OÖ. Heimatblätter 1976, 30. Jahrgang, Heft 3/4

in welcher der Künstler auszudrücken sucht, was in ihm vorgeht und nicht, was um ihn herum geschieht. Diese Einstellung äußert sich beson ders konsequent in der Tier- und „dynamischen" Flechtbandornamentik. Wir stehen in der Wie dergabe der Wirklichkeit vor Ausgeburten linea rer Phantasie! Diese gesteigerte Bewegtheit führt zu unvergleichlicher Ausdruckswucht. Von hier aus gesehen, verbietet sich jeder Vergleich mit der Pflanzenornamentik, die am Tassilokelch dar gestellt ist, und dem Wesen dieser nordischen Tierornamentik! So kommt es zu keinem inter nationalen Lebensstil, sondern er bleibt dem da mals germanisch beherrschten Europa vorbehal ten. Diese „Hunde", die mit Pfoten (nur zwei füßig), Schwanz und Zunge ein Geflecht bilden, sind nicht zur Inselkunst gehörig, ihre eigenwil lige und reiche Abwandlung der Zeichnung und Linienführung ist typisch germanisch. Sie kommt aus der kraftvollen, dynamischen Unordnung, die in unseren Riemenzungen der hohen Lösung im Tassilokelch vorausgeht. Es ist ein Spiel mit Naturerinnerungen innerhalb dieser abstrakten Linienkunst ohne jede der Naturbeobachtung eigene Absicht zur Deutlichkeit. Nur das geübte Auge sieht über das Flechtwerk hinaus Reste von Tierbildern. (Paolo Venzone weist auf den däni schen Krug aus Fejo). Aufregender wird die Lage, wenn wir überden ken, daß auch die „nordische Tierkunst" schon ihre Vorläufer im Osten hat. Käme der Kelch aus dem Nordenglischen, wäre es dann die „zweite" Heimat, in der unser Formduktus wurzelt. Erste bildliche Darstellung des überweltlichen Bereiches mit weit geöffneten Augen, Linienfüh rung von Brauen, Nase und Mund, geschaffen aus dem vitalen Urgesunden wie aus der starken inneren Gläubigkeit dieses Donauvolkes, das in einer glücklichen Pause endlich Zeit hat, in sich hineinzuhorchen, so steigt der Kelch zu einem Wunder auf. Der Kelch ist in seinen einzelnen Teilen nicht vergleichlos, in der Gesamtdarstel lung jedoch nicht nur in seiner künstlerischen wie technischen Leistung von einsamer Vollen dung. Die Cesamtaufnahme (siehe Farbbild) mit dem Blick auf den Segnenden gibt uns noch einmal Gelegenheit, alles zusammenzufassen. Der 25,5 cm hohe Kelch bringt die früheste Christus darstellung im südgermanischen Raum als Majestas Domini. Die Darstellung des Erlösers auf einem dänischen Runenstein in Jellinge folgt erst 935 n. Chr. Der Goldglanz im Bilde übertreibt, führt jedoch in die ursprüngliche Wirkung zu rück. Über das „Leistenwerk", das die Bilder umgibt, wurde schon gesagt, daß es mit nordi scher Dynamik nichts zu tun hat. Alle Zwickel füllungen hingegen sind germanisches Flecht werk. Die pflanzlichen Muster in Lebensbaum form sind auf strenger Symmetrie aufgebaut und weisen so in das „Sassanidische". Diese „Wein stock-Muster" sind ein unverwüstliches Symbol für den Opfertod Christi. Nirgends findet eine Verflechtung statt (siehe Textbild). Wie heute der Entstehungsort des Kelches mit Salzburg festzustehen scheint, so werden sich auch die Stimmen derer mehren, die die Pflanzenmotive aus dem nordischen „Flechtbereich" herausstel len und mit dem Mittelmeerraum, mit dem sassanidischen, mit dem Persischen oder auch mit dem antiken Formbereich verbinden werden. Das Zirkelschlagmuster unter dem Ring muß als verlorener, unverbindbarer Fremdkörper auffal len. Wenn überhaupt, kann es nur von den Ost goten in die Kunstsprache aufgenommen worden sein. Einige Steine weisen noch auf die ursprüng liche Ausschmückung hin. Dies alles mag uns für die Kunst des Baiernstammes nicht überraschen. Freilich fällt es schwer, den Namen des germani schen Goldschmiedes aus dem ödenburger Stück auch für Kremsmünster heranzuziehen. Der Kreuznimbus über dem Haupte erhöht die erha bene Ruhe des Erlösers. 1200 Jahre durch gute und schlechte Tage hütete Kremsmünster den Kelch als vornehmsten Schatz, als unvergleichliches Dokument seiner Herkunft und seines ehrwürdigen Alters. Mit ihm treten wir über die Schwelle des Mythos vor den zum erstenmal segnenden Christus in unse rer Heimat. Dafür dankt das Land. LITERATURVERZEICHNIS; (1) Roth Hans: Reallexikon der germanischen Alter tumskunde, Bd. I, 5. Lieferung. Reitinger Josef: Oberösterreich in ur- und früh geschichtlicher Zeit, Linz 1960. Riezler Siegmund: Geschichte Bayerns, München 1927.

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