendemokra tie, der Massenproduktion, des Massenkonsums und der zu gesichtslosen Massen verschmolzenen Einwandererströme. Der ewige Bauer Ein idyllisches Arkadien wurde an die Wand gemalt, nur selten in so großar tigen Versen wie in Rilkes „Stundenbuch": „Alles wird wieder groß sein und gewal-
tig,/ Die Lande einfach und die Wasser faltig,/ die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;/ und in den Tälern, stark und vielgestaltig,/ ein Volk von Hirten und von Ackerbauern." Meist waren Botschaft und Text Massenware, die die Kalenderge schichten und Feuilletons der Volkszeitungen füllte. Im Rahmen der Debatte um den Weg in die Moderne waren die Positionen klar: Für die Vertreter des Fortschritts war das Leben der Bauern in der traditionellen Agrargesellschaft gezeichnet von mühseliger, langer Arbeit, von feudaler Unter drückung, von Angst und Aberglauben, von Hunger, Krankheit und Sorge. Die Kri tiker der Industrialisierung malten dagegen ein romantisches, idyllisches Bild von einem gesunden, starken und eigensinnigen Bauerngeschlecht, das in Harmonie mit seiner Umgebung, stark, sittenstreng und gläubig, ein ausdrucksvolles und erfülltes Leben führte. Industrialisierungskritik und Heimatsehnsucht wurden deckungsgleich mit der Beschwörung eines intakten, auf der Scholle wurzelnden Bauernstandes, der, geschichtslos und von jeder Veränderung unberührt, als Hort der Beharrung und als Garant dafür erschien, daß Modernisierung und Zivilisation den wesentlichen Kern des Volkes noch nicht ergriffen haben. Das bäuerliche Leben wurde als urtümliche Keimzelle einer stabilen Ordnung beschrieben, mit Generationen von Bauern, die jeweils auf dem gleichen Hof lebten und das gleiche Land bearbeiteten. Die Roman tisierung eines intakten Bauernstandes ging Hand in Hand mit einer scharfen Kritik der großstädtischen Lebensformen. Die in der Mitte vom Boden gelöste Grassode, unter der die Blutsbrüder ihr Blut zusammenrinnen lassen, um magisch eine künstliche Verwandtschaft, eine Blutsgemeinschaft herzustellen, wurde zum Symbol für die Einheit von Blut und Boden. Der Dreiklang von Volk, Natur und Individuum wurde als Wurzel jeder lebendigen Kultur beschworen. Die Metapher „Volk" spielte eine zentrale Rolle in dieser industrialisierungskritischen Argumentationsweise. Natur wurde in diesem Zusammenhang als eine ganz bestimmte Landschaft aufgefaßt, die den eigentümli chen Lebensraum des Volkes bildet, das diese Landschaft als Kulturlandschaft geschaffen hat und dessen „Wesen" mit dieser Landschaft harmonisiert. Die Land schaft wurde zum Raum und das „Volk ohne Raum" zum wirkmächtigen Schlag wort imperialistischer und räuberischer Ziele. Blut und Boden Der Heimatschutz, wie ihn Rudorff und seine Anhänger propagierten, war nicht primär nationalistisch. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden in Deutschland inter nationale Heimatschutzkongresse mit Teilnehmern aus ganz Europa und aus Außer europa abgehalten. Das latent völkische Gedankengut im Heimatschutz kam erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges voll zur Geltung. Heimatschutz umfaßte nun alles, was „von gutem deutschen Geist" geprägt war.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging der „Bund Heimat schutz" im von der NSDAP ins Leben gerufenen Reichsbund „Volkstum und Hei mat" auf. Führende Heimatschützer wurden in den nationalsozialistischen Apparat integriert. Der Gedanke des Natur- und Denkmalschutzes trat immer mehr in den Hintergrund. Dem vom Dritten Reich gehuldigten Gigantismus und Modernismus - im Ausbau der Industrie, im Bau von Autobahnen und Kraftwerken und in der Technisierung der Landwirtschaft - liefen die Konzepte der Heimatschützer diame tral entgegen. So ist es verständlich, daß entgegen dem vordergründigen Eindruck des trachtlerisch-heimatverbundenen Gehabes ein durchaus gespaltenes Verhältnis des Nationalsozialismus zu den Inhalten der Heimatbewegungen bestand: Heimat paßte an sich gar nicht zur diktatorischen Gleichschaltung und Zentralisierung, Hei mat paßte auch nicht zur technologischen Großmannssucht. Die agrarische Utopie wurde immer abstrakter. Heimatschutz wurde einer seits zum Schlagwort gegen die Uniformierung der Lebenswelt, für die Bolschewis mus und Sozialismus als Kürzel gesetzt wurden, andererseits zum Vehikel der Groß reichsambitionen und rassischen Ziele. Die Rassenlehre wurde zur wirkmächtigen Erklärungsfigur der Zivilisationskribk. Ein Zustand reiner Rasse wurde gleichgesetzt mit kultureller Eigenständigkeit und völkischer Bodenständigkeit. Als Heimat wurde nun die Einheit von rassisch geschlossenem „Volk" und ihm eigenen, von ihm gestalteten „Boden" verstanden. Die Rassentheorie lieferte eine biologische Umschreibung und Fundierung des älteren Heimatbegriffs. Im Gegenpol der totalen rassischen Vermischung, des Untergangs der kulturellen Eigenart und der damit in Zusammenhang gesehenen gesellschaftlichen Egalisierung wurde die ältere Zivilisa tionskritik rassistisch umgedeutet. Vermassung wurde als Folge der Rassenver schlechterung gesehen. So diente die Rassentheorie der quasiwissenschaftlichen Untermauerung von Positionen, die längst nichts mehr mit den Vorstellungen von der sittlichen Überlegenheit der traditionellen Lebensweise auf dem Lande zu tun hatten, sondern in die Forderung der ethnischen Säuberung und räumlichen Ausweitung der Hei mat hineinmündeten. Die Heimat wurde „geschützt" vor „Verjudung" und „Entar tung", vor „Asphaltliteratur" und „Negermusik", vor „Überfremdung" und „Verschandelung". Die Mythen vom Blut und Boden und vom „Volk ohne Raum" und die Sagen von den alten Helden und den neuen Großreichen mündeten in Vertriebenentragödien und Flüchtlingsschicksale, in Krieg und Mord, in ökonomische Bedrängnis und letztlich für viele in den Verlust der vertrauten Umgebung. Je näher die Katastrophe des Krieges rückte, umso dringlicher wurde die Heimat mit Durchhalteparolen und Vernaderungsappellen propagandistisch beschworen und mit der ganzen Brutalität der Diktatur erzwungen, mit den am Strick schwankenden Gehenkten mit dem Schild vor der Brust: „Ich war zu feige, für die Heimat zu kämpfen." Die Bilder der mit den diffusen Stereotypen der Heimat und des Nationalismus geschürten Kriege gleichen sich: Bilder der Ausrot tung, Auswüchse des Hasses und des Strebens nach Mobilisierung der letzten Reserven.
Heimatvertriebene Gibt es ein Recht, gar ein unveräußerliches Menschenrecht auf Heimat? Ein Recht der Vertriebenen auf Wiedererlangung ihrer Heimat? Wenn heute von Hei matrecht die Rede ist, dann bezieht sich dies auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und die das Recht jedes Menschen zum Verlassen seines Staates und zur Rückkehr in ihn schützen soll. International ist das Recht auf Heimat nicht eindeutig festgelegt. Das Völker recht untersagt zwar die willkürliche Entziehung der Staatsangehörigkeit und ver bietet die Deportation der Bevölkerung eines besetzten Landes. Allerdings, ein Recht auf ein bestimmtes Territorium, das einem Volk zugeordnet sei, gibt es im Völ kerrecht nicht. Der Beschluß der Siegermächte von 1945, Millionen von Deutschen „auszu siedeln", war zweifellos ein bitteres Unrecht. Dieses Unrecht wurde dadurch nicht kleiner, daß ihm noch schwerwiegendere Übergriffe von deutscher Seite vorange gangen waren oder daß im Potsdamer Abkommen, das die Aussiedlung sanktio nierte, verankert war, daß diese „in geregelter und humaner Form" durchzuführen sei. Abgesehen von den tatsächlichen Umständen der Vertreibung, wo die Vorstel lung einer geregelten Form mit Füßen getreten wurde, wird ein Unrecht auch nicht durch humane Ausführung zum Recht. Es ist ein Unrecht, Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben oder Bedingun gen zu schaffen, die sie zur Flucht zwingen. Zur Rechtsprechung gehört aber auch, daß jedes Unrecht früher oder später verjährt. Heimat existiert konkret oder gar nicht. Heimat wird mit jedem Menschen neu geboren, schreibt Graf Krockow, wie sie auch mit jedem Menschen stirbt. Wahlheimaten hat es immer gegeben. Heimat vertriebene können heimisch werden. Es ist unmöglich und führt zu neuem Unrecht, eine längst verlorene Heimat zurückzufordern. Für die Enkel ist sie auch keine Hei mat mehr. Wenn das Recht auf Heimat heute buchstäblich wieder lebenswichtige Bedeutung gewinnt, so heißt dies, daß dieses Recht unmittelbar und sofort gesichert werden muß. Wer sich mit Heimat und Fremde auseinandersetzt, kommt um das Problem der Gewalt so oder so nicht umhin. Neues Heimatbewußtsein Wir erleben einen Boom der Heimatmuseen und Flohmärkte, der regionalen Dialekte und bodenständigen Küchen, der autonomen Bewegungen und basisna hen Inihativen. Die Bürgernähe als neuer politischer Begriff richtet sich gegen den Zentralismus und die Bevormundung durch moderne Bürokratien, gegen große Einheiten und nivellierende Tendenzen, gegen Anonymität und Vermassung. Die Grünbewegungen, und nicht nur sie, fordern regionale Identitäten und überschau bare Strukturen. In der modernen Umweltdiskussion und ihrer Forderung nach
geschlossenen Kreisläufen und einfachen Systemen, mit dem Ruf nach Aktivität und Selbstverwirklichung wird sowohl der territoriale Imperativ wie der Faktor Ethnizität in einer neuen Weise aufgegriffen. Elaben die „Progressiven von einst" mit der Forderung nach Wiedererwekkung heimatlicher und regionalkultureller Identitäten den Konservativismus inzwi schen rousseauistisch von rechts überholt? Droht die Froschperspektive, der Kirch turmshorizont, das Florianiprinzip? ffeimat ist dort, wo Frovinzialität durch Weite des fiorizonts, Offenheit und Eingehen auf die anderen konterkariert wird. Eine ffeimat, wo Flüchtlinge, Asylan ten und Gastarbeiter wie Dienstboten um 1800 oder noch schlechter behandelt wer den, hört auf, Heimat auch für die Autochthonen zu sein. Heimat kann nur als Syn onym für Menschlichkeit bestehen, die keine Grenzen kennt. Heimatverbundenheit und Weltbürgerlichkeit dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern müssen sich ergänzen und auseinander herauswachsen. Triumph des Nationalismus Konnte man vor einigen Jahren hoffen, die ungeheure Neugestaltung des zentral- und osteuropäischen Raumes würde alle Voraussetzungen für den baldigen Zerfall aller Arten von alten Grenzen zwischen Staaten und Menschen und für die Errichtung einer gemeinsamen europäischen Heimat schaffen, so ist diesem Traum inzwischen grausige Ernüchterung gefolgt. Mit der Hinwendung zur Region erhalten die Autonomiebewegungen in den alten Zentralstaaten Frankreich, Spanien oder Großbritannien, in Belgien oder im Schweizer Jura und die von den kommunistischen Diktaturen lange verdeckten Spannungen in Ost- und Südosteuropa neuen Boden. Die ältesten Nationalstaaten Europas, Spanien, Frankreich und Großbritannien, haben ihre Nationalitätenpro bleme. Die postsozialistischen Staaten des Ostens zerfallen in Nationalitäten kämpfe. Die entkolonialisierten Staaten der Dritten Welt, Indien, Indonesien oder die Staaten Afrikas, künstliche Relikte der Kolonialzeit, sind voller Nationalitätenge gensätze. Und selbst die Schmelztiegel der Neuen Welt, die USA, Kanada, Austra lien, haben vielfältige Nationalitätenprobleme. Kommt eine neue Welle nationaler Konfrontationen auf uns zu, die ab einem gewissen Grad der Aufschaukelung nicht mehr in Grenzen zu halten ist? Hat sich der Nationalismus auf triumphale Weise durchgesetzt? Auf den ersten Blick möchte es so scheinen. Alle Staaten der Welt sind heute offiziell Natio nen. Die „Vereinten Nationen" machen alle Mitgliedsstaaten, auch wenn sie gar keine Nahonalstaaten sind, offiziell zu Nationen. Alle Bewegungen, die nach territo rialer Unabhängigkeit streben, neigen zu der Vorstellung, ihr Ziel sei die Errichtung einer „Nation".Alle Bewegungen,die für regionale, lokale, auch partikulareInteres sen gegen die Zentralmacht und den bürokratischen Staatsapparat kämpfen, hän gen sich nach Möglichkeit ein nationales Kostüm um und pochen auf ethnische und beziehungsweise oder sprachliche Eigenständigkeit.
Nationalismen sind so einflußreich, weil sie so einfach sind. Man braucht praktisch überhaupt kein Programm, weil das Programm der Nationalismus selber ist. Gerade seine Unbestimmtheit und sein Mangel an programmatischem Gehalt verleihen dem Nationalismus innerhalb der eigenen Gemeinschaft potentiell allge meine Unterstützung. Wir erleben die Verwandlung kommunistischer Funktionäre, die noch vor kurzem die „Internahonale" sangen, in stramme Nationalisten, wir erleben die Zie hung neuer Grenzen, nachdem zuvor deren Verschwinden gefeiert worden war, und wir erleben die offene Deklaration der ethnischen Säuberung als politisches Ziel. Die Erben der kleinstaatlichen Bewegungen, die sich gegen die fiabsburgermonarchie, das Osmanische Reich und das Zarenreich richteten, spüren die Pro bleme des Nationalismus neuerlich, und weil die Möglichkeiten der Ausbalancie rung in kleineren Staatsgebilden viel geringer sind, auf wesentlich akzentuierterer Ebene. Fundamentalistische und nationalistische Bewegungen verbinden sich. Die „fundamentalen" Dinge, die vom Fundamentalismus betont werden, stammen stets aus einer früheren, angeblich ursprünglichen und reinen Periode der eigenen, heili gen Geschichte. Sie werden dazu benutzt, Grenzen zu setzen, Menschen der glei chen Art anzuziehen und andere fernzuhalten und ein Terrain zu markieren. Was ist Nationalismus anderes als die Vereinnahmung des kulturellen Erbes eines Volkes zur Rechtfertigung von Macht- und Führungsansprüchen? Die Ähnlichkeiten der fundamentalistischen Tendenzen mit den ethnisch nationalistischen Phänomenen sind nicht zu übersehen, vor allem, wo diese mit einem gruppenspezifischen religiösen Glauben verbunden sind oder solche Verbin dungen wiederherzustellen versuchen, etwa im Konflikt der christlichen Armenier mit den muslimischen Aserbaidschanern, der orthodoxen Serben mit den katholi schen Kroaten und der muslimischen Bevölkerung Bosniens, aber auch in den zahl reichen Konflikten der Dritten Welt. Der Nationalismus eskaliert, obwohl die Nationen inzwischen dasjenige weitgehend verloren haben, was im 19. Jahrhundert eine ihrer prägnantesten Funk tionen war, nämlich die Herstellung eines territorial definierten Wirtschaftsgebietes, einer „nationalen" Ökonomie. Seit dem Zweiten Weltkrieg, ganz besonders aber seit den sechziger Jahren, schrumpft die Bedeutung „nationaler" Wirtschaften aufgrund der großen Veränderungen in der internahonalen Arbeitsteilung, deren Grundbau steine multinationale Unternehmen und internationale Organisationen und Zusam menschlüsse sind. Nationen spielen im Wirtschaftsgeschehen keine zentrale Rolle mehr. Wir träumen vom Europa der Regionen, in welchem jeder seine Heimat behalten darf und finden kann. Das Umgehen mit dem Begriff Heimat muß dafür sorgen, daß dieser Traum in Erfüllung geht und nicht Eigennutz und Nationalismus im Mäntelchen der Heimat eine habgierige und blutige Spur ziehen können.
Zeitgeschichte und Heimatforschung* Gerhart Marckhgott Als das OÖ. Landesarchiv eingeladen wurde, sich an dem Festival der Regionen „Heiße Heimat" zu beteiligen, gab das Motto des Festivals den Inhalt gewissermaßen vor: „Heimat" wird im Landesarchiv traditionell assoziiert mit den Heimatforscherinnen und Heimatforschern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Geschichte ihrer näheren Umgebung oder einzelne Aspekte davon genauer unter die Lupe zu nehmen und die Ergebnisse ihrer Forschungen in der Regel auch durch Veröffentlichung bekannt zu machen - sei es zur Freude oder Erbauung, sei es zum Anstoß oder gar Ärgernis mancher. Die Eigenschaft „heiß" sollte eigentlich einem Archiv in jeder Weise fremd sein, denn heiße Temperaturen gefährden und zerstören das Archivgut, heiße Diskussionen gehören auch nicht hierher - das Archiv ist ja gewissermaßen neutral. Aber das ändert nichts daran, daß es heiße The men, heiße Materialien gibt - und die stammen fast alle aus dem Bereich der Zeitge schichte. Es lag also nahe, einmal die Verknüpfung dieser archivspezifischen Zugänge zu „Heimat" und „heiß" zu versuchen. Eine gewisse Spannung ergibt sich daraus, daß die traditionelle Grundten denz der Heimatforschung eher konservativ im Sinne von bewahrend, konsensori entiert ausgerichtet ist, während die Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftlicher Zweig sich eher progressiv versteht im Sinne der Hinterfragung bestehender Geschichtsbilder und verbreiteter Meinungen und Wertungen. Daß diese Zuord nung nicht nur auf Vorurteilen beruht, sondern auch einen realen Hintergrund hat, soll durch einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung der beiden Disziplinen gezeigt werden. Zeitgeschichte ist aber nicht nur eine Forschungsrichtung, sondern wird auch als Kürzel für die jüngste Geschichte und deren Inhalte verwendet. Die folgen den Überlegungen gehen davon aus, daß Zeitgeschichte ein gleitender Zeitabschnitt ist, und zwar jener, den der Großteil der älteren Generation bewußt erlebt hat. Konnte man vor etwa 20 Jahren den Beginn der Zeitgeschichte noch mit 1918 anset zen, so sind heute etwa die dreißiger Jahre als Untergrenze und in weiteren 20 Jahren die Anfänge der Zweiten Republik als der Anfang der Zeitgeschichte zu bezeichnen. Diese Abgrenzung geht im wesentlichen von der besonderen Aktualität und Quel lenlage der Zeitgeschichte aus, mit denen sich der zweite Teil des Beitrages beschäftigt. Vortrag gehalten am 15. September 1995 anläßlich des Symposions „Zeitgeschichtliche Heimatfor schung. Heiße Heimat Oberösterreich" in Unterach am Attersee.
Ein „schwieriges" Verhältnis Das (auch heute noch) nicht unproblematische Verhältnis zwischen Heimat forschung und Zeitgeschichte läßt sich schon einige Zeit zurückverfolgen. Heimat forschung ist eine traditionsreiche Forschungssparte, die - eng verbunden mit Gesellschaft und Staat - eine erste Hochblüte bereits im vorigen Jahrhundert erlebte und dann in die gesellschaftlichen und politischen Unruhen unseres Jahrhunderts hineingezogen wurde. Der hohe Stellenwert der Heimatforschung in den autoritä ren Regimen ab 1934 brachte eine Scheinblüte, der ein lange anhaltender Nach kriegsschock folgte. Dieser Schock bewirkte, daß sich Heimatforschung - soweit sie überhaupt betrieben wurde - wenig weiterentwickelte: Wenn man ein Heimatbuch, eine Chronik oder vergleichbare Literatur der fünfziger und sechziger Jahre mit sol cher aus den zwanziger und dreißiger Jahren vergleicht, so sind wenig Unterschiede in Methode und Tendenz zu finden. Schon im vorigen Jahrhundertwar es üblich, die jüngste Geschichte entweder in einem Lobpreis des gegenwärtigen Staates und seiner Regierung ausklingen zu lassen oder sie aus den Darstellungen ganz auszu blenden. Daran änderte sich auch nach dem Ende der Monarchie nicht viel: Für die konservative Bevölkerungshälfte war 1918 ein Unglück und gleichzeitig ein Anlaß, sich umso mehr der fernen, vergangenen Größe zuzuwenden; die Sozialdemokra ten wiederum sahen nicht viel Grund, sich mit dem versunkenen Kaiserreich zu beschäftigen. Somit gab es auch in der Ersten Republik wenig Bedarf für Zeitge schichte, während gleichzeitig die Heimatforschung eine neuerliche, ideologisch und politisch geförderte Blütezeit erlebte. Dann kam 1938 - und nach dem Anschluß war auf einmal auch die jüngste Geschichte gefragt, gerade auch auf regionaler, auf örtlicher Ebene. Freilich ging es vorwiegend um Parteigeschichte, um die „Geschichte der Bewegung", und der Wett streit, die frühesten illegalen Zellen, die tapfersten illegalen Kämpfer im eigenen Ort oder Kreis vorzuweisen, trieb erstaunliche Blüten. Bezeichnend ist die kurze Geschichte des - leider vernichteten - NS-Gauarchives Oberdonau: Es hatte nichts mit dem (für die ältere Geschichte zuständigen) Landesarchiv zu tun, sondern sollte völlig unabhängig die Farteigeschichte in Oberösterreich erforschen und dokumen tieren. Die Leitung hatte nicht ein ausgebildeterHistoriker, sondern ein engagierter, ehrenamtlich tätiger Amateur. Es wurden Sammelaufrufe veröffentlicht, Interviews gemacht, alle großen Organisationen wie SA, HJ usw. einbezogen, 1940/41 wurden in fast allen Landkreisen propagandistisch aufgezogene Ausstellungen veranstaltet. Aus heutiger Sicht ist festzustellen, daß - trotz des recht begrenzten, ausschließlich politisch definierten Tätigkeitsgebietes - dieses Gauarchiv in unseren Breiten erst mals zeitgeschichtliche Heimatforschung betrieb, deren Bekanntheitsgrad und Stellenwert in der Öffentlichkeit aufgrund staatlicher Förderung und Propaganda nicht zu unterschätzen war. Daneben beschäftigten sich vielerorts lokale Forscher mit dem Aufspüren der nationalen und illegalen „Vorgeschichte", also ebenfalls mit Zeitge schichte. Diese rege Sammlungstätigkeit ist übrigens auch eine der wesentlichsten Ursachen für die heutige Quellenarmut zur Entwicklung des Nationalsozialismus in
Oberösterreich vor 1938, denn bei Kriegsende war es viel zu riskant, mit solchem Material erwischt zu werden, und so wurde praktisch alles vernichtet. Kein Wunder auch, daß 1945 mit dem Zusammenbruch des NS-Systems auch diese Form der Zeitgeschichte ein abruptes Ende fand. Wer sich damit beschäf tigt oder gar profiliert hatte, war nun zum Schweigen verurteilt; viele andere For scher vermieden es nach dieser Erfahrung, sich an zeitgeschichtlichen Erörterungen die Finger zu verbrennen, und widmeten sich lieber der ferneren, in der Not der Nachkriegszeit besonders verklärt erscheinenden Vergangenheit. In dieser Situation blieb die Zeitgeschichte den relativ wenigen Forschern überlassen, die aus dem Widerstand kamen und nun die zeitgeschichtliche Forschung als Geschichte des Widerstandes gegen die Nazis betrieben, meist auf unzureichender Quellenbasis und oft auch unverkennbar tendenziös. Diese Mängel lieferten breiten Bevölke rungskreisen eine Begründung für die tiefsitzende Abneigung gegen Zeitgeschichte: Es mußte ja der Eindruck entstehen, diese Zeitgeschichte befasse sich vorwiegend mit Phänomenen und Ereignissen, die in Wirklichkeit gar keine oder nur eine sehr periphere Rolle gespielt hatten; sie schildere die jüngste Geschichte nur aus dem Blickwinkel einer kleinen Minderheit, mit einem Wort: sie stelle Geschichte nicht richtig dar. Der tieferliegende Beweggrund für die Ablehnung der Zeitgeschichte war aber zweifellos, daß viele dieser Veröffentlichungen als Anklagen, als Vorwurf, ja als Nestbeschmutzung aufgefaßt wurden und schon deshalb auf offene oder stumme Ablehnung stießen - ein Phänomen, mit dem Zeitgeschichte bis heute kon frontiert ist. Ganz bewußt tendenziös war in der Besatzungszeit die offizielle Zeitge schichtsforschung: Typisch für diese von der Staatsraison geprägte Sichtweise ist das „Rot-weiß-rot-Buch", das 1946 im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet wurde und den heroischen Abwehrkampf der Österreicher gegen den Nationalso zialismus dokumentieren sollte - natürlich im Hinblick auf den Staatsvertrag. Etwas später - ungefähr zu Beginn der sechziger Jahre - begann sich nach ausländischen Vorbildern an den österreichischen Universitäten die Zeitgeschichte als eigene Disziplin zu etablieren, untrennbar verbunden mit dem Namen Ludwig Jedlicka, der zum ersten prominenten Zeitgeschichtler Österreichs wurde. Hauptge genstand der Forschungen war damals die Erste Republik. Dies führte dazu, daß Sozialisten und Kommunisten bzw. diesen nahestehende Forscher an der neuen Geschichtsrichtung wesentlich mehr Interesse hatten, denn sie blieben von jenen Abgrenzungsproblemen verschont, die der „schwarzen Reichshälfte" bei der Ausein andersetzung mit der jüngsten Vergangenheit immer wieder Schwierigkeiten berei teten; Namen wie Seipl, Dollfuß und Starhemberg rufen selbst heute noch zwiespäl tige Reaktionen hervor. Der gewaltige Aufschwung der Zeitgeschichte als universi täre Disziplin in den siebziger Jahren fällt nicht von ungefähr in die Jahre der soziali stischen Alleinregierurig. Diese Jahre und ihre Personalpolitik prägten auch die tief sitzenden Vorbehalte ÖVP-naher Kreise gegen diese „Modewissenschaft" - Vorbe halte, denen man auch heute noch begegnet. Weitgehend unbemerkt von der öffent lichen Meinung erlebte die Zeitgeschichte in diesen Expansionsjahren aber auch ent scheidende inhaltliche Veränderungen. Die Übernahme moderner, meist sozialwis-
senschaftlich geprägter Methoden und Forschungsansätze führte zu einer stärker gesellschaftskritischen Position, in der Parteigrenzen weniger wichtig sind. Damit hat die Zeitgeschichte eine Entwicklung vorweggenommen, die heute in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen spürbar wird. Franz Kössler (ORF) ana lysierte vor kurzem den gesellschaftlichen flintergrund des österreichischen Journa lismus - einer Berufssparte, die mit Zeitgeschichtsforschern einiges gemeinsam hat - mit folgenden Worten; „Das Abklingen der Ideologien hat zu einer kritischen Öffentlichkeit geführt, deren Umrisse uns noch wenig vertraut sind. Parteien, Sozial partner, Kirche - sie alle erfahren diesen Wandel der Öffentlichkeit. Althergebrachte Institutionen und Werte werden in Frage gestellt." Vor diesem Hintergrund ist heute auch Zeitgeschichte zu sehen: Ein kritisches - statt gläubiges - Publikum mißt den Wert einer Darstellung immer weniger daran, ob sie mit dem politischen Weltbild zusammenpaßt, sondern die bessere Argumentation, die größere Plausibilität über zeugt; ganz besonders gilt dies für die Jugend. Es wird zwar immer wieder gesche hen, daß man aufsehenerregende Aussagen von Zeitgeschichtlern zu diskreditieren versucht, indem man ihnen Parteilichkeit im Sinne von Parteigebundenheit unter stellt: Das ist ein Risiko, mit dem Zeitgeschichtsforschung immer verbunden ist. Aber die Zeiten der Vereinnahmung bzw. der Verteufelung der gesamten Zeitge schichte durch die eine oder andere politische Partei sind wohl endgültig vorbei. Auch in der zeitgeschichtlichen Heimatforschung haben in den letzten 20 Jahren Hefgreifende Veränderungen begonnen. Auslöser hiefür war die in den achtziger Jahren besonders von gewerkschaftlicher Seite geförderte Bewegung „Grabe, wo du steht", ein Motto, das eigentlich kaum etwas anderes bezeichnet als Heimatgeschichte, zumal unter „graben" keineswegs archäologische AkHvitäten, sondern das Graben in der Geschichte, in den Erinnerungen zu verstehen ist. Dahin ter steckt die Idee, es sei an der Zeit, der sogenannten „Großen Geschichte", der Geschichte der Herrscher und Staaten, eine Geschichte aus der Sicht der kleinen Leute, der Normalverbraucher, also eine „Geschichte von unten" entgegenzustellen. Die klassische Heimatgeschichtsforschung hatte sich bis dahin kaum mit der großen Bevölkerungsgruppe der überwiegend in Städten konzentrierten Arbeiter beschäfHgt - auch diese haben eine Heimat! Umgekehrt hatte sich auch das Interesse der Arbeiterschaft für die Heimatgeschichte traditionell sehr in Grenzen gehalten. Im Zuge des neuen Geschichtsbewußtseins suchten nun auch solche Leute ihre Geschichte, deren Väter noch auf ihre „Geschichtslosigkeit" stolz gewesen waren und die sich - nicht zuletzt deshalb - in kaum einer Heimat- oder Ortsgeschichte fanden. Wenn auch viele der in den achtziger Jahren entstandenen Geschichtszirkel und -klubs schon längst wieder verschwunden sind, so hat sich doch daraus eine fruchtbare Forschungsrichtung entwickelt, die man wohl als Zweig der Heimatfor schung betrachten kann - natürlich der Zeitgeschichte sehr viel näher stehend als die tradiHonelle Richtung. Schließlich ist in diesem kurzen Abriß noch eine logische Entwicklung in der Heimatforschung zu erwähnen, welche die stärkere Berücksichtigung zeitgeschicht licher Themen geradezu erzwingt, nämlich die jetzt schon große zeitliche Distanz zu
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