OÖ. Heimatblätter 1990, 44. Jahrgang, Heft 3

lung. Dies ist nicht abwertend gegenüber anderen zu verstehen, denn abermals müs sen wir zugeben, daß wir auch dabei nicht die am weitesten zurückreichende Priorität in Anspruch nehmen können. Die Hochkuituren, die Ägypten, das mesopotamische Zweistromland, Indien und China hervorgebracht hatten, sind älter. Jedoch nur Europa war es gelungen, sich mit seiner geistigen und materiellen Kultur weltweit Geltung zu verschaffen, wenn auch nicht immer als Glücks- und Segensbringer. Die Europäisierung der Erde ist daher trotz aller Verluste der letzten Zeit, von denen wir ausgegangen sind, immer noch ein beachtenswertes Faktum. Im Zusammenhang damit ist es wohl angebracht, bei allen heute üblich gewordenen Selbstanklagen das Positive des so oft beschworenen Genius Europas nicht zu übersehen: die ihm gelungene Verbindung jener Werte, welche uns die Philosophie der Griechen, der Geist des Humanismus, die Rationalität der Aufklärung und das Gebot der christlichen Nächstenliebe gelehrt haben. So läßt sich als Zwischenbilanz der bisherigen unter dem Gebot der Kürze nur skizzenhaften Überlegungen festhalten: Als Naturerdkil mag Europa umstritten sein. Das Prädikat eines Kulturerdteils, das sich aus einem Komplex von regional unterschied lich ausgebildeten Eigenschaften ergibt, ist ihm nicht abzusprechen, denn es erfüllt die dafür zu fordernden Voraussetzungen. Dazu gehören als wesensbestimmend: der individuelle, d.h. einheitliche und einmalige, in der Antike und im Christentum begründete Ursprung seiner Kultur und die eigenständige geistige und gesellschaft liche Ordnung, die in der Gestaltung des Siedlungs- und Wirtschaftsraumes ihren Niederschlag fand.' Wenn die regional verschiedene Ausprägung eben angesprochen wurde, so ist darunter die Mannigfaltigkeit zu verstehen, die zu Recht als eine Besonderheit Europas und als Begleiterscheinung seiner beträchtlichen inneren Gliederung gilt. Seine Geschichte, die oft genug mehr von einem feindlichen Gegeneinander als einem friedlichen Nebeneinander erfüllt war, ist ihr Abbild. Ähnliches betrifft die Menschen, die sich unter seinem Dach nun die Hände reichen sollen und dabei trotz der sie verbindenden Wurzeln ihrer Kultur manches Trennende, nicht bloß der Sprache, zu überwinden haben. Mögen die Unterschiede - um nur Beispiele zu nen nen - zwischen dem nüchternen und unsentimental denkenden Engländer, dem mehr der Emotion folgenden Franzosen, dem über die Sache und das Prinzip grübelnden Deutschen oder dem in natürlicher Unbefangenheit lebenden Italiener zwar nicht so gravierend sein, wie sie der selbst der Europaidee verpflichtete baltische Kulturphilosoph Keyserling etwas überzeichnet hat, so steht doch außer Zweifel, daß das allen gehörende Haus der Zukunft im Temperament und Gharakter recht unter schiedliche Mieter bewohnen werden. Bei einer Suche nach der Identität Europas gilt es daher, neben dem Gemeinsamen das in seinen Teilen jeweils andere, welches nicht nur die Bevölkerung betrifft, im Äuge zu behalten und sich zumindest in einigen Bei spielen daran zu erinnern. Vgl. dazu Kolb 1962.

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