Jahrhundertende" (1900): „Die Stärke des naturalistischen Dichters liegt in der Kraft, mit der er Sinneseindrücke aufnehmen und verar beiten kann. Solche Sinneseindrücke aber kön nen aus der Vergangenheit doch nur schwer oder gar nicht zu unmittelbarer Empfängnis gelangen. [. . .] Eine naturalistische Geschichtstragödie ist ein Unding^®." Eine Parodie von Rudolf Presber nimmt die Handlungsarmut des Dramas aufs Korn und läßt Florian Geyer durch alle vier Akte hindurch auf einem Stuhle sitzen und Botschaf ten durch den Briefträger entgegennehmen. Im zweiten Akt läßt der Parodist den „Helden" sagen: „Ich kann schon daheim bleiben. Wo was gehandelt wird, braucht der Geyer nit drunter zu sein. Er kriegt's schon ausgericht^^." Im dritten Akt tritt wieder der Briefträger auf: „Gut, daß ich dich antreff, Florian." Darauf Florian Geyer: „Mich triffst immer hier. Ich rühr' mich nicht. Ich sitz' bloß gepanzert auf mein Hinteren und red'^®." Presber hat in seiner Parodie auch versucht, die sprachlichen Eigenheiten des Dramas anzudeu ten. Hauptmann hat sich ja bemüht, aus Urkun den und Chroniken, aus dem Lutherdeutsch, aus Hans Sachs, Thomas Murner und manchen anderen Tonfall und Ausdrucksweise des sech zehnten Jahrhunderts in seine Bühnensprache zu übernehmen. Daher die Derbheit und kraft genialische Unbekümmertheit vieler Stellen. Das Negative der früher angeführten Kritiken weicht aber bald einer gerechteren Beurteilung. Schon Alfred Kerr hebt hervor, daß diese Tra gödie „einen großen Menschheitsakt" und „ein großes Zeitbild"^® darstelle. Allmählich zeigt sich vertieftes Verständnis, auch für die Wieder gabe auf der Bühne, bedeutende Schauspieler erproben ihre Kunst an der zur Darstellung reizenden Hauptgestalt, deren vieldeutiges Profil sich wirkungsvoll aus dem Halbdunkel einer versunkenen Epoche hebt. Eine tirolische Phase des Bauernkrieges bringt Franz Kranewitter (1860—1938) in seiner fünfaktigen Tragödie „Michel Caißmayr" (1899) auf die Bühne. Gaißmayr, der Sohn eines Sterzinger Bergknappen, Schreiber des Bischofs von Brixen und letztlich Zolleinnehmer in Klausen, hatte Erfahrung mit Menschen verschiedener Stände und daher anfangs auch ansehnliche Erfolge. Durch Verhandlungen mit dem Landesfürsten, Erzherzog Ferdinand, erreichte er im Juni 1525 die Genehmigung einer Landesordnung, die den Bauern beträchtliche Vorteile brachte. Doch die Freude des Bauernparlaments währte nicht lange. Als im übrigen Deutschland, in Schwaben, Fran ken und Thüringen, die Niederlage der Bauern schaft besiegelt war, scheiterte auch Gaißmayrs verheißungsvoll begonnenes Unternehmen. Er mußte außer Landes, von wo er vergeblich nach Wiedererreichung seiner Ziele strebte, bis ihn 1532 ein spanischer Söldner in Italien ermordete. Kranewitter zeigt in dem personenreichen Stück Episoden aus den Schicksalen der Bauern, die vor allem unter der Willkür des Spaniers Gabriel Salamanca zu leiden hatten, der als Kanzler des Landesfürsten die Bevölkerung ausbeutete. Grausamkeiten der Herrenschicht, personifiziert im Grafen von Milland, reizen die Geknechteten zu Aufruhr und Rache. Gaißmayr selbst ist ähnlich wie Gerhart Hauptmanns Florian Geyer ein im wesentlichen passiver Held, er agiert mehr im Hintergrund und ist nur dem Namen nach die Hauptgestalt. Erst als er erfährt, daß sein Bruder in Innsbruck grausam hingerichtet wor den ist, schwört er Rache und gelobt sich, nun mehr die angebotene Hilfe der Venetianer gegen den eigenen Landesfürsten in Anspruch zu nehmen. Im breiten Spektrum des Geschehens fallen in Diskussionen die Namen bekannter historischer Persönlichkeiten der Zeit wie Luther, Thomas Münzer und Carlstadt. Wieder geht die Revolution der Bauern durch die Uneinigkeit in den eigenen Reihen zugrunde. Im fünften Auf zug läßt der Dichter den Millander Bauer Schnagerer das Fazit der Tragödie aussprechen: „Sie hab'n uns nit b'siegt, selbst hab'n wir uns b'siegt und an's Messer g'liefert, weil wir, statt Max Lorenz: Die Literatur am Jahrhundertende, Stutt gart 1900, S. 23. Rudolf Presber: Florian Geyer. Neue und wesentlich vereinfachte Bearbeitung für kleinere, mittlere und sparsame Bühnen. In: Das Eichhorn und andere Sati ren, Leipzig o. J., Reclams Universalbibliothek Nr. 4715, S. 25. Ebenda, S. 26. Alfred Kerr: Das neue Drama, Berlin 1909, S. 39.
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