politischen Konstellation der damaligen Mentali tät verwandter erschien. Den weiten Horizont jenes Jahrhunderts und die kultur- und sozialgeschichtliche Atmosphäre glaubte Goethe am besten mit Shakespeares bühnentechnischen Mitteln einfangen zu können: mit einem bunten Wechsel von örtlichkeiten, einer Vielfalt von Personen aller Stände vom Fürsten bis zu Wegelagerern und Zigeunern, mit einem kühnen Hinwegsehen über die klas sischen Forderungen nach Einheit von Raum, Zeit und Handlung. So entstand aus nicht weniger als 56 Bildern (erster Aufzug 5, zweiter Auf zug 10, dritter Aufzug 22, vierter Aufzug 5, fünfter Aufzug 14 Bilder) ein Handlungsmosaik, von dem Herder in einem Briefe an den Ver fasser vorwurfsvoll meinte, Shakespeare habe ihn „ganz verdorben"®. Goethes spätere Umar beitung hat dieser Kritik Rechnung getragen, was vor allem für den fünften Aufzug gilt und für das merkliche Zurückdrängen der Weislingen-Adelheid-Handlung, welche die übrigen Er eignisse zu überwuchern drohte. Hier hatte der Dichter zur Belebung des Gegenspiels unhistori sche Vorgänge und Gestalten erfunden: den unentschlossenen, charakterschwachen Ritter Adelbert von Weislingen, der vom Freunde Götzens zu dessen Verräter wird und auch die Schwester des Berlichingers treulos verläßt, fer ner die dämonisch-leidenschaftliche Adelheid von Walldorf, die, ihrer Wirkung auf Männer gewiß, kein Mittel zur Erreichung ihrer selbstsüchtigen Ziele scheut: beide mit erstaunlicher psycholo gischer Kunst entworfene Porträts der inneren Zerrissenheit jener Zeit. Der fünfte Aufzug läßt endlich auch den Bauern krieg in Erscheinung treten. In Götzens von Berlichingen eigener Lebensbeschreibung stimmte manches mit der geschichtlichen Wirk lichkeit nicht überein. Auch Goethe mußte sich bemühen, die Rolle dieses Mannes im Bauern krieg der Idealgestalt, wie er sie sehen wollte, anzupassen. Götz wird von den Vertretern der Bauern nach längerem Widerstreben dazu bewe gen, vorübergehend ihr Führer zu werden. Er entschließt sich dazu, um die wilden Ausschrei tungen der undisziplinierten Massen zu verhin dern. Als „liebevollen Advokaten" solcher Hand lungsweise läßt der Dichter Götzens Freund Lerse sagen: „Müßten nicht Fürsten und Herren ihm Dank wissen, wenn er freiwillig Führer eines unbändigen Volkes geworden wäre, um ihrer Raserei Einhalt zu tun und so viel Men schen und Besitztümer zu schonen®?" Doch Götz, der immer für die Unterdrückten eingetreten war, kann trotz der Versprechen der Bauern, Maß zu halten, weitere Gewalttaten und Rache akte nicht verhindern. Das Recht des freien Menschen, für das er kämpft, artet durch die Zügellosigkeit der Masse in Gewalt und Unrecht aus. So wird er selbst das tragische Opfer seines Wollens, früher und anders als der historische Götz, der als Greis seine Memoiren diktiert, während Goethe seinen Helden rund dreißig Jahre zuvor aus dem Leben scheiden läßt. Mit dem Ausruf „Freiheit! Freiheit!" stirbt er — es ist das letzte Wort des Dramas. Goethes Götz wurde zum Leitbild der Sturm und-Drang-Dramatik und zum Vorbild zahlrei cher Ritterstücke und Ritterromane nach ihm. Die antiklassizistische Haltung ist augenfällig: Sprengung des herkömmlichen Handlungsver laufs, Wechsel vom Vers der hohen Tragödie zur volkstümlichen Prosa, in der das Luther deutsch des sechzehnten Jahrhunderts und Chronikalisches anklingt, in der aber auch der individuellen Differenzierung in der Sprechweise der Gestalten Raum gegeben wird bis zur mund artlichen Tönung der Dialoge bei Bauern und Zigeunern. Alles in allem: der geglückte Wurf eines Originalgenies, wie es den Stürmern und Drängern vorschwebte. Die Gestalt des Berlichingers erscheint auch nadh Goethe häufig in der Dichtung, im neunzehnten Jahrhundert zunächst in Romanen, Erzählungen und Bühnenstücken wenig bedeutender Autoren. ® Von Goethe selbst in einem Antwortbrief an Herder vom Juli 1772 wiedergegeben. Dort heißt es: „Die Definitiv, ,daß Euch Shakespeare ganz verdorben pp.', erkannt' ich gleich in ihrer ganzen Stärke, genug, es muß eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt, mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden. Dann soll's wieder vor Euch erscheinen." Zitiert nach J. W. Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Artemis Verlag, Zürich 1951, Bd. 18, S. 175. ® In der Szene „Jagsthausen" des fünften Aufzuges. A. a. O., S. 96.
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