OBEROSTERREICHISCHE 44. Jahrgang Heft 3 ithtjffJ f Pf\iknii Cilhnn/lt ern>4 rrji3i ^:»rrya4 Kliyriib " Srwr«; fCraJtl ^JDcr >|)ir^ I e,' 'jS /"«i.w Ln Kjnfi n/fa^a* h 3t rfa 4LÄ® l^lktym' ä,\\ t- 'i^'l V WHr C i ^dhw ¥ <m-T , tOh-rrinjs i^:ifllriu» '-M iA lUil
OBEROSTERREICHISCHE 44. Jahrgang 1990 Heft 3 Herausgegeben vom LandesinsHhit für Volksbildung und Heimatpflege in Oberösterreich Adolf Leidlmair Europa - Einheit in der Vielfalt Siegfried Haider Die Hauptstadtfrage im Lande ob der Enns Friedrich Berger Linz-Prag Ein Schienenweg im Spiegel der Zeit Alfred E. Katzenberger Heimische Schmetterlinge gestern und heute Fritz Fellner „Das Müllerleben hat Gott gegeben" Mühlen an der Maltsch Hinterglassymposion in Sandl (Hermine Aigner) Fund einer römischen Münze in Sierning (Max Danner) Der Dudelsack in der österreichischen Volksmusik (Rudolf Lughofer) Ein Finanzskandal vor 310 Jahren (Herbert Bezdek) Buchbesprechungen
Medieninhaber: Land Oberösterreich Herausgeber: Landesinstitut für Volksbildung und Heimatpflege in Oberösterreich. Leiter: W. Hofrat Dr. phil. Dietmar Assmann Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexem plare) und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter der Oö. Heimatblätter: Dr. Alexander Jalkotzy, Landesinstitut für Volks bildung und Heimatpflege in Oö., 4020 Linz, Landstraße 31 (Landeskulturzentrum Ursulinenhof), Tel. 0 73 2 / 27 05 17-23 Jahresabonnement (4 Hefte) S 190,- (inkl. 10% MwSt.) Hersteller: Druckerei Rudolf Trauner Ges.m.b.H., 4020 Linz, Köglstraße 14 Grafische Gestaltung: Mag.art. Herwig Berger Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der jeweilige Verfasser verantwortlich Alle Rechte vorbehalten Für unverlangt eingesandte Manuskripte über nimmt die Schriftleitung keine Haftung ISBN 3-85393-053-0 Mitarbeiter: Mag. Hermine Aigner, Lehärstraße 25,4050 Traun Dr. Friedrich Berger, Kuefsteinerstraße 26, 4020 Linz W. Hofrat Ing. Mag. Herbert Bezdek, Kons., Nißlstraße 28/9, 4040 Linz Max Danner, Lagerhausstraße 6, 4522 Sierning Fritz Fellner, Pfarrgasse 16, 4240 Freistadt W. Hofrat Univ.-Prof. Dr. Siegfried Haider, Anzengruberstraße 19, 4020 Linz Kons. Alfred E. Katzenberger, Gartenstadt straße 13, 4048 Puchenau em. Univ.-Prof. Dr. Adolf Leidlmair, Geographi sches Institut der Universität Innsbruck Rudolf Lughofer, Burgfried 7,4550 Kremsmünster Titelbild: Austriae Chorographia von Wolfgang Lazius, 1563 (Ausschnitt)
Europa - Einheit in der Vielfalt* Von Adolf Leidlmair Europa hat Konjunktur und ist in aller Munde. Es ist zu einem Alltagsthema geworden, und zwar nicht erst seitdem es die Ereignisse der letzten Monate erneut in den Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt haben. Unentwegt ist von der Europäi schen Gemeinschaft die Rede, die sich derzeit zwar auf einen wirtschaftlichen Zusammenschluß von zwölf Staaten beschränkt, aber auf dem Weg ist, räumlich und inhaltlich einen immer größer werdenden Umfang anzunehmen. 23 Länder haben sich im Europarat zusammengefunden, um die Grundsätze und Ideale des europäi schen Erbes zu pflegen und zu fördern. Der Satz vom europäischen Haus ist zum gän gigen Schlagwort geworden, dort erfunden, wo es noch vor kurzem bei seinen Adres saten mehr Sorgen als Applaus ausgelöst hätte. Insgesamt somit Anstöße genug, darüber nachzudenken, auf welchem Hintergrund dieses als Wunsch, Forderung oder Selbstverständlichkeit in Erscheinung tretende Europagefühl entstanden ist. Erfüllt es uns darum, weil es das betrifft, was wir doch als unsere größere Heimat emp finden, wofür wir ein Bekenntnis ablegen wollen? Handelt es sich vielleicht nur um eine Reaktion darauf, daß unser Erdteil in kurzer Zeit so viel an Bedeutung und Ein fluß verloren hat? Also um eine Endzeitstimmung, die uns ergriffen hat und sich in der Regel dann einstellt, wenn die Anzeichen eines endgültigen Verlustes unüberseh bar werden. Die Enteuropäisierung der Welt In der Tat, seit Beginn dieses Jahrhunderts und besonders seit Ende des Zwei ten Weltkrieges hat die Enteuropäisierung der Erde mit Riesenschritten Fortschritte gemacht. Fast 70 Prozent der gesamten Landoberfläche waren um 1914 Europa Unter tan, heute sind es kaum 17. Um 1960 sind die letzten Bastionen des europäischen Kolonialismus bis auf wenige Stützpunkte und kleine Inseln verschwunden. Das Commonwealth of Nations hat den Zusatz „British" gestrichen, und nur mehr Australien und Neuseeland führen den Union Jack in ihrer Flagge. Aber nicht bloß politisch, sondern auch demographisch haben sich die Gewichte zu unserem Nach teil verlagert. Rund ein Viertel der Erdbevölkerung entfielen um die Jahrhundert wende auf Europa, derzeit sind es, obwohl sich seine Einwohnerzahl seit damals mehr als verdoppelt hat, lediglich 13 Prozent. Sicher entspricht es aber nicht dem mir zugedachten Auftrag, bloß die Schat tenseiten mit kräftigen Strichen nachzuzeichnen, die sich hinter der gegenwärtigen Europaeuphorie verbergen. Gelegentlich sollte man aber doch daran denken, da sie für uns eine Mahnung sind, den Zeitdruck nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, der auf uns lastet, um von einem Europa der Vaterländer, von dem de Gaulle noch * Vortrag bei der 44. Jahrestagung des Oö. VolksbildungsWerkes zum Thema „Europa".
träumte, zu einem solchen der Bürger zu kommen, wie es einer seiner Nachfolger, Miiierrand, vor kurzem formulierte. Dabei dachte der wortgewandte französische Staatspräsident sicher nicht allein an eine formale Gleichstellung, sondern an den Abbruch aller jener trennenden Wände im gemeinsamen Bau, die den Blick auf das Ganze verstellen, das es zu bewahren gilt im verantwortungsbewußten Ausgleich zwischen dem zügellosen Fortschritt des Westens und der lähmenden Tradition des Ostens. Europa - ein Kontinent? Soll es nicht bei leeren Bekenntnissen und Appellen an zutiefst in uns schlum mernde Gefühle bleiben, dann ist es wohl nötig zu wissen, was dieses Europa aus macht, von dem wir träumen und das uns als Leitbild dienen soll. Mit anderen Wor ten, worin ist sein eigentliches Wesen zu suchen, warum ist es so? Vor rund 40 Jahren, als die Wunden noch offen waren, die sich die Völker Europas in einer sinnlosen Selbstzerfleischung beigebracht hatten, ist ein Buch erschienen, das diese Frage im Titel trug,^ und EJistoriker, Soziologen, Philosophen, Literaturwissenschaftler sowie andere Gelehrte und Schriftsteller der verschiedensten Provenienz haben sich red lich um eine Antwort bemüht. Die meisten sind weitläufig und vage ausgefallen, was erhellt, wie schwer es ist, eine befriedigende dafür zu finden. Dies gilt in gleicher Weise auch für die folgenden Ausführungen, die somit keine perfekte Lösung anbieten können, sondern nur als Vorschlag und als Versuch zu werten sind. Ereb, Sonnenuntergang, lautet die aus dem Assyrischen kommende Sprach wurzel von Europa. Es ist somit eine astronomische Bezeichnung, eine Himmelsrich tung, der es seinen Namen verdankt. Die Geographie ist folglich dabei Pate gestan den. Sie ist demnach zuständig, zu seiner Klärung, Abgrenzung und inhaltlichen Bestimmung beizutragen. Die Schwierigkeiten beginnen schon im Grundsätzlichen. In breiter Front setzt Europa die im Norden so geschlossene Festlandsmasse Asiens fort. Es lag daher nahe, ihm den Rang eines selbständigen Kontinents abzusprechen und lediglich den einer Halbinsel Asiens zuzubilligen, wie es schon Alexander von Humboldt getan hatte. Kontinent heißt Zusammenhang, der nicht durch die Weite des Ozeans oder zumin dest itefeingreifende Nebenmeere unterbrochen wird. Beides trifft in den Beziehun gen zwischen Europa und Asien nicht und in denen zu Afrika nur sehr beschränkt zu. Ein eigener Kontinent ist es demnach nicht. So bleibt die Frage, die nun zu prüfen ist, ob es zu Recht den Namen eines Erd teils trägt. Damit verbindet sich nicht die schon im Wort enthaltene Vorstellung einer durch den Verlauf der Küsten vorgezeichneten Trennung. Vielmehr wird die Erde als menschlicher Lebensraum angesprochen, dessen jeweils besondere Eigenarten kei neswegs auf die natürliche Umwelt beschränkt sind. Aber auch bei dieser begrifflichen Einschränkung bleibt das Problem der Grenze, vor allem im Osten gegenüber Asien, was schon aus ihrer im Laufe der Kossmann, 1950.
Geschichte schwankenden Linienführung hervorgeht. Für die Griechen, vor allem Eratosthenes, lag sie am Don und an seiner Mündung in das Asowsche Meer. Erst im 18. Jahrhundert, als Rußland zusehends in das Blickfeld des Westens rückte, wurde sie auf den Ural verlegt. Im 19. Jahrhundert von etlichen Geographen, darunter Carl Ritter, der zusammen mit Alexander von flumboldt als Begründer der wissenschaft lichen Geographie gilt, sogar noch weiter östlich, was der Verwaltungsgliederung schon des Zarenreiches entsprach, nämlich in das Tiefland des Ob, Irtysch und Tobol sowie seine Fortsetzung zum Kaspischen Meer. Inzwischen hat es sich einge bürgert, Europa wiederum am Ural enden zu lassen und südlich davon an einer Linie, die dem gleichnamigen Fluß zum Kaspischen Meer folgt. Dabei ist es Ansichtssache, im weiteren Verlauf die Manytschniederung, eine einstige Meeresverbindung, die zum unteren Don zieht, oder den Idauptkamm des Kaukasus zu benutzen. Es handelt sich freilich hierbei nur um eine konventionelle Grenzziehung, die höchstens einen Übergangsgürtel andeutet, da weder der Ural, für den vom Westen kommenden Rei senden ein Mittelgebirge über einem hügeligen Vorland, und noch weniger die an seinem südlichen Ende anschließende Kaspische Senke ein ernsthaftes fiindernis bilden. Was zeichnet nun dieses so verstandene Europa zwischen dem Nordkap weit jenseits des Polarkreises und Sizilien, wo sich bereits die Wärme der nahen Tropen ankündigt, sowie dem Kap Finisterre, an dem sich die Stürme des Atlantik brechen, und den Quellen der Kama und Petschora schon in der Nähe Sibiriens aus? Worin besteht seine natürliche Mitgift, die den Menschen fördert oder behindert? Seine reiche horizontale und vertikale Gliederung wird immer wieder her vorgehoben. Über ein Drittel seiner fast zehn Millionen km^ entfallen auf Inseln und Halbinseln. Auf lange Strecken gleichförmig verlaufende Küsten, die eher abwei send als einladend wirken, sind die Ausnahme. Mehr oder weniger geräumige Buch ten sorgen dafür, daß das Meer relativ nahe bleibt. Fast zwei Drittel Europas sind nicht weiter als gut 300 km davon entfernt, was in keinem anderen Erdteil der Fall ist. Das vom Atlantik kommende Westwetter mit seinen milden Luftmassen und seiner ausreichenden Feuchtigkeit, dem die vorwiegend vom Westen nach Osten streichenden höheren Aufragungen des Reliefs den Weg in das Innere erleichtern, ist daher zwar nicht ausschließlich, aber mit örtlichen Unterschieden im ganzen doch immer wieder vorherrschend. Dazu kommt im Nordwesten die Wärme des Golfstromes. Die kurvenförmige Abbildung der Breitenkreise auf vielen unserer Atlas- und Wandkarten, welche die Ränder nach oben rückt, macht es meistens nicht genug deutlich, wie sehr Europa dadurch begünstigt ist. Wien ist im Mittel gut um 3° wärmer als das etwa ebenso weit vom Äquator entfernte kanadische Montreal und Neapel fast um 5° als das damit vergleichbare New York. Wenn sich eine feste Eisdecke vor die Küsten Amerikas und Asiens legt, finden in Norwegen in der glei chen Breite der Seeverkehr und der Fischfang offene Häfen. Mit Ausnahme des äußersten Nordens und Südens sind in Europa weder allzu strenge und hartnäckige Winter noch alles versengende Sommerdürre ein unüberwindliches Hindernis für
eine umfassende Besiedlung. Es herrscht weithin Mäßigung in allen Erscheinungen der Natur. Dem entspricht die Vegetation, die vor den Eingriffen des Menschen das Land bedeckte. Europa war ursprünglich ein Waldland. Selbst in der Ungarischen Tiefebene fehlte es nicht an Bäumen und auch nicht entlang der Küsten des Mittel meeres, wo heute eine kümmerliche Macchie oder gar die Zwergstrauchheide der Garrigue stocken. Im südrussischen Schwarzerdegebiet, das bei Kiew und Kuibyschen an der Wolga beginnt, war die Steppe allerdings immer heimisch. Und doch stellt nicht zuletzt die Anordnung der Vegetationsgürtel die Selb ständigkeit Europas in Frage. Der europäische Laubmischwald, in dem im Westen die Buche und im Osten die Eiche vorherrschen, endet zwar am Ural, aber die im Norden daran anschließenden Nadelwälder setzen sich ohne Unterbrechung in die sibirische Taiga fort, und die mediterrane fiartlaubregion hat an den Küsten der Atlasländer sowie jenseits der Ägäis an jenen Anatoliens und der Levante ein Gegenstück. Glei ches gilt für die Strukturen des geologischen Baus, vor allem das alpine System, dem nicht nur das junge Faltengebirge der Alpen, der Dinariden und der Karpaten ange hört, sondern auch Pontus und Taurus, die sich östlich des großen Gebirgsknotens von Armenien in den iranischen Randgebirgen und im Himalaja fortsetzen. Daß Erdteile als menschenerfüllte und demnach vom Menschen geprägte Lebensräume aufzufassen seien, wurde bereits erwähnt. Wie hebt sich nun Europa in dieser Hinsicht von seinen Nachbarn ab, nur als Variante oder als etwas Selb- und Eigenständiges? Oft haben Außenstehende für das, was uns betrifft, den besseren Blick. So hat ein anerkannter amerikanischer Geograph versucht, das auf den Men schen bezogene Charakteristische Europas anhand von zwölf Merkmalen zu bestim men,^ wozu er die Zugehörigkeit zur weißen Rasse sowie - zumindest in der weitaus überwiegenden Mehrheit - zur indogermanischen Sprachfamilie und zum christ lichen Bekenntnis rechnete. Ohne Zweifel haben diese und die anderen dabei vor gebrachten Kriterien, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ihre Gültigkeit. Nicht zu übersehen ist jedoch die herausragende Stellung Europas in der weltweiten Verteilung der Bevölkerung. Zusammen mit Ostasien und Indien bildet es das dritte Dichtezentrum der Menschheit. Durch die gegenwärtige Bevölkerungsvermehrung und weit fortgeschrittene Urbanisierung sind zwar noch andere, so an der atlanti schen Küste Nordamerikas, hinzugekommen, ohne jedoch die gleiche Ausdehnung zu erreichen. Auch im europäischen Verdichtungsgebiet gibt es ein zentral-peripheres Gefälle, vor allem gegen Norden, und im Inneren Unterschiede, die aber nicht so weiträumig sind, um als absolut trennende Schranken zu wirken. Die Möglichkeiten der durch Feuchtigkeit und Wärme begünstigten Agrarproduktion bis über den 60. Breitengrad hinaus schufen die Voraussetzungen dafür. Die der Dichte entspre chende Bevölkerungszahl tat ein übriges, um schon früh eine arbeitsteilige Wirt schaft und einen aufnahmefähigen Markt als Anreiz dazu entstehen zu lassen. Sicher besitzt das seßhafte Bauerntum im fruchtbaren Halbmond Vorderasiens, in der lich ten Waldsteppe des assyrischen Gebirgsvorlandes, eine wesentlich ältere Wurzel. ^ T. G. Jordan zit n. Hofmeister 1985, S. 148 f.
Eine ähnlich geschlossene Siedlungs- und Wirtschaftslandschaft wie in Europa hat sich jedoch dort nicht entwickelt. Auch der dichte Wald, dem sich die ersten Siedler nur zögernd näherten, bildete hierbei kein Hindernis, und die Rodung des Mittel alters hatte sich seiner so sehr bemächtigt, daß im mittleren Teil Europas die Nutzflä chen dadurch um zwei Drittel vergrößert wurden. Der Wechsel von Feld, Wiese und Wald als Endergebnis der im Neolithikum einsetzenden Erschließung bestimmt somit das Bild der Kulturlandschaft Europas, und dort, wo der Wald oder die geschlossenen Ackerschläge zum beherrschenden Element werden, bleiben ihre Dimensionen doch kleiner als etwa in der Zone der borealen Nadelwälder Kanadas und Nordasiens oder im einstigen Weizengürtel Nordamerikas, der sich über 20 Breitengrade erstreckt. Der Pflug ist zwar weit und breit das übliche Ackergerät und die eiserne Pflugschar eine europäische Erfindung. Bei den Formen der von ihm durchzogenen Flur fällt es indessen schwer, sie einem übergeordneten europäischen Muster zuzuordnen, oder zumindest ist dies der vergleichenden Kulturgeographie noch nicht in überzeugender Weise gelungen. Ahnliches gilt für das Bauernhaus und den Grundriß der ländlichen Siedlungen. Wohl aber ist dies bei den Städten möglich. Auch darin gebührt dem Orient zeitlich der Vortritt. Aber Europa hat einen sich davon abhebenden eigenen Typ her vorgebracht, der auf das Mittelalter zurückgeht und somit auch nicht unmittelbar an die antiken Vorbilder anschließt. Seine Eigenarten treten dort klar in Erscheinung, wo es sich nicht erst um eine Schöpfung des Industriezeitalters handelt und die Über fremdung durch die moderne Allerweltsarchitektur in Grenzen blieb. Die Bürger gemeinde mit eigenen Privilegien, organisiert in Zünften und Gilden, wurde zum historischen Leitbild der europäischen Stadt. Ferner der auf Rentabilität und Kapital ausgerichtete Wirtschaftsgeist als Grundlage eines Handels- und Gewerberechtes, wie es die orientalische, indische und chinesische Stadt nicht kannte.^ Das Industrie zeitalter mit seinem Zustrom aus dem Umland verlieh ihr seit der Mitte des 19. Jahr hunderts vielerorts in Form von Ring- und Radialstraßen sowie rasterförmig geglie derten Neubauvierteln, deren historisierende Fassaden über die dahinter verborgene Tristesse hinwegtäuschen, einen weiteren Zug. Das Wachstum in die Höhe, das ab Ende des Jahrhunderts den nordamerikanischen Städten ihre emporstrebende und unruhige Skyline gab, blieb demgegenüber lange Zeit zurück, da es die meist das Pariser Beispiel nachahmenden Bauvorschriften nur in beschränktem Ausmaß zu ließen.'' Die Stadt mit ihren Kirchen, Museen, denkmalgeschmückten Plätzen und anderen Zeugen von Wissenschaft, Bildung und Kunst ist ein Abbild der jeweiligen Kultur. Sie bringt daher das zum Ausdruck, was im besonderen Maße das Wesen Europas, seine im ganzen doch durchschimmernde Einheit - um dem Titel dieses Vortrages gerecht zu werden - ausmacht: seine kulturell deutlich abgehobene Stel- ^ Vgl. Brunner 1953, S. 153 f. Vgl. Lichlenberger u.a. 1970, S. 46f.
lung. Dies ist nicht abwertend gegenüber anderen zu verstehen, denn abermals müs sen wir zugeben, daß wir auch dabei nicht die am weitesten zurückreichende Priorität in Anspruch nehmen können. Die Hochkuituren, die Ägypten, das mesopotamische Zweistromland, Indien und China hervorgebracht hatten, sind älter. Jedoch nur Europa war es gelungen, sich mit seiner geistigen und materiellen Kultur weltweit Geltung zu verschaffen, wenn auch nicht immer als Glücks- und Segensbringer. Die Europäisierung der Erde ist daher trotz aller Verluste der letzten Zeit, von denen wir ausgegangen sind, immer noch ein beachtenswertes Faktum. Im Zusammenhang damit ist es wohl angebracht, bei allen heute üblich gewordenen Selbstanklagen das Positive des so oft beschworenen Genius Europas nicht zu übersehen: die ihm gelungene Verbindung jener Werte, welche uns die Philosophie der Griechen, der Geist des Humanismus, die Rationalität der Aufklärung und das Gebot der christlichen Nächstenliebe gelehrt haben. So läßt sich als Zwischenbilanz der bisherigen unter dem Gebot der Kürze nur skizzenhaften Überlegungen festhalten: Als Naturerdkil mag Europa umstritten sein. Das Prädikat eines Kulturerdteils, das sich aus einem Komplex von regional unterschied lich ausgebildeten Eigenschaften ergibt, ist ihm nicht abzusprechen, denn es erfüllt die dafür zu fordernden Voraussetzungen. Dazu gehören als wesensbestimmend: der individuelle, d.h. einheitliche und einmalige, in der Antike und im Christentum begründete Ursprung seiner Kultur und die eigenständige geistige und gesellschaft liche Ordnung, die in der Gestaltung des Siedlungs- und Wirtschaftsraumes ihren Niederschlag fand.' Wenn die regional verschiedene Ausprägung eben angesprochen wurde, so ist darunter die Mannigfaltigkeit zu verstehen, die zu Recht als eine Besonderheit Europas und als Begleiterscheinung seiner beträchtlichen inneren Gliederung gilt. Seine Geschichte, die oft genug mehr von einem feindlichen Gegeneinander als einem friedlichen Nebeneinander erfüllt war, ist ihr Abbild. Ähnliches betrifft die Menschen, die sich unter seinem Dach nun die Hände reichen sollen und dabei trotz der sie verbindenden Wurzeln ihrer Kultur manches Trennende, nicht bloß der Sprache, zu überwinden haben. Mögen die Unterschiede - um nur Beispiele zu nen nen - zwischen dem nüchternen und unsentimental denkenden Engländer, dem mehr der Emotion folgenden Franzosen, dem über die Sache und das Prinzip grübelnden Deutschen oder dem in natürlicher Unbefangenheit lebenden Italiener zwar nicht so gravierend sein, wie sie der selbst der Europaidee verpflichtete baltische Kulturphilosoph Keyserling etwas überzeichnet hat, so steht doch außer Zweifel, daß das allen gehörende Haus der Zukunft im Temperament und Gharakter recht unter schiedliche Mieter bewohnen werden. Bei einer Suche nach der Identität Europas gilt es daher, neben dem Gemeinsamen das in seinen Teilen jeweils andere, welches nicht nur die Bevölkerung betrifft, im Äuge zu behalten und sich zumindest in einigen Bei spielen daran zu erinnern. Vgl. dazu Kolb 1962.
Das atlantische und das kontinentale Europa Der Öffnung zum Atlantik in den mittleren Breiten verdankt Europa seine Lagegunst. Naturgemäß kommt sie im Westen besonders und im Osten mit wachsender Entfernung davon nur mehr abgeschwächt zum Tragen. Einem atlanti schen steht demnach ein kontinentales Europa gegenüber. Die Übergänge sind zwar all mählich, aber um die Unterschiede in ihrer Tragweite nicht zu übersehen, sollte man die Extreme bedenken. Die Moskwa beginnt schon Anfang November zuzufrieren, und die Teiche in ihrer Nähe verlieren erst Ende April ihre Eisdecke. Unter den Brücken von Köln hin gegen treiben meistens bloß drei Wochen lang Eisschollen flußabwärts. Mit kaum sechs Monaten muß das Wachstum der Vegetation im mittleren Rußland auskom men, am Niederrhein stehen ihm acht bis neun Monate und an den Küsten Englands, Wales und Irlands noch mehr zur Verfügung. Der winterharte Nadelwald verdrängt im östlichen Europa immer mehr die Laubgehölze, und nur jene, denen der Frost nicht allzusehr schadet, erreichen den Ural: wie etwa die Stieleiche, die Winterlinde sowie, diesen noch überschreitend, die Zitterpappel, die Eberesche und natürlich die Birke, der vielbesungene russischste aller Bäume. Dem vom Westen kommenden Reisen den wird dies geradezu symbolhaft bewußt, wenn er vom Moskauer Stadtzentrum zum Flughafen Domodjedowo fährt, von wo die Linien in das Innere der Sowjetunion ihren Ausgang nehmen. Im äußersten Westen wiederum, auf den Britischen Inseln, aber auch im westlichen Frankreich, ist die Kälte des Dezembers und Jänners so gering, daß sie dem Laubwald die größere Chance gibt und sogar etliche immergrüne Arten überdauern, darunter die Stechpalme, der Efeu und stellenweise der Lorbeer baum, der mit einem respektablen Umfang noch in der gleichen Breite wie Warschau im Park von Dublin überwintert. Wie in Osteuropa jenseits der südrussischen Getrei desteppe allmählich der Wald zu einer immer mehr hervortretenden Vegetationsfor mation wird, ist es hier die offene Heide mit Ginster und Ericaceen. In Schottland bedeckt sie bis zu einem Drittel des Landes, wozu allerdings der Mensch viel bei getragen hat. Das atlantische und das kontinentale Europa sind indessen nicht nur in ihrer Landesnatur ungleiche Partner, was wiederum in der Gegenüberstellung der Extreme besonders deutlich wird. A grazing kingdom, ein Weidekönigreich, hatte - sicher etwas übertreibend - Gilbert Withe 1788 die Britischen Inseln genannt. Die Enclosure-Bewegung, eine schon im Mittelalter zu Lasten der Bauern und zugunsten der grundherrschaftlichen Schafweidewirtschaft betriebene Zusammenlegung und Vergrünlandung sowie später die forcierte Ausbeutung des Waldes als Lieferant der Holzkohle zu Beginn des Industriezeitalters hatten es dazu gemacht. Mit Hecken umgebene Blockfluren, Einzelhöfe und Weiler, die vielerorts an die Stelle der alten Angerdörfer traten, waren das Ergebnis. Auf der anderen Seite des Kanals, in der Normandie und Bretagne, trägt die Kulturlandschaft der Bocage mit ihren Hecken ähnliche Züge. Weiter im Inneren des Landes, im Pariser Becken und in seinen Randgebieten, sind die offenen, streifenförmig gegliederten Dorffluren das
Ursprüngliche. Ihre Erträge an Getreide und anderen Feldfrüchten gehören zu den höchsten der EG, sodaß die französische Agrarplanung in einem Szenario für das Jahr 2000 hier eine voll industrialisierte Landwirtschaft propagiert hat.^ Wie anders sich Kontinentaleuropa in weiten Teilen präsentiert, zeigt ein dringlicher als jede Statistik und langatmige Erörterung ein Flug über den einstigen Eisernen Vorhang. Auch nach seinem Abbau und dem gegenwärtigen Umbruch wird sich daran lange nichts ändern. Riesige einheitlich bestellte Schläge verstärken den Eindruck der Weite in den großen Ebenen. Da und dort, wie etwa in der Ukraine, unterbrechen sie die langgezogenen Reihen der alten Dörfer mit ihren niedrigen Häuschen und dem kleinen, höchstens einen halben Hektar umfassenden Hofland dahinter, das in privater Hand blieb und in vielem wesentlich mehr erzeugt als die endlosen Flächen des Kollektivs. Auch die Stadtlandschaft ist nicht identisch mit jener im atlantischen Westen, die den Idealtypus der europäischen Stadt verkörpert. Vor allem gilt dies für die rus sische Stadt, und zwar schon für ihren geschichtlichen Auftrag. Die militärische Sicherung und das damit verbundene Interesse des Staates spielte bei ihr eine wesentlich größere Rolle als wirtschaftliche Momente. Eine durch Privilegien geschützte Selbstverwaltung blieb ihr weitgehend fremd. Der Satz „Stadtluft macht frei" ist somit keine Erfindung Osteuropas. Die Burg, der Kreml, als Ausdruck der Herrschaft mit den darauf zulaufenden Straßen, der „Kremltyp", wie es im stadtgeo graphischen Schrifttum heißt, ist ein getreues Abbild der ihr einst zugedachten Rolle.'' Sie verleugnet durch ihre späteren Zutaten auch nicht, welche sie nach der Oktoberrevolution erfüllen sollte. Vor dem Ersten Weltkrieg lebte kaum ein Fünftel der Bevölkerung der Sowjetunion in Städten, heute sind es über drei Viertel. Die Urbanisierung hat somit Ausmaße erreicht, die sie durchaus mit jener im kapitalisti schen Westen vergleichbar macht, und wurde getreu dem Motto „Die Stadt ist die Kaderschmiede des Sozialismus" eher noch mehr als dort durch die Zielvorstellun gen der Planer bestimmt. Die Industrialisierung brachte ihr neue Aufgaben, und die in vorgefertigten Bauteilen hochgezogenen Wohnsilos, die sich in den randlichen Neu bauvierteln konzentrieren, haben ihr Außeres verändert. Daß sie nach wie vor im Dienst der zentralen Obrigkeit und nicht einer selbstbewußten Bürgerschaft zu stehen hatte, zeigt die Gestaltung des Zentrums, die den Architekten der fünfziger und sechziger Jahre vorschwebte. Nicht die Wirtschaftscity mit ihrer Vielfalt an Geschäften, die auch in den höheren Stockwerken das Wohnen verdrängen, wurde bei den Um- und Neubauten zur Leitlinie, sondern die Regierungs- und Parteicity mit der Paradestraße und dem Aufmarschplatz, umsäumt vom Kulturpalast und von den übrigen Repräsentationsbauten der staatlichen Autorität. Die solchermaßen in Stadt und Land, Vergangenheit und Gegenwart in Erscheinung tretenden Gegensätze machen es verständlich, daß bei einer Gliederung nach Kulturerdteilen häufig nicht ein gesamteuropäischer, sondern an seiner Stelle ^ Thiede, S. 367 ff. ' Vgl. dazu Schwarz, S. 345.
ein abendländischer und ein russischer ausgeschieden wurden. Dem ist jedoch ent gegenzuhalten, daß Kulturlandschaften, deren Shl dem Konzept des Kulturerdteils zugrunde liegt, dem Wandel der Zeiten unterliegen, und daher manches, was uns heute hüben und drüben so anders erscheinen mag, allmählich hinter das Gemein same zurücktritt. So hat die Flurbereinigung auch im Westen vielerorts das traditio nelle Gefüge der feingliedrigen Agrarlandschaft beseitigt, und im Osten fühlt sich die Stadtplanung nicht mehr an jene rigiden Vorschriften gebunden, die unter Stalin für sie verbindlich waren. Schließlich tritt uns Europa, wie wir schon hörten, als selbstän diger Kulturerdteil durch die große, weitflächig ausgebreitete Bevölkerungsdichte entgegen. Der Osten bildet hierbei keine Ausnahme, denn das noch um die Jahr hundertwende im westlichen Rußland endende Verdichtungsgebiet hat inzwischen in einem mehrere 100 km breiten Streifen Sibirien bis zum Jennisei erreicht. Polarität zwischen Nord und Süd Wenn immer wieder der Osten dem Westen gegenübergestellt wird, so sollte man darüber nicht jene Polarität übersehen, die zwischen dem Norden und dem Süden besteht. Tief eingesenkte Fjorde mit malerischen Fischerhütten an ihren schmalen Ufern, endlose Wälder, in denen sich die Spuren des Menschen verlieren, und das Land der 1.000 Seen bilden das Klischee, mit dem die Touristikbranche für die Nord landreisen wirbt. Wenig hört man vom steilen Gefälle des hier so offensichtlichen Wohlstandes, das zwischen Zentrum und Peripherie besteht. In den küstennahen Landschaften des südlichen Schweden und Finnland ist von der Ursprünglichkeit wenig übriggeblieben. Die Grenzen zwischen Stadt und Land haben sich verwischt. Die meisten Dörfer im großstädtischen Umfeld erfüllen nur mehr die Funktion einer Wohngemeinde im dichten Netz des täglichen Berufsverkehrs, vor allem in Schweden, wo ein Drittel der Berufstätigen Pendler sind. Fast ein Fünftel des Acker landes sind hier in den letzten 40 Jahren zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend den expandierenden Siedlungs- und Verkehrsflächen zum Opfer gefallen. Der Sog, den die Zentren der Wirtschaft und der Verwaltung im Süden ausüben, hat das Dasein in der so viel gepriesenen unberührten Natur des Nordens noch weniger attraktiv als bisher gemacht. Leerstehende Häuser, von den Besitzern nur mehr wäh rend der Ferien bewohnt, gehören entlang der auf schwedischer Seite von Finnland nach Norwegen führenden Straße zum üblichen Bild. Nicht das Wald-, sondern das Dorfsterben ist hier das Problem. In Nordfinnland hat zwar später, dann aber ebenfalls im großen Umfang der Zug nach dem Süden eingesetzt. Um gut die Hälfte ist die Bevölkerungszahl im Umland von Helsinki zwischen 1970 und 1976 angestiegen, während Karelien in der gleichen Zeit 25.000 Menschen verloren hat. An sich keine überwältigende Summe, die aber auf dem Hintergrund der dort schütteren Besiedlung gesehen werden muß. Auch Finnland, von dem man es nicht erwarten würde, zerbricht sich den Kopf wegen der Überproduktion seiner Landwirtschaft. Im Norden, wo nur mehr das
Grünland rentabel ist, betrifft dies die Viehhaltung, deren Produkte wegen der weiten Entfernung zum Markt nicht kostendeckend abzusetzen sind. Ende der sechziger Jahre ist man daher dazu übergegangen, durch Abschlachtungs- und Flächenstilllegungsprämien sowie andere finanzielle Anreize zur Betriebsaufgabe manches wieder der Natur zu überlassen, was man ihr zur Unterbringung des großen Flücht lingsstromes in der Not der Nachkriegszeit abgerungen hatte. So sind in den letzten 20 Jahren in einzelnen Gemeinden Nord- und Ostfinnlands über 30 Prozent der bäuerlichen Betriebe aufgelassen worden. Alternativen für die noch im Erwerbsleben Stehenden gibt es an Ort und Stelle kaum, und die Pendlerwege zu außeragrarischen Arbeitsplätzen sind zu weit. So bleibt für viele nur das Fortgehen für immer, zumal die Lebenshaltungskosten in Lappland um zwei Monatsgehälter höher sind, als ein mittlerer Angestellter dafür im Süden aufbringen muß. Die Aufwendungen für die unerläßlichen, über die eigene kleine Welt hinausgehenden Kontakte und das Heizen, das praktisch das ganze Jahr nötig ist, spielen dabei eine wesentliche Rolle.® Sorgen solcher Art hat der Süden unseres Erdteils nicht. Auch dort verbirgt sich jedoch hinter dem Enthusiasmus der Reisemanager über den heiteren Golf von Neapel, über die zum azurblauen Meer und die weißen Häuser von Amalfi abstür zenden Felsen der Halbinsel von Sorrent oder die so imponierenden Reste der Magna Graecia in Paestum und Taormina eine recht nüchterne Realität. Einen Hinterhof Europas hat man vor nicht allzu langer Zeit das südliche Italien genannt. Die in ihren Anfängen schon auf die Antike zurückgehende, in den Zeiten der aragonesischen Herrschaft und des Königreiches Neapel-Sizilien weitergeschriebene Geschichte der Latifundien hat Mißstände hinterlassen, die erst in jüngster Zeit einiges von ihrer Schärfe und Sprengkraft verloren. Einer zahlenmäßig kleinen, in rentenkapitalisti schen Vorstellungen befangenen Schicht von Großgrundbesitzern ohne jedes Interesse an ertragssteigernden Investitionen stand die große Masse von abhängigen, verschuldeten und kurzfristig kündbaren Pächtern sowie rechtlosen Landarbeitern gegenüber, deren einzige Hoffnung die Ab- und Auswanderung war. Riesige Wei zenschläge mit mageren Ernten und Schafweiden für die im Winter das Tiefland auf suchenden Herden bestimmten bis vor wenigen Jahrzehnten das Aussehen der Agrarlandschaft. Die 1949 unter dem Druck der sozialen Spannungen, vor allem des Elends der Höhlenwohnungen von Matera, in Angriff genommene und 1953 gegen den Willen des Großgrundbesitzes abgeschlossene Bodenreform brachte endlich eine Wende. Auf einer gegen Entschädigung enteigneten Fläche von fast 700.000 ha entstanden allein im festländischen Süditalien gegen 90.000 neue Siedlerstellen, darunter über die Hälfte für Nebenerwerbsbauern, vorwiegend als Einzelhöfe inmit ten einer geometrisch aufgeteilten Flur. Dort, wo sich die staatliche Subvention mit der dadurch geweckten privaten Initiative verband, hat sich der Aufwand gelohnt. Ein Beispiel dafür ist die Küsten ebene von Metapont mit ihrem vielfältigen Anbau von Tabak, Zuckerrüben, Gemüse, Erdbeeren, Tafeltrauben und Agrumen auf den sorgfältig berieselten ParzelVgl. dazu Varjo u. Hakala.
lea Wo das nicht der Fall war, die Infrastruktur zuwenig ausgebaut und die Landzu teilung so knapp bemessen wurde, daß eine Familie auf die Dauer davon nicht leben konnte, blieb alles beim alten; besonders im Inneren der Basilikata und Lukaniens mit ihren geringen großflächigen Bewässerungsmöglichkeiten. 90 und mehr Prozent der im Zuge der Bodenreform errichteten Kolonistenhäuser sind hier gebietsweise ver fallen und verlassen von ihren Bewohnern, von denen es viele als Gastarbeiter in den Norden gezogen hat. Aber auch in den Küstenhöfen hat sich nicht überall das Bei spiel von Metapont wiederholt. Bedenklich ist der Einfluß der industriellen Entwick lungspole, welche die Planer konzipierten, wozu Tarent mit dem größten Stahl- und Hüttenwerk der EG gehört. Die dadurch ausgelöste Flächenkonkurrenz geht mei stens zu Lasten der Landwirtschaft, aber auch der Erholungsfunktionen, da Umwelt schutz und Landschaftspflege nirgends ernst genommen werden und eine verfehlte Planung mancherorts leerstehende Spekulationsobjekte zurückgelassen hat.' Die Kulturlandschaft Europas zeigt somit, wie diese wenigen Hinweise deut lich machen sollten, ein sehr differenziertes Bild, das die Unterschiede des Reliefs, des Klimas, der geschichtlichen Entwicklung und der das Handeln des Menschen bestimmenden Gesellschaftsordnung widerspiegelt. Die Frage nach der Gültigkeit des Begriffes „Einheit in der Vielfalt" ist somit nicht nur eine rhetorische, und der Ver dacht eines bloß griffigen Schlagwortes liegt nahe, das sich, wie es schon oft gesche hen ist, als Titel eines Buches, eines Aufsatzes oder eines Vortrages anbietet. Vielfalt führt indessen dort zur Einheit, wo sie in enger Nachbarschaft reali siert ist. Europa kann dies besonders für sich in Anspruch nehmen. Sein buntes Mosaik hat das Eigenleben seiner Teile begünstigt, aber deren maßvolle Größe, die weit hinter jener in anderen Erdteilen zurückbleibt, auch zur wechselseitigen Ergän zung gezwungen, die nicht auf materielle Güter beschränkt blieb. Sie hat jene kultu relle Durchdringung bewirkt, die das Trennende abschwächt, und wofür die Mono tonie einer weithin einheitlichen Landesnatur keine vergleichbaren Anregungen geliefert hätte. Nur mit letzter Anstrengung überwindbare Hindernisse waren dabei nicht zu bewältigen, denn der 1.200 km lange Alpenbogen bildet mit seinen im Winter offenen Pässen eine viel geringere Schranke als sein Gegenstück in Asien. Noch weniger trifft dies für die ebenso von Westen nach Osten verlaufende Mittelgebirgsschwelle nördlich davon zu. „Mitteleuropa" Einheit hat aber auch ein verbindendes Zentrum zur Voraussetzung und ist ohne ein solches undenkbar. Damit wird das Problem Mitteleuropa angesprochen, das bei einer Hinterfragung der Identität Europas durch alle gegenwärtigen Kontro versen nicht wegzudiskutieren ist. Der Führungsanspruch der einstigen Mittelmäch te und später Deutschlands auf den ihm hier zustehenden Lebensraum haben es suspekt gemacht, obwohl die leidvollen Erfahrungen der jüngsten Geschichte man- ' Rother 1987.
cherorts, in Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn, das Bekenntnis dazu nicht verstummen ließen, sondern ihm einen neuen Inhalt gaben. Bei Mitteleuropa handelt es sich indessen, wie es das Wort schon ausdrückt, um eine Kategorie der räumlichen Gliederung, wofür die Geographie als Raumwissenschaft eine Kompetenz beanspru chen kann. Mitte impliziert die Vorstellung des Mittelpunktes, wo sich die Wege zur Peripherie treffen und über das Geometrische hinaus die am Rande besonders aus geprägten Unterschiede ineinander übergehen. So sympathisch uns die in Görz, Triest, in Friaul, der Lombardei und sogar in der Toskana lebendig gewordene Rückbesinnung auf Mitteleuropa berührt, weil sie unserer Geschichte nach langen Jahren der Ignoranz und Diffamierung gerecht wird, so müssen wir doch zugeben, daß die so zu verstehende Mitte Europas dort liegt, wo sie ohne historischen Ballast, ohne politische Ambitionen sowie obne Gegenwarts sorgen über Neutralität und Sicherheitsrisiko zu suchen ist, nämlich zwischen der jütischen fialbinsel und dem Südfuß der Alpen, dem Rhein und dem Bug. Die Achsen, welche die äußersten Endpunkte Europas verbinden, kreuzen sich hier. Der Übergang vom atlanhschen zum konhnentalen Europa vollzieht sich hier und wird zwischen Elbe und Oder am deutlichsten spürbar. Dazu kommt die Drehscheibe des Verkehrs, die den Norden mit dem Süden, den Osten mit dem Westen verbindet, entlang des Rheins, des Mains und der Donau, über die hessischen Senken und - wenn auch abgewertet durch die Teilung der letzten 45 Jahre - parallel zur Saale und über die Mährische Pforte. Nicht aus Zufall war einst der Potsdamer Platz in Berlin der verkehrsreichste Europas. Über Grenzen Mitteleuropas zu streiten ist müßig, da sie, wie gerade das eben angesprochene, dafür abgegebene Votum in seinem östlichen Teil beweist, im Den ken seiner Bewohner verankert und daher in Raum und Zeit fließend sind. Das der zeit überall so rege gewordene Interesse an seinem politischen Schicksal wäre in die ser Intensität kaum aufgekommen, wenn man es nicht als über alle Grenzen wirken des Zentrum empfände. Aus der Sicht des westöstlichen Lagerdenkens wurde Mit teleuropa gelegentlich - so vom Idistoriker Joseph Rovan - als Gegeneuropa bezeich net. Wer einem solchen Denkmodell, wofür Zeitgeschichtler und Journalisten zustän dig sein mögen, nicht verpflichtet ist, sieht in ihm eine geographische Realität, welche die Vielfalt unseres Erdteils verknüpft und dadurch seine Einheit unterstreicht. Literaturverzeichnis Brunner, O.: Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte. In: Neue Wege der Sozialgeschichte. Göttingen 1956, S. 80-96. Hakala, J.; On the regional differences of the cost of living in Finnland. In: Nordia 1983, vol. 17, Nr. 1, S. 35-40. Hassinger, H.: Geographische Grundlagen der Geschichte.^ Freiburg 1953. Hofmeister, B., u. K. Rother: Die mittleren Breiten. Geographisches Seminar Zonal. 1985. Jordan, T. G.: The European culture area. New York 1973. Lichtenberger, E.: The Nature of European Urbanism. In: Geoform 4/1970, S. 45-62.
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Die Hauptstadtfrage im Lande ob der Erms Von Siegfried Haider enn Linz im heurigen Jahr das Jubiläum „500 Jahre Landeshauptstadt" mit einer beeindruckenden VielzahJ von Veranstaltungen feiert, dürfte es nicht uninter essant sein, zu fragen, wie die Stadt zu diesem Vorrang gekommen ist; bzw. über haupt die Funktion der Hauptstadt für den oberösterreichischen Raum aus histori scher Sicht zu prüfen.* Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Hauptstadtfrage nicht nur ein Problem der oberösterreichischen Geschichte ist, sondern auch der all gemeinen, besonders jedoch der deutschen Verfassungsgeschichte. So wurde etwa von manchen Forschern eine Auffassung vertreten, die sich am deutlichsten unter dem Schlagwort „Das Reich ohne Hauptstadt" - gemeint ist das römisch-deutsche Reich des hohen Mittelalters - zusammenfassen läßt. Nach dieser Ansicht könnte nur ein politisch straff und zentralistisch organisierter „Staat" eine Hauptstadt haben. Selbst wenn man aber diesem allzu jurishschen und engen Sinn nicht folgt, sondern pragmatisch davon ausgeht, daß jede von Menschen bewohnte Region ihren „zentra len Ort", ihren „Vorort" oder ihre „Hauptstadt" hat, so bleibt doch das banale Faktum bestehen, daß eine „Landeshauptstadt" die Existenz eines „Landes" voraussetzt - und auch dieser Begriff wurde lange Zeit von den Verfassungshistorikern diskutiert. Im folgenden wird allerdings nicht bloß darüber berichtet werden, wie sich nach einem langwierigen und komplizierten Entstehungsprozeß des politischen Gebildes „Land ob der Enns" in diesem eine bestimmte Hauptstadt herausbildete; unser Thema soll vielmehr in einem zeitlichen Abriß skizzenhaft durch die verschiedenen Epochen von der Römerzeit bis in unsere Gegenwart im Hinblick auf den geographischen Raum des heutigen Bundeslandes Oberösterreich verfolgt werden. Durch diesen Überblick wird deutlich werden, daß der Begriff „Hauptstadt" in den verschiedenen Zeitabschnitten unterschiedlich definiert werden muß und daß diese Definition auf das engste mit der jeweiligen polihschen Struktur, wir sagen heute modern „Staats form", zusammenhängt. Den Begriff „Hauptstadt" verstehe ich in Anlehnung an die bekannte deutsche Stadthistorikerin Edith Ennen primär in der politischen Funktion eines Ortes bzw. einer Siedlung begründet, wobei der im spezifischen Sinne städtische Charakter dieser Siedlung im frühen und hohen Mittelalter nicht unbedingt gegeben sein muß. Wie wir sehen werden, kann eine Hauptstadt auch Residenzstadt sein, sie muß aber nicht oder ist es allenfalls nur in einer besonderen, eingeschränkten Weise. In der Regel ist sie aber Versammlungsort oder Sitz der zentralen Organe und Behör den eines Staatswesens bzw. der politischen Repräsentanten eines Landes, was natürBei diesem Aufsatz handelt es sich um das geringfügig überarbeitete Manuskript eines Vortrages, den der Verfasser am 24. April 1990 auf der 98. Jahreshauptversammlung des Museumvereins LauriacumEnns gehalten hat.
Tabula Peutingeriana, 12. oder 13. ]h. (Ausschnitt). lieh die verkehrsgünstige Lage und eine gewisse Infrastruktur der Hauptstadt vor aussetzt. Der politischen Gewichtung einer Hauptstadt entspricht aber ebenso eine kulturelle und zumeist auch eine kultische insoferne, als die Träger der erwähnten Institutionen im allgemeinen eine gehobene Lebensart und ein Bedürfnis nach Kultur zu entwickeln pflegen bzw. nicht zuletzt auch religiös-seelsorglich versorgt zu wer den wünschen. Daß alle bisher genannten Faktoren zum wirtschaftlichen Auf schwung einer Hauptstadt beitragen, versteht sich. Insgesamt besitzt also eine Haupt stadt sowohl eine personelle und sachliche Anziehungskraft als auch eine charakterishsche Ausstrahlung, die das polihsche Bewußtsein eines Landes bzw. dessen Repräsentation genauso betrifft wie seine Kultur - man denke etwa nur an die gegen wärtig in der BRD geführte Diskussion über die Hauptstadt eines künftigen wieder vereinten Deutschland mit der Kernfrage: Bonn oder Berlin? Dabei müssen wir uns aber dessen bewußt sein, daß mit diesen kurzen andeu tungsweisen Bemerkungen das Phänomen „Hauptstadt" keineswegs vollständig und allgemeingültig beschrieben ist - so wäre etwa auch auf besondere Rechtsverhält nisse bzw. Vorrechte hinzuweisen - und daß die angeführten idealtypischen Wesens züge weder für alle Epochen noch stets in ihrer Gesamtheit Gültigkeit haben. Gerade deshalb, weil die angeführten Merkmale primär für moderne Staatswesen zutreffend sind, dürfte allerdings die Notwendigkeit besonders klar geworden sein, den grund sätzlichen geschichtlichen Wandel von „Staat" bzw. „Land" und dessen jeweiliger „Hauptstadt" in den verschiedenen Zeitläufen herauszuarbeiten. Obwohl im folgen den vorwiegend bereits bekannte Fakten und Einzelheiten geboten werden, ver-
mögen sie in der Zusammenschau vielleicht doch auch den einen oder anderen neuen Aspekt zu vermitteln. Beginnen wir unseren Überblick mit der römischen Provinz Noricum, die bekanntlich vom Kärntner Raum im Süden bis an die oberösterreichische Donau gereicht hat. Daß die im Zollfeld gelegene Stadt Virumm als Sitz des Statthalters Hauptstadtfunktion hatte, ist allgemeine Ansicht. Von den im Bereich des heuhgen Oberösterreich gelegenen Siedlungen hob Kaiser Hadrian (117-138 n. Chr.) Ovilava/ Ovilavis als erste durch die Verleihung des munizipalen Stadtrechtes hervor. Eine für unsere Region wesentliche Änderung hatte die Errichtung eines festen Lagers in Lauriacum durch die Legio II Italica am Ende des 2. Jahrhunderts zur Folge, als der dort stahonierte Legionskommandant die Funktionen des Statthalters übernahm. Zwar blieb Virunum weiterhin offiziell Provinzhauptstadt, daß aber mit der politischen Aufwertung des Kommandanten von Lauriacum auch eine Verschiebung des regio nalen Schwerpunktes verbunden war, beweist die Tatsache, daß damals wahrschein lich zumindest verschiedene zivile Amter und Büros von Virunum in die Stadt Ovilava und damit näher heran an das militärische Zentrum Lauriacum verlegt wur den. Diese Funktionsteilung zwischen Lauriacum und Ovilava blieb in der Folgezeit bestehen, auch nachdem Kaiser Caracalla (211-217) Wels zur Colonia Aurelia Anto niniana und die Zivilsiedlung von Lauriacum zur Stadt erhoben hatte. In dieser Hin sicht brachte auch die tiefgreifende Reichsreform Kaiser Dioclehans am Beginn des 4. Jahrhunderts mit strikter Trennung von ziviler und militärischer Gewalt keinen grundsätzlichen Wandel; In der neugeschaffenen Provinz Ufernoricum wurde der Stadt Wels als Sitz des Statthalters die Funktion der Provinzhauptstadt zugewiesen, während als militärischer Oberbefehlshaber für Ufernoricum und Pannonien ein Grenzgeneral in Lauriacum residierte. In spätrömischer Zeit scheint jedoch Wels seine Bedeutung verloren zu haben, die Vita Severini erwähnt die Stadt bekanntlich nicht; andererseits tritt die wichtige Rolle der Festung Lauriacum in dieser Quelle deutlich zutage, und nicht zuletzt bezeugt sie uns ja auch den für den oberösterreichi schen Raum einzigen namentlich bekannten Bischof, nämlich Constantius von Lau riacum. Zu Severins Zeiten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts hatte nach Aus sage der Lebensbeschreibung dieses hervorragenden Mannes zweifellos Lauriacum die Stellung eines „Vorortes" in unserem Gebiet inne, wie man in Anbetracht der weit gehenden Auflösung der zivilen und militärischen Strukturen wohl besser anstelle von Hauptstadt sagen wird. Völlig neue Verhältnisse entstanden bekanntlich nach der Umbruchszeit der sogenannten Völkerwanderung im frühen Mittelalter mit der Ausbreitung der bairischen Siedlung bis zur Enns und der Ausformung neuer Herrschaftsstrukturen im bairischen Stammesherzogtum der Agilolfinger seit dem 6. Jahrhundert. Die für die
folgenden Jahrhunderte charakteristische Staatsform war der sozial und rechtlich abgestufte Personenverbandsstaat auf der Grundlage persönlicher Bindungen und Verpflichtungen zwischen jeweils höhergestellten und bevorrechteten Herren und ihnen untergeordneten Personen bzw. Untertanen. Das betraf im wesentlichen auf der unteren Ebene das Rechtsverhältnis der Grundherrschaft und im Bereich der politischen Führungsschichten das Lehenswesen. Die Basis von Macht und Herr schaft bildete der Besitz an Land und Leuten, und dieser Besitz war wiederum im all gemeinen durch extreme Streulage charakterisiert, allerdings mit gewissen Verdich tungen und Konzentrationen, die im Laufe der Zeit mit der zunehmenden Siedlungs und Kolonisationstätigkeit immer mehr verstärkt wurden. Mittelpunkte solcher Besitzzentren waren die grundherrschaftlichen Fronhöfe (curtes), die dem jeweiligen weltlichen oder geistlichen Grundherrn bzw. Machthaber als Stützpunkte und eher kurzfristige Aufenthaltsorte dienten. Denn die für das frühe und hohe Mittelalter bezeichnende Organisationsform war die „Reiseherrschaft" der Könige, Fürsten und Adeligen, die nicht zuletzt durch die unterschiedliche und vor allem zeitlich begrenzte Wirtschaftskraft, sprich Versorgungsmöglichkeit, der einzelnen Höfe bedingt war. Der Bereich des heutigen Oberösterreich war bekanntlich in agilolfingischer Zeit Bestandteil des bairischen Stammesherzogtums, das mit Regensburg über eine traditionelle Hauptstadt verfügte, östlich des Inn fungierten die Herzogshöfe Ranshofen, Ostermiething, Mattighofen, Alkoven und vielleicht auch Atterhofen als Stützpunkte der Agilolfinger und ihrer Herrschaft. Im Rahmen dieses Systems könnte allerdings das frühere Lauriacum und nunmehrige bairische Lorch als möglicherweise bevor zugte Herzogspfalz und östlichster Vorposten eine besondere Rolle gespielt haben. Sicher gilt dies aber für die durch Befestigungen geschützten Siedlungen We/s und Linz. Die Frage, welchem dieser beiden „castra" mehr Bedeutung zugekommen sei, war von der älteren Forschung zugunsten von Wels beantwortet worden. Allerdings dürfte der Umstand, daß der bekannte und mächtige Graf Machelm im Jahre 776 in Wels eine Schenkungsurkunde ausstellen ließ, keineswegs ausreichen, Wels deshalb zu einem agilolfingischen Verwaltungszentrum oder gar zu einem Vorort des Gebie tes zwischen Inn und Traun bzw. Lnns hochzustilisieren. Nach dem Sturz Herzog Tassilos III. wurde das bairische Stammesherzog tum 788 als Provinz in das fränkische Großreich König Karls des Großen eingeglie dert. Die bisherigen agilolfingischen Herzogshöfe in unserem Raum wurden dadurch karolingische Königshöfe, behielten aber ihre grundsätzliche Funktion für das karolingische Reisekönigtum bei. Seit dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts, als Baiern ein weitgehend selbständiges karolingisches Teilkönigtum wurde, gewan nen diese königlichen Stützpunkte - außer den schon in agilolfingischer Zeit bekann ten Höfen sind jetzt auch Mining, Hochburg, Kronstorf und Neuhofen an der Krems als Königshöfe bezeugt - durch die größere räumliche Nähe zum Herrscher sogar eine neue Qualität. Einige von ihnen wie Ranshofen und wahrscheinlich auch Mattighofen und Atterhofen wurden zu komfortableren Pfalzen ausgebaut, die über Repräsen tationsbauten, sogenannte „palaha", Hauskirchen und sonstige für längere Auf-
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