Durch die alte Kaiserzeit besitzt der germanische Hochadel eine germanische Kultur. Dazu kommt das Koptische in die Kunst. Die Germanen brin gen die Spannkraft, Lebensfülle, Eleganz und eine besonders starke Phantasiefülle, die sie anti klassisch macht, eine nervöse Unruhe von ganz eigenartiger Wirkung bestimmt sie. Von Zier lichkeit und Eleganz reicht das ungeheure Feld bis zu „innengewandter Mystik" (Homquist). Die Rebustiere in ihrer Lebensfülle mit ihrer charakteristischen Körperverdrehung fast stets unsymmetrisch bilden die Tierornamentik. Ein Wirrwarr der Tiere in bizarrer Pracht — in fünf Stilvarianten — sind in der Welt einmalig geblie ben. Hier im Kelch auch noch die Entwicklung aus christlich-keltischem Stil in der Figurendar stellung. In der Ornamentik surrealistische orna mentale Flächenbetonung, der keltischen Kunst nicht unverwandt, doch völlig abgesetzt von den Skythen, die realistisch, wenn auch stilisierend die Plastik betonen. In der Tierornamentik, in den Randtieren mit ihrer sprudelnden Phantasie, mit dem unversieglichen Ideenreichtum, mit Variationen bis zur ge brochenen Harmonie weder mit dem keltischen Realismus der Trompetenmeister, der Spiral motive, der Fischblasen, die in unsierer Späten Gotik so stilherrschend wird, vergleichbar. Ohne Korallenmuster, doch mit vor Unheil schützen den Glasperlen. Trotzdem ist die Tierornamentik in Nordengland auch ihrerseits aus Angelsächsi schem, Keltisch-Irischem wie Römischem ge mischt. Aus diesen knappen Andeutungen wird ersichtlich, wie stark die Verflechtung der abend ländischen Kunst war und wie verständlich es ist, daß man für das frühe Abendland auf viele Fragen noch keine entscheidende Antwort zu geben vermag. Daß es jedoch nicht die englische Komponente allein ist, die den Tassilokelch be stimmt, bleibt außer Zweifel. Das synkrethische Gepräge der Wikingerzeit nimmt hier ihren Anfang. Zu den Abbildungen: Die Klischees für das Farbbild und die beiden Kunst drucktafeln stammen nach Aufnahmen von Dr. E. Widder aus dem Buch „Kremsmünster — 1200 Jahre Benedik tinerstift", erschienen 1976 im Oö. Landesverlag Linz. Das Marienbild auf der niellierten Silberplatte am Fußteil des Kelches ist das älteste nördlich der Alpen. Die Buchstaben M und T bedeuten Maria und Theotokos. Maria weist mit der über dimensionierten Hand auf die Randinschrift: (LIVTPI)RC VIRG(A). H. Arbmann (36, Seite 123) sieht in diesen ovalen Feldern, die einander tan gieren, Mottos aus orientalischer Kunst, die wahrscheinlich auf Gewebe zurückgehen. Die Verbindung mit Byzanz wird möglich, wenn wir uns erinnern, daß wir in der Zeit des byzantini schen Bildersturmes stehen. Die Datierung um 764 — 769 (?) für den Hochzeitskelch macht diese Annahme möglich. Die stolze Haltung der langobardischen Königstochter „des königlichen Rei ses", ihre bewußte Stellung gegen die karolingisch-fränkische Verwandtschaft, die sie auf Grund der älteren Herrschaft als Emporkömm ling empfindet, wird daraus deutlich. Maria wird zu einem Vorbild der Meditation. Abbildung 2 zeigt den Evangelisten Lukas mit seinem Symbol, dem Stier. Der Kopf des Evan gelisten ist in derselben Linienführung wie der Mariens gebaut, doch welch ein Unterschied! Der Stier ist eng an den Evangelisten geschmiegt. Die Gruppe ist nicht leicht zu lesen. In der Randleiste wird zwischen zwei symmetrisch aufgebauten Le bensräumen in einem Halbkreis eines der Tiere sichtbar, die man als „Hunde" zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Der Kopf mit heraushängender Zunge ist hinaufgewölbt im linken Teil zu sehen. Ob diese Tierfigur oder die größeren in den Zwickeln der Kuppa, sie stehen alle unter dem selben „Gesetz der Verflechtung". Der Kelch ver bindet so Ost und Nord; früher hat man WestSüd vorgezogen. Die Awaren waren die Ver mittler, ohne selbst die Form in ihre Kunst auf genommen zu haben. Mit ihrem Tierstil II sind sie als Vorläufer des Tassilokelches und jener Formsprache, die bei ihm als germanisch gilt, an zusprechen. Das ist nicht vom Süden aufgenom mene Oberflächenverzierung, der Tierstil ist viel mehr die Verkörperung des lebendigen Mythos. In der Bronzezeit war es vorwiegend die Spirale, nun sind die Drachen (hier auch Hunde genannt) an ihre Stelle getreten. Das Flechtwerk der Bild umrahmungen ist hingegen in einer ruhigen (un germanischen) Form durchflochten. Schon 1922 hat W. Worringer (25) erkannt, daß die germanische Kunst in dem „Multiplikations charakter" eine nach innen gewandte Kunst ist.
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