OÖ. Heimatblätter 1994, 48. Jahrgang, Heft 2

Dichtung, den Rechtsvorstellungen, der Volkskunst, den Liedern usw. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts war ein gelehrter Beobachter des Trachtenfestzuges auf dem Münchner Oktoberfest überzeugt, eine Kleiderverwandtschaft sowohl mit indischen Dörfern zu entdecken wie auch mit Funden von Moorleichen aus vor christlicher Zeit. In den verkleideten Faschingsgestalten wollte man die Begleiter von Götterumzügen aus der germanischen Urheimat wiedererkennen; und die Gebrü der Grimm unternahmen es, aus Sagen, Märchen und verschiedenen Bräuchen die Mythologie der Völkerwanderungszeit zusammenzusetzen. Die neuere volkskundliche Forschung hat vieles von dem, was man während des 19. Jahrhunderts für sicher erwiesen angenommen hatte und was während des Dritten Reiches noch einmal als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung dargeboten wurde, über Bord geworfen. In der interessierten Öffentlichkeit ist das freilich noch keineswegs allgemein aufgenommen worden. Es ist zu verlockend, auf die alten Flandbücher und Lexika zurückzugreifen, etwa auf das „Handwörterbuch des deut schen Aberglaubens" von 1928 ff., welche den einstigen Forschungsstand leicht ver ständlich und im Brustton der Uberzeugung darbieten. Da tut sich die jetzige Gene ration von Volkskundlern mit ihrem Insistieren auf Quellenbelegen und ihrer teil weisen abstrakten Begrifflichkeit schon erheblich schwerer. So aber wird in Zei tungsberichten über das Aufstellen von Maibäumen noch immer ziemlich regelmä ßig der germanische Baumkult bemüht, und bei den Perchtenläufen der Alpenländ ler vergißt man auch kaum einmal, auf die Begleiter des Gottes Wotan hinzuweisen. Zu tief sitzt noch das Vorurteil, daß in der Volkskultur der vorindustriellen Welt die räumlichen und gesellschaftlichen Grenzen so eng gezogen gewesen seien, daß eine wirkliche Bewegung hin zu neuen Formen kaum stattgefunden habe. Ich komme jetzt zu meinem zweiten Abschnitt. Ubersehen wird und wurde dabei, daß schon lange vor dem Eisenbahnzeitalter die Grenzen von Landschaften und politischen Territorien durchlässig gewesen sind und daß es vielerlei Kanäle gegeben hat, auf denen Kenntnisse von anderen Menschen und deren Lebensfor men zu den Bauern, Landhandwerkern, Tagelöhnern und Kleinhäuslern gekommen sind, von den Leuten in der Stadt ganz zu schweigen. So haben schon die politischen Obrigkeiten dafür gesorgt, daß sich die Untertanen nicht allzu selbstgenügsam in ihren Traditionen eingenistet haben. Zwar ist die politische Landschaft einst im Ver gleich zu heute sehr viel kleinkarierter gewesen, doch die Fürsten, Grafen, Barone, Freiherren und Hofmarksinhaber waren europaweit verwandt und verschwägert und so bestens darüber informiert, was in einem anderen Territorium vor sich ging. Wie sollte es etwa möglich sein, daß sich in einem jeden Dorf ein eigener Kleidungsstil herausbildete und über Generationen hinweg bewahrt wurde - wovon man um die Mitte des 19. Jahrhunderts fest überzeugt war -, wenn es doch seit dem 13. Jahrhundert staatliche Kleidungsordnungen gab, die immer wieder erneuert wurden, die man in den einzelnen Territorien gegenseitig übernahm und durch die Beamten überwachen ließ? So wurde es den Dienstmädchen und anderen subalter nen Geistern überall ausgetrieben, sich schöne Rosenkränze aus Korallen, Elfenbein, gefärbten Knochenperlen oder Silberfiligran um den Hals zu hängen oder an die Kleidung zu heften, als diese Mode im 16. Jahrhundert aufgekommen ist. Nur den

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