Da werden halbe Kinder von der Schulbank weg in die letzten Kesselschlachten gejagt, zu einem Zeit punkt, wo alles schon zu Ende war, wie es Hugo Schanovsky in seiner Kurzprosa sachlich wiederge geben hat. Da klagen Mütter um den verschollenen Sohn wie Erna Blaas: Was ist denn geblieben von all dem Geliebten so vieler Knaben- und Mutterjahre? Nicht einmal ein Grab. Keine Stätte! Wenn alles leer ist - wo soll ich hingehen, wo soll ich weinen? Linus Kefer kniet erschüttert beim gefallenen Gegner, der Schuldlose beim Schuldlosen, beide von der Macht der Schuldigen gnadenlos ins Unrecht ge zwungen. In Umkehrungeines lateinischen Dictums müßte der Dichter für den Menschen dieser Zeit sa gen: Nihil inhumani mihi alienum puto. So läßt etwa Käthe Recheis (1928) in dem Roman „Das Schatten netz" ein junges Mädchen erschüttert in die Elends welt von KZ-Häftlingen blicken. Franz Turniers „Heimfahrt" (1950) zeigt kaleidoskopartig die Kata strophensituation im deutschen Raum während der Monate nach Kriegsschluß: Ein Soldat schlägt sich nach dem Zusammenbruch der Front durch Deutschland durch, von der Nordwestecke bis nach Österreich, und sieht auf dieser leidvollen Odyssee dem Verhalten der Menschen tiefer auf den Grund als in beruhigten Zeiten. Natürlich werden auch die Nachkriegsjahre mit ihren Problemen und Schicksalen Gegenstand dichterischer Darstellung, etwa in Maximilian Narbeshubers Kleinstadtroman „Weg ins Licht" (1949). Die Dichtung Oberösterreichs als ein integrie render Bestandteil der Dichtung Gesamtösterreichs zeigt wie diese ein adäquates Bild, das sich knapp etwa so kennzeichnen ließe: Gefühl der Kontinuität, Traditionsbewußtsein; Dienst an der Sprache, Nei gung zum Witz, zum Satirischen, zur aphoristischen Formung; Befruchtung vom Mundartlichen her (nicht bloß als Betonung des Regionalen, sondern auch als Befassung und Auseinandersetzung mit Sprachlichem und Sprachkritischem). Aber auch das Abgründige wird sichtbar, das Doppelbödige hinter dem scheinbar Idyllischen. In Deutschland war manches anders. Da wird zu nächst das Jahr 1945 als einschneidende Zäsur emp funden. Der deutsche Literarhistoriker Walter Jens spricht von diesem Jahr als dem Jahr Null in der mo dernen Literatur, von einer „tabula-rasa-Situation", in der die Schriftsteller wortwörtlich auf sich selbst gestellt waren. „Es gab überhaupt nichts Positives mehr, von dem sie sich absetzen, keine Werte, die man wegwerfen konnte". Dabei wird die künstleri sche Bruchlinie zugleich zu einer politischen: Kon servative und Revolutionäre befehden sich im künst lerischen und politischen Raum. Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Koeppen, Günter Grass und andere (es gibt natürlich auch Mitläufer in Osterreich) sehen die konservativen Kräfte als reak tionär an, der geschichtlich Gewendete wird als rückschrittlich betrachtet; wer sich zur Innerlichkeit bekennt, gilt als Epigone, als bloßer Nachbeter des Gewesenen, ohne künstlerische Potenz (Autoren wie z. B. Hermann Hesse, Werner Bergengruen, Hans Carossa sind von solcher Minderbewertung nicht ausgeschlossen). Auf solche Weise aber werden die sogenannten „Fortschrittlichen" zu Geschichtsfeinden, die Ver gangenheit, meinen sie, habe ihnen nichts zu geben und solle darum versunken und vergessen bleiben. Sie übersehen nur, daß der Geschichtsfeindliche die Augen vor einem wesentlichen Aspekt der Wirklich keit verschließt. Wem die Vergangenheit verborgen bleibt, der hat nicht die ganze Wirklichkeit. Vergan genheit, Gegenwart und Zukunft sind ein einziger Strom. Perfektum ist im Lateinischen das Abge schlossene, das Vollendete - und dieses Perfektums bedarf der Mensch, besonders aber der Künstler, sonst ist er nicht perfekt, geschlossen und vollendet. Die Vergangenheit fällt uns freilich nicht als unge schmälertes und bequemes Erbe in den Schoß, sie muß erworben werden, wenn wir sie besitzen wollen, um ihren Wert einzusetzen für die Gegenwart und Zukunft. Darum ist die Besinnung auf die Vergan genheit beim Künstler nicht Flucht aus der Wirklich keit, nicht Verstecken im Idyllischen, nicht Pathos des Verzichts, sondern Selbstbewahrung und Selbst sicherung, Griff zu den geistigen Reserven und seeli schen Rücklagen, um den harten Forderungen des Tages gewachsen zu sein. Herbert Eisenreich hat sol che Einsichten in folgenden Worten zusammenge faßt: Nichts auf der Welt ist neu, wenn auch manches so aus sieht. Die Atomphysik unsres Jahrhunderts geht auf das Interesse der Griechen zurück, die kleinsten Bausteine des Kosmos kennenzulernen, und die Raketenteams in Rußland und Amerika verwirklichen nur den alten Traum des Ikarus. Im modernsten Gedicht, ja selbst im modern sten Roman rauscht unterirdisch noch der antike Vers, und im Neugeborenen pulst das Blut und atmet der Geist der Generationen seit Adam und Eva. Und nichts auf der Welt wirkt so armselig, so innerlich unwahr, so zukunfts los, wie alles, was sich rühmt, keine Vergangenheit zu ha ben. „Jedes echte Kunstwerk", sagt Hermann Broch, „ist zugleich neu und traditionsgebunden". Für diese Erkenntnis ist Oberösterreichs Dichtung ein exemplum sui generis. Sehen wir uns nur einmal die litera rischen Zeitschriften dieses Landes an. Von der „Stilleren Heimat" wurde schon gesprochen. Aber
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