OÖ. Heimatblätter 1975, 29. Jahrgang, Heft 3/4

Charakterbilder gibt nicht diese Zeit der Auf lösung der Feudalverbände in den regierenden Bettlerkönigen, brotlosen Landsknechten und Abenteurern aller Art'^." Lassalle spricht seine Anschauung vom Wesen seiner historischen Tra gödie in einem am 4. Februar 1859 geschriebenen Vorwort zu seinem Drama aus: „Was ich da gegen seit lange für die höchste Aufgabe der historischen Tragödie, und somit der Tragödie überhaupt, halte, ist, die großen kultur-historischen Prozesse der Zeiten und Völker, zumal des eigenen, zum eigentlichen Subjekte der Tra gödie, zur dramatisch zu gestaltenden Seele der selben zu machen, die großen Kulturgedanken solcher Wendeepochen und ihren ringenden Kampf zu dem eigentlichen zu dramatisierenden Gegenstand zu nehmen. So daß es sich in einer solchen Tragödie nicht mehr um die Indiyiduen als solche handelt, die vielmehr nur die Träger und Verkörperungen dieser tief-innersten kämpfenden Gegensätze des allgemeinen Geistes sind, sondern um jene größesten und gewaltig sten Geschicke der Nationen — Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten allge meinen Geistes entscheiden und von den drama tischen Personen mit der verzehrenden Leiden schaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden^®." Dennoch erschien Lassalles Kritikern die Gestalt Sickingens (1481—1523), des ursprünglichen An hängers Karls V., späteren Hauptmanns der schwäbischen und rheinischen Ritterschaft und Verbündeten der Bauern, als ein mehr in die individuelle als in die soziale Tragik der Zeit Verwickelter, der ein „reaktionäres Klassen interesse"'® vertrat und letztlich selbst nach der Kaiserkrone strebte, ein Revolutionär von oben, der die Interessen der unteren Stände verriet. So mag von Lassalles historischer Tragödie gel ten, was Fritz Martini folgendermaßen formu liert hat: „Die geschichtliche Symptomatik dieses Dramas lag darin, daß Lassalle ihm durch die Tragödie der gescheiterten Revolution, die Sickingen verschuldete, weil er nicht weit genug ging, zwischen Rittertum und bäuerlichem Prole tariat unklar schwankte, einen objektiven, die politische Zeit repräsentierenden Gehalt zu geben versucht hat. Aber er blieb bei einer unsicheren Mischung von idealistisch-moralischer Pathetik und linksdemokratischer Tendenz, von SchillerStil und jungdeutschem Aktualismus, von detaillistischer Erzählbreite und abstrakter Er örterung, von Geschichtspragmatismus und sentenziöser Predigt'^." Der Naturalismus, der sich grundsätzlich von der Darstellung historischer Stoffe distanzierte, hat durch seinen bedeutendsten Exponenten, Gerhart Hauptmann (1862—1946), dennoch den Versuch unternommen, ein groß angelegtes geschicht liches Drama zu entwerfen: „Florian Geyer''. Schon 1894 beginnt der Dichter nach einer Stu dienfahrt durch Franken, wobei er unter anderem Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber, Würzburg und Schweinfurt besucht, die ersten Arbeiten an der Tragödie, die 1895 beendet und am 4. Jänner 1896 im Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wird. Hauptmann stützte sich bei seinen geschicht lichen Studien hauptsächlich auf das Werk von Wilhelm Zimmermann: „Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges" (Stuttgart 1843, Neu ausgabe 1890), in dem der fränkische Ritter Florian Geyer zum Teil mit historisch nicht nach weisbaren Zügen versehen wird, was aber der dichterischen Ausgestaltung nicht unwillkommen erschien, weil dadurch der im wesentlichen pas sive Held ein eigenwilligeres Profil erhalten konnte. In Wahrheit war dieser weniger kämp ferische Bauernführer als Ratgeber und Unter händler der Bauernschaft gegenüber den Für sten, Städten und Rittern. Die Diskrepanz zwi schen dieser Persönlichkeit und der Massenbewe gung, deren sozialen Tendenzen der Ritter uneigennützig dienen will, zeigt sich schon im Titel des Dramas: „Florian Geyer. Die Tragödie des Bauernkrieges." Es treten nahezu achtzig Personen aus fast allen Ständen jener kampf reichen Epoche des sechzehnten Jahrhunderts auf: Bischof und Domherren, Schultheiß und " Ebenda, S. 92. Ferdinand Lassalle: Franz von Sickingen. Vorwort. Reclams U. B., a. a. O., S. 13 f. " K. Marx-V. Engels: Über Literatur, a. a. O., S. 84. " Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Rea lismus 1848—1898, 2. A. Stuttgart 1964, S. 211.

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