nachdrücklich. Sie lesen aber selber nur beschränkt und hüten sich vor der Begeg nung mit Schrifttum, das noch nicht eingeordnet ist. Wenn eine Literaturzeitschrift Texte von gültigem Rang veröffentlicht, dann ist jede weitere Frage zweitrangig. Wenn es einer Redaktion gelingt, „Übersetzungen von Urtexten" zu finden, zu erkennen, dann ist ihre Publikation berechtigt. Die Exi stenzfragen, die Überlebensfragen werden erst danach gestellt. Das Erkennen der Qualität eines literarischen Produktes ist die interessante ste Seite redaktioneller Tätigkeit. Sie ist mit viel Verantwortung verbunden. Sie erfor dert Erfahrung im Umgang mit Texten und verlangt die Aneignung angemessener Kriterien. Kritische Poesie und Identität Jeder Text, der Wirklichkeiten bezeichnet, ist neu. Jeder neue Text ist, da sich die Totalität immer in Entscheidungsprozessen fortbewegt, kritisch. Es gibt keine Wiederholung. Die „kritische Poesie" (Mallarme) zielt auf ein tiefes Verlangen, das schwer zu bezeichnen ist. Es nimmt im alltäglichen Bewußtsein so gut wie keinen Platz ein. Es bleibt unartikuliertes Bedürfnis. Da liegt ein Grund für die Schwierigkeit, dem Laien, dem Träger öffentlicher Funktionen, dem Kulturpolitiker, dem Politiker überhaupt, die Bedeutung der Literatur für die Allgemeinheit klarzumachen. In früheren Zeiten, als die Lieder noch direkt weitergegeben wurden, zum Beispiel die Arbeitslieder, und als die erzählenden Texte, z.B. die Märchen, im Alltag noch mündlich überliefert wurden, war dieses Bedürfnis vermutlich unmittelbarer vertraut und zulässig. (Es be durfte da natürlich keiner Förderung, vor allem keiner Drucklegungszuschüsse, die ja heute einen guten Teil der Literaturförderung ausmachen.) Die kritische Poesie zielt auf die Herstellung einer Ganzheit, eines Selbst im weitesten Sinn, einer Totalität. Wenn sie wirksam wird, so fördert sie die Entstehung einer Identität. Die kritische Poesie bringt ein gesundes Maß an Lockerheit und Beweglichkeit in die verfestigten Strukturen einer auf das Funktionieren der Indivi duen im Rahmen einer perfektionshungrigen, technisch-wissenschaftlichen Welt ausgerichteten Gesellschaft. Diese Literatur wendet sich an die „genauen" Gefühle. Gerade die Gefühlswelt wird im Alltag oft auf Erfolgs- und Mißerfolgsgefühle beschränkt. Rohstofflager an verschütteter Mitmenschlichkeit werden aufgefunden und angegraben. Das Selbstgefühl und das Gefühl für sich selbst, beide werden legi tim. Das Selbst entwickelt sich in Richtung Ganzheit. Es ist also als ein Schritt zu einem erweiterten, reifen Welterleben anzusehen, wenn sich jemand mit einer Region identifiziert. Das Empfinden einer solchen regio nalen Identität muß aber abgegrenzt werden von der mißbräuchlichen Verwendung des Begriffes „Heimat" zum Zweck der Verschleierung von Zielen, die mit dieser gar nichts zu tun haben. Etwas anderes ist, daß sich heute Realität immer stärker entzieht. Es entzieht sich persönliche Realität, je mehr wir sie festmachen können durch Filme, Videoauf164
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