Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine Oper „Götz von Berlichingen" (1902) von Karl Goldmark zu vermerken. Dann stellt der franzö sische Dichterphilosoph Jean-Paul Sartre (geb. 1905) den Ritter mit der eisernen Hand in den Mittelpunkt seines Dramas „Le diable et le bon Dieu" (1951), im selben Jahr unter dem deut schen Titel „Der Teufel und der liebe Gott" in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens erschienen. Doch hier handelt es sich nicht um ein historisches, sondern um ein programmatisches Stück, das die Bühne zum Katheder für des Autors atheistische Weltanschauung macht. Für Sartre ist die reformatorische These, derzufolge jeder sein eigener Prophet ist, aufschlußreicher als die These der Französischen Revolution, nach der alle Menschen gleich sind. Daher ist das sechzehnte Jahrhundert mit seinen Tendenzen der gegebene Rahmen für seine existentialistischen Erörterungen. Dieser Rahmen ist aller dings nur lose, denn nach den historisch skiz zierten Eingangsszenen um das umkämpfte Worms geht das Geschehen immer mehr in Diskussionen über Gut und Böse und das Dasein Gottes über. Götz, der sich einmal auf die Seite des Bösen, dann auf die des Guten schlägt, gelangt schließlich wie Nietzsche zu der Erkennt nis, daß Gott tot sei: „Wenn es keinen Himmel gibt, gibt es auch keine Hölle mehr: nichts außer der Erde bleibt da. [...] Keine Möglichkeit mehr, den Menschen zu entrinnen. Es ist aus mit den Ungeheuern und den Heiligen. Nur die Men schen sind da'"." Dieses Götz-Drama ist ein in geschliffener Dialektik sich entfaltendes Lehr stück des Sartreschen Existentialismus. Eine historische Persönlichkeit der Bauernkriege, der Goethe in seinem „Götz" nur eine Neben rolle zugedacht hatte, macht ein anderer Autor zur Hauptgestalt einer historischen Tragödie: Ferdinand Lassalle (1825—1864): „Franz von Sickingen" (1857 niedergeschrieben). Diese in künstlerischer Hinsicht nicht sehr bedeutende Dichtung ist durch ihre sozialpolitischen Aspekte bemerkenswert geworden. Karl Marx und Fried rich Engels haben in einer brieflichen Ausein andersetzung mit Lassalle Probleme einer marxi stischen Literaturbetrachtung zur Sprache ge bracht, die unter der Bezeichnung „Die Sickin gen-Debatte" in die Literaturgeschichte einge gangen ist". Lassalle selbst, den die Enttäuschungen über das Mißlingen der Revolution von 1848/49 ver wandte Vorgänge im sechzehnten Jahrhundert entdecken ließen, war sich mancher Anachronis men in seinem geschichtlichen Drama bewußt'^. Auch der Kritik an seinen mangelhaften Versen (schlecht gebauten Jamben) vermochte er nicht zu widersprechen. Marx beanstandete das Pathos der Schiller-Epigonik und glaubte den Autor mehr auf Shakespeare verweisen zu müssen'®. Ähnliche Kritik übte Engels: „Für meine Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Ideellen das Realistische, über Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen, hätte die Her einziehung der damaligen so wunderbar bunten plebejischen Gesellschaftssphäre aber noch einen ganz anderen Stoff zur Belebung des Dramas, einen unbezahlbaren Hintergrund für die vorn auf der Bühne spielende nationale Adelsbewe gung abgegeben, diese eben erst selbst ins rechte Licht gesetzt. Welch wunderlich bezeichnende Jean-Paul Sartre: Der Teufel und der liebe Gott. Drit ter Akt, zehntes Bild, vierte Szene. In: Gesammelte Dramen. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 361. Der Briefwechsel zwischen Lassalle, Marx und Engels über Lassalles Drama ist zu finden in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Auswahl und Redaktion: Manfred Kliem, zwei Bände, Berlin 1967. „Die Sickingen-Debatte", daselbst, 1. Band, 5. 166 bis 217. — Leicht zugänglich, allerdings auf das We sentliche beschränkt, in dem Auswahlband: Karl MarxFriedrich Engels: Über Literatur, ausgewählt und her ausgegeben von Cornelius Sommer in Reclams Uni versalbibliothek Nr. 7942/43, Stuttgart 1971. Lassalles Drama ist gleichfalls in Reclams Universalbibliothek Nr. 4716/17 (mit einem Nachwort von Rüdiger Kaun), Stuttgart 1974, erschienen. — In Vorbereitung befindet sich: Sickingen-Drama und Sickingen-Debatte in der Sammlung „Deutsche Texte" (dt 31 bei Max Niemeyer in Tübingen), herausgegeben von J. Müller und D. Bänsch. Vgl. dazu: Peter Demetz: Marx, Engels und die Dichter. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte, Frankfurt/M.-Berlin 1969 (Ullstein Buch Nr. 4021/4022), besonders S. 107—115. *- Siehe diesbezüglich Lassalles Antwort an Marx und Engels vom 27. 5. 1859, wiedergegeben in K. MarxF. Engels: Uber Literatur, Reclams U. B., a. a. O., S. 108. " Ebenda, S. 85.
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