OÖ. Heimatblätter 1981, 35. Jahrgang, Heft 1/2

Politische Bildung, Alltag und Alltagsbewußtsein Ein essayistischer Versuch - ä fonds perdu Von Kurt Gerhard Fischer Ist dies rücht merkwürdig: wir leben, sei es in Österreich, sei es in der Bundesrepublik Deutsch land, sei es womöglich auch in der DDR, in Län dern, deren Menschen im Vergleich zu anderen. Anderswohnenden ,,in poHtics" durchschnitt lich gut informiert sind, die an Politik Interesse zeigen und ihre Beteiligungsrechte, vor allem als Wähler, in beachtlichem Umfang wahrnehmen! Dennoch ist und bleibt die Forderung nach Politi scher Bildung, gar nach mehr und intensiverer Politischer Bildung in den Schulen wie in der au ßerschulischen Bildungsarbeit - in den Jugend gruppen und -verbänden, in der Volksbildung in allen ihren Erscheinungsformen - aktuell. Und der ,,Streit um die politische Bildung" will kein Ende nehmen: die einen rechnen den ande ren vor, daß sie mit,,linken" Theorien den Boden bereitet haben, auf dem sich ein paar HandvoU Terroristen ausbreiten konnten; die anderen wei sen den einen nach, daß sie mit ihren ,,rechten" Theorien Undemokraten heranzüchten und zu Wegbereitern des Faschismus, eines neuen Na zismus werden; und man verweist auf das minimalistische Reservoir neofaschistischer Jugend licher. Über die Millionen ,,braver" Staatsbürger spricht man nicht. Sie werden auch keiner Rich tung der Theorie Politischer Bildung zugute gehalten. Die Publikationswelle in Sachen Politischer Bil dung schließlich will kein Ende nehmen, mag da bei allerdings auch zumal in den letzten Jahren Quantität vor Qualität gehen, vielleicht in der stillen hegelianischen Hoffnung des dialekti schen Umschlags der einen in die andere: die Theoretiker-Bücher werden praller, aber mit nichten inhaltsreicher. Wer etwas auf sich hält, versucht sich als Schulbuchmacher, und sei es auch vorwiegend mit dem reichhaltigen Instru mentarium des Plagiators: Texte, selbst Titulatu ren - von Kapiteln für Kapitel - werden gestiebitzt oder nur oberflächlich variiert geklaut; Kari katuren werden ,,übernommen", Graphiken ko piert. Zwei Fragen stellen sich angesichts des wi dersprüchlich erscheinenden Bildes: Wie kann man politische Informiertheit, politisches Inter esse, politische Partizipationsbereitschaft in un seren Ländern erklären? Und: Ist an der Forde rung nach ,,mehr" Politischer Bildung festzuhal ten, oder handelt es sich bei ihr um engstirniges Fachdenken, um den Egoismus einer kleinen Gruppe professioneller Theoretiker, Organisato ren und Praktiker dieses Teilbereichs allgemeiner Menschenbildung? Lassen wir die erste Frage vorläufig aus dem Spiel, so kann man eine den Politik-Bildungs-Be darf konstituierende These formulieren: Zwar stellen wir Informiertheit, Interesse, Partizipa tionsbereitschaft fest, fraglich ist jedoch, ob dies alles auf ,,vernünftigem Reden" beruht, will sa gen auf solchen Prädikationen von Alltagsspra che, die InterSubjektivität gewährleisten können. Wenn es darum geht, so läßt sich zur Erklärung auf die erste Frage zurückgreifen, und am alltäg lichen gesellschaftlich-politischen Verhalten auch und zumal der Politikmacher läßt sich zei gen, daß der Bildungsbedarf keine qualitas occulta in den Köpfen der Theoretiker, Organisato ren und Praktiker Politischer Bildung von Berufs wegen ist, sondern eine ,,soziale Frage" im be sten Wortsinn. Man kann sich einen Zugang zum aufgeworfe nen Problem verschaffen, indem man zu solchem veröffentlichten Material greift, das etwas über ,,politisches Bewußtsein" und mithin auch über ,,politische Kultur" aussagt: Als Emnid die Einstellung der Deutschen zur Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland erforschte, stellte das Institut große Mehrheiten für Ansichten fest, die einander zu widerspre chen scheinen. 72 von 100 Bundesbürgern erklär ten sich für „sehr zufrieden" oder ,,zufrieden", wenn sie sich ,,ganz allgemein" zum politischen System äußern sollten. Aber Mehrheiten zwischen 62 und 66 Prozent stimmten auch den Statements zu: Die Politiker kümmern sich nicht viel darum, was der kleine Mann denkt und sagt. In der Politik kann man sich nicht zurechtfinden, weil das meiste hinter den Kulissen passiert. Den Parteien geht es eigentlich nur um die Wähler stimmen, aber nicht darum, was die Leute denken. Die Mehrheit, die ein noch schärferes Urteil bil ligte, ist zwar nicht ganz so groß, liegt aber im merhin bei 55 Prozent:

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