OÖ. Heimatblätter 1976, 30. Jahrgang, Heft 3/4

gen älterer Personen im nachhinein auf Band aufnehmen konnten. Bei den meisten Einsendun gen fehlte jedweder Hinweis auf die Funktion, bei wenigen fanden wir knappe Angaben, wie z. B. „Das hat mir die Großmutter gesagt" oder „Das weiß ich vom Kindergarten" oder „Das hat der Großvater vorgesungen", nirgends einen Hinweis darauf, daß Wiegenlieder tatsächlich noch zum Einschläfern am Bettchen des Kindes gesungen werden. Viele Kinder, die nicht mehr gewiegt und ein gesungen werden, helfen sich selbst, wiegen sich selbst ein und erfinden sich dazu ein einfaches Wiegenlied. Ich hatte Gelegenheit, mehrere Kin der im Alter von zwei bis vier Jahren zu beob achten, die nur einschlafen konnten oder wollten, wenn sie vorher den Kopf hin und her drehten und dazu eine lallende Melodie sangen. Sie voll zogen also das Einwiegen durch Singen und Kopfwackeln^". Mit Überraschung konnte ich feststellen, daß alle Kinder dazu die gleiche Melodie und den gleichen Text verwendeten, obwohl sie sie vorher nie gehört und obwohl sie miteinander keinerlei Kontakt hatten: Rin-gel, ran-gel, Roysen-kranz... Rin-gei;r/n-ger, Rei — her... Sdiünemann}^ erwähnt, daß auch primitive Volksstämme bei ihren Gesängen das gleiche Motiv verwenden und ein stabiles Kleinterz intervall von einem Hochton umspielen lassen. Der Rhythmus ist gleichschwebig, der Takt ge rade. Riedl und Klier^^ führen genau dreimal so viel Wiegenlieder mit geradem Takt als mit ungeradem an. Der ungerade Takt bei Kinderliedern dürfte eine Besonderheit des alpenländischen und süddeut schen Raumes sein und mit den im Dreiviertel oder Dreiachteltakt schon im Mittelalter hier nachweisbaren Ländlern in Zusammenhang ste hen. Die folgende schaukelnde Weise ist ein Bei spiel dafür; Hub" sehe, hei "hei. Wu-zi is faul. IVi-gi, wl-gl, wa-ga ... Diese beiden Wörter werden so lange wiederholt, bis das Kind schläft. Es mag vielleicht ein Zufall sein, daß das im 13. Jahrhundert von Gotfrid von Nifen aufgezeichnete Wiegenlied ebenfalls mit den Worten „Wigen, wagen" beginnt. Zwar konnte Kluge^^ das Wort „wiegen" auf das alt hochdeutsche „wiga" oder „waga" zurückführen, aber dennoch liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um zwei Urworte handelt, die auch heute noch von vielen Kindern, auch solchen, die noch nie eine Wiege gesehen haben und gar nicht wissen, was „wiegen" bedeutet, immer wieder neu geschaffen werden. Die Melodie besteht aus drei Tönen, die sich fortwährend wiederholen. Kube^^ weist darauf hin, daß viele Kinderlieder aus der gleichen dreitönigen Motivreihe bestehen, und daß diese Kinderliedformel verschiedentlich als „Urmelodie" bezeichnet wird: Sollt a-ber schla-fen und hat net da-weil, Stroheim Sigharting (Ruttmanny^ Wackeln und Wiegen sind ethymologisch auf die gleiche indogermanische Wurzel „uegh" zurückzufüh ren, die soviel bedeutet wie sich bewegen, sdiwingen, fahren, ziehen. " Friedrich Kluge, Ethymologisches Wörterbuch der deut schen Sprache. 1863, 20. Aufl.: 1967, bearbeitet von W. Mitzka. Gerhard Kube, Kind und Musik. München 1958, S. 63. G. Schünemann, Musikerziehung, 1,1930. " Riedl und Klier, a. a. O. Bei Liedern, die nur aus einem oder zwei Orten gemel det wurden, geben wir dies an. Hier ist auch der

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2