OÖ. Heimatblätter 1990, 44. Jahrgang, Heft 1

Sprung, über den Weg des „neuen Menschen" den langen Weg zu einem ideologisch fixierten Endziel zu verkürzen, sind, wie diese Tage wieder zeigen, trotz des hiebet als unvermeidlich beurteilten Blut zolls zum Scheitern verurteilt. Denn auch für den Weg zur „unendlichen Perfektibilität" gelten die Kelsen-Sätze aus dem Jahre 1923. „Der Mensch: Das ist das Material, aus dem auch das Haus einer künftigen Gesellschaftsord nung gebaut werden muß; es ist dasselbe Material, aus dem schon der Staat von heute und gestern be steht, und das gewiß mit ein Grund dafür ist, daß dieses Haus so viel zu wünschen übrigläßt, wenn darum auch keineswegs angenommen werden muß, daß es aus eben diesem Material nicht viel besser gebaut werden könnte. Wer aber den Palast der Zukunft aus anderem Material errichten zu können glaubt, wer seine Hoffnung auf eine andere Menschennatur stützt, als jene ist, die wir kennen, der gerät unrettbar ins Nebelland der Utopie." Zum Abschluß: Es wäre schade, wenn dieses Buch in der Flut der zur Französischen Revolution angeschwemmten Literatur unterginge. Josef Demmelbauer Friedrich H„ Tenbruck; Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft - Der Fall der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989. 322 Seiten. DM49,-. ISBN 3-531-12005-0 Vor dem Autor, Soziologieprofessor an der Universität Tübingen, im September 1989 70 Jahre alt geworden, braucht man sich als Leser nicht zu fürchten. Er schreibt nicht das unerträgliche Sozio logendeutsch, sondern macht sich in klarer Spra che verständlich. Damit fällt die Hauptbarriere ge gen die Lektüre eines von einem Soziologen ver faßten Buches weg. Es handelt sich auch nicht um die in den letzten Jahrzehnten in Mode gekomme nen empirischen Untersuchungen, etwa wer was wie oft tut oder nicht oder um die Wiedergabe von Ansichten dieser oder jener über diese oder jene Themen. Es geht vielmehr um die geistige Stand ortbestimmung unserer Zeit, also um das, was frü her Sache der Philosophen gewesen ist. Das sieht man am deutlichsten aus dem zweiten Teil des in vier Teile gegliederten Werkes, überschrieben mit „Religion und Wissenschaft als moderne Kultur mächte". Jeder Teil ist in einzelne Kapitel geglie dert. Der zitierte Teil II trägt folgende Kapitelüber schriften: - Wahrheit und Mission - Die Glaubensgeschichte der Moderne - Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß - Was sind und was sollen die Geisteswissen schaften heute? - Emile Dürkheim oder die Geburt der Gesell schaft aus dem Geiste der Soziologie. In dem zuletzt angeführten Kapitel untersucht der Autor den Begriff der „Gesellschaft" nach sei ner Herkunft, da sich ja die Soziologie als Wissen schaft von der Gesellschaft begreift. Den Begriff „Gesellschaft" bezeichnet Tenbruck als einen jun gen Erwerb, „dessen Dramatik den Zeitgenossen nicht entging". Als Beleg hiefür zitiert er Robert von Mohl, der Juristen aus dem Studium der An fänge des Rechtsstaates bekannt ist. Nach ihm wurde das Wort Gesellschaft „zuerst von Schwär mern und ihren Schulen, dann allmählich aber auch von der Rednertribüne, in der Schenke und in den heimlichen Versammlungen Verschworener" ausgesprochen; „...es wird in entsetzlichen Stra ßenschlachten als Banner vorausgetragen." Die „Gesellschaft" und die Wissenschaft hievon spielte auf der wissenschaftlichen Seite der Re volutionäre des Jahres 1968 eine geradezu messianische Rolle; wahre Fluten soziologischer Veröf fentlichungen wälzten sich auf uns zu. Soziologie als Religionsersatz, als die Endstu fe in der Entwicklung von der religiösen über die metaphysische zur positiven Entwicklung des Menschen im Sinne von Comte? Diese wissen schaftliche Hybris liegt Tenbruck völlig fern. Im zweiten Kapitel des zweiten Teiles, in der „Glaubensgeschichte der Moderne" stellt Ten bruck die Ablösung der Religion durch die Wis senschaft und deren mittlerweile verschwundene Legitimationsfunktion dar: „Die moderne Wissenschaft hat ihren Sieges zug mit der Verheißung begonnen, die wahre Ord nung der Dinge in Natur, Religion, Politik, Gesell schaft, Moral, Kultur bloßzulegen. Sie wollte nicht nur, wie wir heute meinen, Erkenntnisse gewinnen, sondern die falschen Autoritäten entlarven und durch echte ersetzen, die der Mensch mit letzter Gewißheit aus dem rationalen Zwang freier Ver nunft anerkennen konnte. So mußte vor ihrer Ent schiedenheit alles, was bisher Gültigkeit hatte, als illegitim weichen, und sie selbst wurde in ihrem Fortschritt zur einzigen Autorität in der modernen Welt. Im Namen ihrer Versprechungen wurden die überkommenen Daseinseinrichtungen aufgelöst und neue Ordnungen ins Werk gesetzt. Im Namen

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