OÖ. Heimatblätter 1988, 42. Jahrgang, Heft 3

Was ist Literatur? Wir gehen hier von einem Literaturbegriff aus, der die Literatur allen gesell schaftlichen und sonstigen Erscheinungen vorordnet, also auch dem Regionalen. Literatur hat dies alles zum Gegenstand der Behandlung. Sie stellt Wahrheit her. Sie beschäftigt sich mit der Realität als „wirklicher Wirklichkeit". Sie ist der wissenschaft lichen Annäherung überlegen. Literatur ist, wenn sie wahrgenommen wird, Einfluß; sie hat jedoch keinen Herrschaftsanspruch, sie ist „ohnmächtig" überzeugend. Und selbst ihr Anspruch auf Wirkung im gesellschaftlich-sozialen Sinn, im Sinne einer engagierten Literatur, ist, selbst wenn er beim Autor vorhanden ist, fragwürdig. Lite ratur arbeitet mit der Leistungsfähigkeit der Sprache. Es sei hier hinzugefügt, daß neben der Literatur auch andere künstlerische Verfahren wie Malerei, Grafik, Plastik, Fotografie, Film, Musik für gleich vermögend zu halten sind, vergleichbar in Wirkungsweise und Wirksamkeit. Es sind dies alles „Sprachen" in einem weiteren ^inn, die ebenfalls der rationalen Verarbeitung in ihrem Ansatz vorgeordnet sind, ja, die, wenn sie ihr Optimum erfüllen, diesen auch überlegen sind. Eine Meinung, der das Konzept der Kulturzeitschrift „Landstrich" gerecht zu werden sucht. Günter Eich sagte in einer Rede über „Literatur und Wirklichkeit", gehalten in Vezelay, 1956, unter anderem: Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel Ich muß sie erst herstellen. Ich hin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit. („Akzente", 3. Jahr gang, 313) Welche Fügung könnte die Nöte und die Herausforderungen des Literaten genauer bezeichnen als dies „Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben"? Der Schreibende erstellt also eine Übersetzung eines Urtextes, den er erst erraten muß; den er dann, wenn er ihn erraten hat, nicht einfach niederschreiben kann, weil er ihn zuvor noch übersetzen muß, damit er „sprach-bar", damit er sprechbar und damit er lesbar wird. Wenn man die Formulierung vom vorsprachlichen Urtext akzeptieren kann, so folgt daraus sachgemäß, daß jede „Übersetzung" eines Autors in seine Sprache etwas noch nie Dagewesenes sein muß. Urtexte existieren eben nur einmal. Nach dem, was vorhin über Region gesagt wurde, ist es naheliegend anzu nehmen, daß solche Urtexte auch durch regionale Gegebenheiten bestimmt sind. Der in seiner Region beheimatete Autor wird mit seinem Sensorium als nächstes auf Sprache als linguistischen Rohstoff und vorstrukturierten Inhalt - will sagen: Urtext - in seiner Umgebung stoßen. Die Meinung, die hier vertreten wird, läßt sich kurz so fassen: Urtexte sind ein regionales Substrat. Und: Jede literarische Produktion bringt also etwas Neues, eine „erstmalige" Übersetzung. 162

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