Emst Behler: Unendliche Perfektibilität. Europäi sche Romantik und Französische Revolution. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1989.320 Seiten. DM48,-. Das Jahr 1989 stand zunächst weithin im Zei chen des Gedenkens an den Ausbruch der Franzö sischen Revolution vor 200 Jahren, bis es gegen sein Ende überstrahlt wurde von einem Ereignis, das man unter heutigen Aspekten jenem vor 200 Jahren an Bedeutungsschwere gleichstellen kann: dem Auseinanderbrechen des östlichen Impe riums, dem Niedergang der marxistisch-leninisti schen Ideologie, Vaclav Havel hat in seiner Dankesrede anläß lich der Verleihung des Friedenspreises des Deut schen Buchhandels im Oktober 1989, für die der nunmehrige Staatspräsident der CSR keine Aus reiseerlaubnis nach Frankfurt a. M. erhalten hatte, auf den Bedeutungswandel des Wortes Sozialis mus in seinem Lande hingewiesen: Während es für Generationen Erniedrigter und Unterdrückter ein magnetisches Synonym für eine gerechtere Welt, eine utopische Hoffnung gewesen sei, habe man daraus einen ganz gewöhnlichen Gummiknüppel gemacht, „mit dem irgendwelche reich gewordene, an nichts glaubende Bürokraten allen ihren frei denkenden Mitbürgern in den Rücken schlagen, wobei sie sie ,Feinde des Sozialismus' nennen". Der aus der Geschichtsphilosophie von Karl Marx stammende Sozialismus ist einer der stärksten Aste an dem mächtigen Baum, der dem Boden uto pischen Denkens und des Strebens nach der Per fektibilität, nach Vervollkommnung des Men schen, entwachsen ist. Dieses Streben kam welt wirksam am deutlichsten in den Hoffnungen zum Ausdruck, welche die Französische Revolution nährte. Es sprang auf die europäische Romantik über; Rousseau und die Aufklärungsphilosophie der unterschiedlichsten Provenienz hatten die Aussicht auf eine entfernte Phase der Geschichte geebnet, „in welcher die Menschgattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande emporarbeitet, in welchem alle Kei me, welche die Natur in sie legte, völlig können ent wickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden". Mit diesen Schlußsätzen aus Kants „Universalgeschichte in weltbürgerlicher Ab sicht", die der Autor des im Gedenkjahr an die Französische Revolution erschienenen Buches auf dessen S. 87 zitiert, ist der optimistische Traum von der - allerdings in unendlicher Ferne liegen den - Vervollkommnungsmöglichkeit der Men schen in - freilich altertümliche - Worte gefaßt. Be wegendster Ausdruck davon ist aber wegen seiner tragischen Entstehungsgeschichte des Marquis de Condorcet „Entwurf einer historischen Darstel lung der Fortschritte des menschlichen Geistes", entstanden von Juli 1793 bis März 1794: In dieser Zeit hatte sich der Mathematiker Condorcet, „die Berechnung der Revolution" (Lamartine), vor den Jakobinern verbergen müssen, ehe er seiner Exeku tion durch Selbstmord vorkam. Condorcet teilte im „Entwurf" die bisherige Geschichte in neun Epochen ein; die neunte reichte „bis zur Entstehung der französischen Republik". In seinem Ausblick auf die zehnte Epoche findet sich seine Vision „von den künftigen Fortschritten des menschlichen Gei stes". Aber schon 1789 hatte Schiller in seiner aka demischen Antrittsrede „Was heißt und zu wel chem Ende studiert man Universal-Geschichte?" davon gesprochen, daß „unser menschliches Jahr hundert herbeizuführen, sich ohne es zu wissen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt" (ha ben). Und er schließt seine pathosvolle Rede, die auch die „sukzessiven Progresse des menschlichen Geistes" (Turgot) im Visier hat, mit dem Aufruf an die Jugend, „zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Fol gewelt wieder abgeben müssen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen und an der unver gänglichen Kette, die durch alle Menschenge schlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen". Den Gedanken der Perfektibilität, bereits um 1750 in den Schriften von Turgot und Rousseau anzutreffen (Behler, S. 13), dem die Vervollkomm nungsidee in der deutschen Aufklärung (Herder, Lessing, Kant, Schiller) entspricht, haben die frü hen Romantiker Friedrich Schlegel und Novalis, in Frankreich Madame de StaH und Benjamin Constant sowie in England William Wordsworth, Coleridge und Shelley in ihre literarischen Texte eingeführt, die auf diese Weise am Fortschritt der Ideen und des sozialen Lebens teilhaben sollen. Davon handeln die an die profunde Fundament gründung anschließenden Kapitel, die jeweils der französischen und englischen Romantik und der deutschen Frühromantik gewidmet sind (S. 113306 des äußerst anregenden Buches). Der Anfang des letzten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts läßt erstmals Frieden hoffen. Das er mutigt neuerdings dazu anzunehmen, daß die Menschen zu einer besseren, weil friedvolleren Ordnung der Staaten zueinander gelangen kön nen. Versuche aber, in Ungeduld, in einem großen
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