schätzt. Erst durch die Forschungen der jüngsten Zeit wurde deutlich, auf wie vielen Gebieten durch die Erzeugnisse der Druckpresse Informationen und Anregungen auch aufs flache Land gekommen sind. Vor allem Rudolf Schenda, Wolfgang Brück ner und Nils-Arvid Bringeus haben hierfür eine Menge von Beispielen beigesteuert. So bewahrheitete sich die Anschauung vom Analphabehsmus der unteren Volksschichten bis weit ins 19. Jahrhundert keineswegs. Vielmehr gab es so etwas wie eine passive Lesefähigkeit großer Teile der Bevölkerung längst vorher. Auf sie als Kunden hatten es die Abertausende von Flugblättern, Bilderbögen und Gro schenhefte abgesehen. Die männliche Bevölkerung von ganzen Ortschaften hatte sich darauf spezialisiert, diese Massenprodukte im Hausierhandel unter die Leute zu bringen. Man nannte sie Kolporteure. Und in der Kolportageliteratur wurde nicht nur die Kunde von schrecklichen Ereignissen wie Feuersbrünste, Erdbeben, Kriegen, Epidemien, von Mord und Totschlag über alle möglichen Grenzen hinweg verbrei tet, sondern auch der Glaube an recht dubiose Geschichten. So schilderte manches Flugblatt die unheimlichen Machenschaften von Zauberinnen und Hexen, berichtete von Werwölfen - von Männern also, die sich zwanghaft immer wieder in die Gestalt eines Wolfes verwandeln müssen und so Schafe und junge Kälber anfallen und auf fressen. Wieder in anderen war die Rede von Bilmesschneidern, Druden und ande ren Gestalten des Volksglaubens, der auf diese Weise seinerseits wieder reiche Nah rung erhielt. Ich kürze diesen Gedanken ab: Volkserzählung und Volksglaube sind in einem erheblichen Ausmaß durch die Erzeugnisse der Druckpresse überregional ausgerichtet worden. Bisher war die Rede davon, daß beshmmte Neuerungen von außen her über den Horizont von Dörfern und kleinen Märkten hereingedrungen sind durch die überregionale Orientierung von staatlichen Behörden, von kirchlichen Organisatio nen und durch die Geschäftsinteressen von Verlegern, Druckern und Kolporteuren. Doch darf auch umgekehrt keineswegs die Bewegung, welche von den einzelnen Dörfern ausgegangen ist und über die engen Gemarkungsgrenzen hinausdrängte, vernachlässigt oder als zu gering angeschlagen werden. Für den Nachweis kann ich mir die Zeit der Industrialisierung schenken, denn die Unruhe, welche Fabriksgrün dungen und Ballung der Wirtschaftsbetriebe in den Städten mit sich brachten, ist hinlänglich bekannt; sie gilt geradezu als besonderes Kennzeichen unserer moder nen Welt. Schon vor Beginn der Industrialisierung herrschte alles andere als eine selbstgenügsame Beschaulichkeit in der agrarischen und handwerklichen Welt des alten Europa, auch nicht soweit davon die unteren und mittleren Sozialschichten betroffen waren. Ein MoHv, das die Menschen aus ihren Wohnorten hinaustrieb, war ein reli giöses. Seit den Tagen der Urkirche predigten die Geistlichen, daß es vor allem zwei sichere Wege gebe, um das Heil zu erlangen: zum einen, in ein Kloster einzutreten und dort Gott zu ehren durch unablässiges Arbeiten und Beten. Angepriesen wurde aber auch der umgekehrte Weg: Sich gerade nicht zu versperren hinter den Klostermauern, sondern wie Ghristus hinausziehen in die
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