OÖ. Heimatblätter 1990, 44. Jahrgang, Heft 3

Europa - Einheit in der Vielfalt* Von Adolf Leidlmair Europa hat Konjunktur und ist in aller Munde. Es ist zu einem Alltagsthema geworden, und zwar nicht erst seitdem es die Ereignisse der letzten Monate erneut in den Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt haben. Unentwegt ist von der Europäi schen Gemeinschaft die Rede, die sich derzeit zwar auf einen wirtschaftlichen Zusammenschluß von zwölf Staaten beschränkt, aber auf dem Weg ist, räumlich und inhaltlich einen immer größer werdenden Umfang anzunehmen. 23 Länder haben sich im Europarat zusammengefunden, um die Grundsätze und Ideale des europäi schen Erbes zu pflegen und zu fördern. Der Satz vom europäischen Haus ist zum gän gigen Schlagwort geworden, dort erfunden, wo es noch vor kurzem bei seinen Adres saten mehr Sorgen als Applaus ausgelöst hätte. Insgesamt somit Anstöße genug, darüber nachzudenken, auf welchem Hintergrund dieses als Wunsch, Forderung oder Selbstverständlichkeit in Erscheinung tretende Europagefühl entstanden ist. Erfüllt es uns darum, weil es das betrifft, was wir doch als unsere größere Heimat emp finden, wofür wir ein Bekenntnis ablegen wollen? Handelt es sich vielleicht nur um eine Reaktion darauf, daß unser Erdteil in kurzer Zeit so viel an Bedeutung und Ein fluß verloren hat? Also um eine Endzeitstimmung, die uns ergriffen hat und sich in der Regel dann einstellt, wenn die Anzeichen eines endgültigen Verlustes unüberseh bar werden. Die Enteuropäisierung der Welt In der Tat, seit Beginn dieses Jahrhunderts und besonders seit Ende des Zwei ten Weltkrieges hat die Enteuropäisierung der Erde mit Riesenschritten Fortschritte gemacht. Fast 70 Prozent der gesamten Landoberfläche waren um 1914 Europa Unter tan, heute sind es kaum 17. Um 1960 sind die letzten Bastionen des europäischen Kolonialismus bis auf wenige Stützpunkte und kleine Inseln verschwunden. Das Commonwealth of Nations hat den Zusatz „British" gestrichen, und nur mehr Australien und Neuseeland führen den Union Jack in ihrer Flagge. Aber nicht bloß politisch, sondern auch demographisch haben sich die Gewichte zu unserem Nach teil verlagert. Rund ein Viertel der Erdbevölkerung entfielen um die Jahrhundert wende auf Europa, derzeit sind es, obwohl sich seine Einwohnerzahl seit damals mehr als verdoppelt hat, lediglich 13 Prozent. Sicher entspricht es aber nicht dem mir zugedachten Auftrag, bloß die Schat tenseiten mit kräftigen Strichen nachzuzeichnen, die sich hinter der gegenwärtigen Europaeuphorie verbergen. Gelegentlich sollte man aber doch daran denken, da sie für uns eine Mahnung sind, den Zeitdruck nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, der auf uns lastet, um von einem Europa der Vaterländer, von dem de Gaulle noch * Vortrag bei der 44. Jahrestagung des Oö. VolksbildungsWerkes zum Thema „Europa".

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