OÖ. Heimatblätter 1994, 48. Jahrgang, Heft 2

Erst eine Weile später haben die Dorfburschen diesen neuen Brauch aufge nommen und für ihre speziellen Bedürfnisse abgewandelt. Der Weg von der Stadt aufs Land als kulturelle Einbahnstraße läßt sich auf vielen Gebieten herausarbeiten, im fiausbau sowohl, etwa bei der Verbreitung der Stube, wie auch in der Kleidung, bei der Einführung neuer Speisegewohnheiten (z. B. beim Essen aus separaten Tel lern), bei der Einbürgerung neuer Heiliger, beim Aufkommen neuer Musikinstru mente und, und, und ... In Münster wurde ein eigener Sonderforschungsbereich begründet, um speziell der Diffusion von Kulturgütern aus der Stadt hinaus aufs fla che Land nachzugehen. All dies wäre nicht denkbar gewesen, hätte es nicht eine intensive Begegnung von Menschen aus Stadt und Land gegeben, hätte man nicht Gelegenheit gehabt, neue Erfahrungen zu machen. Fremdes zu beobachten und ken nenzulernen. Die Auseinandersetzung mit dem Neuen blieb unseren Vorfahren genausowenig erspart wie uns selber. Die Fiktion von dem eingeengten Horizont der alten Volkskultur gilt, ich habe das eingangs angedeutet, auch für die sozialen Grenzen. Man dachte an einen weitgehenden Abschluß der Lebensgewohnheiten zwischen den einzelnen gesell schaftlichen Gruppen, so wie sie sich in der Ständehierarchie abbilden. Auch in die ser Hinsicht hat die Volkskunde mittlerweile ältere Anschauungen revidiert. Ich möchte abschließend verdeutlichen, aufgrund welcher Vorgänge eine kulturelle Bewegung über die Standesgrenzen hinweg erfolgen konnte. Das im groben richtige Bild von der Ständehierarchie wird häufig zu wört lich genommen. In Wirklichkeit gab es in Mittelalter und früher Neuzeit vielfach auch sozialen Auf- und Abstieg. Allen Historikern geläufig ist die Entwicklung des sogenannten Ministerialadels zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert. Innerhalb von wenigen Generationen schafften Tausende von Familien den Aufstieg aus dem Stande von Unfreien, Abhängigen, Leibeigenen, Hörigen, quasi Sklaven, zum Stand von Adeligen, die selbstverständlich adelige Lebensformen annahmen. Einen ähnli chen Vorgang können wir in den Städten beobachten. Umgekehrt hat die spätmittelalterliche Agrarkrise gerade wieder manchem Adeligen zu schaffen gemacht. Der Verfall der Getreidepreise hat ihn gezwungen, sich in städtische oder landesherrliche Dienste zu begeben, seine Kinder an Kauf leute, Handwerksmeister oder wohlhabende Bauern zu verheiraten und damit in einem anderen Stand aufzugehen. Die ungeheure Bedeutung, welche Ehrlichkeit und Ehre im Leben der städtischen Handwerker spielten, ließe sich etwa auch erklä ren durch Einflüsse aus dem adeligen Bereich. Für eine kräftige Durchmischung unserer Gesellschaft haben vor allem Kriege und Epidemien geführt. Hier ist nicht nur zu denken an die Vertreibungen im Zusammenhang mit den Religionskriegen (Stichworte; Salzburger Exulanten und französische Hugenotten), sondern an die Erbschaften und neuen Möglichkeiten für politischen, wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Aufstieg, die sich ergaben, wenn eine Pestepidemie, ein langwieriger Krieg, ein verheerender Aus bruch von Flecktyphus usw. ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung hinwegraff ten. Die Vorfälle mögen schrecklich genug gewesen sein, unendliches Leid über die

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