OÖ. Heimatblätter 1975, 29. Jahrgang, Heft 3/4

wieder die Hälfte als von Bettlern bewohnt bezeichnet. Landstreicherei und unstetes Herum ziehen nehmen verheerende Formen an. Wie immer in Zeiten der Not verschärft sich die Aus beutung oder wird als verschärft empfunden. Es zeigen sich deutliche Symptome von Massen hysterien. Aus dem geistigen und aus dem reli giösen Bereich wirken neue Impulse. Das Evangelium, diese unergründliche Botschaft, wird plötzlich mit anderen Augen gelesen wie bisher, nicht mehr so sehr als die Verkündigung des Sohnes, der den zürnenden Vater mit der sündigen Welt versöhnte und deshalb in dieser erlösten Welt ein triumphales Königreich auf richten durfte. Es wird mit einem Male als die bewegende Botschaft des leidenden Bruder-Got tes begriffen, der die Armen selig pries, die Hungernden speiste („mich erbarmt des Vol kes!"), der von sich selber sagte: „Die Vögel haben ihre Nester, die Füchse ihre Höhlen, nur der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt betten kann", und der schließlich zwischen zwei Verbrechern am Kreuze starb. Aus dem thro nenden König-Heiland der Domapsiden wird nun der wundenbedeckte Erbärmdichgott, der aus gemergelte Kreuzträger, das Andachtsbild, in dessen rührender Gestalt sich der Arme, Lei dende wiedererkennen konnte. Die Bettelorden konstituieren sich, Franz von Assisi konnte sei nen Frieden mit der Kirche machen. Aber andere ähnlich motivierte Bewegungen haben weniger fortune: Die Waldenser, die Albigenser, die Bewegung der Pataria, die Lollarden, sie alle agieren in religiös-sozialen Entwürfen, die end lich ernst machen wollen mit der Nachfolge Christi, in einer möglichst herrschaftslosen Welt oder in einem System, in dem nur der herrschen soll, der im Stande der Gnade ist. Eine immense Herausforderung an die damalige Führungs clique. Als „greuliche" Ketzer werden sie ver folgt, ausgehoben und blutig ausgerottet. Aber ihre Gesinnungen und Tendenzen ver lieren deshalb noch nicht ihre Lebenskraft. Sie werden von den Bettelorden in kleinen ungefähr lichen Dosen weitergereicht oder sie amalgamieren sich mit anderen säkularen Ideen wie etwa im böhmischen Raum mit dem neuerwachten slawi schen Nationalismus. Das Ergebnis ist Hus, die hussitische Reformation, endlich der Hussitenkrieg. Wo bleibt auf dieser Szene der Bauer? Er war, in einer vor allem agrarisch bestimmten Gesellschaft, immer mit von der Partie. Hier muß nun freilich eine neue und desaströse Wendung angemerkt werden: die alten Feudalstrukturen, die ursprünglich und wesentlich auf einem Schutzbündnis zwischen dem Adel und dem Kolonen, zwischen Grundherrn und Hintersassen beruhte, verloren ihre Funktion. Denn längst schon konnte der Grundherr keinen Schutz mehr gewähren. Am krassesten trat das in Frankreich in der langen Elendsperiode des Hundertjährigen Krieges zu Tage. Und richtig: Hier flammt auch der erste große Bauernaufstand des Abendlandes auf. Aus Verzweiflung über die unerträglichen Zustände der Ausplünderung und Brandschat zung durch fremde und eigene Truppen und Räuberbanden, aus Verzweiflung also über das Versagen der grundherrlichen Schirmherrschaft greift „Jacque" — so der Spitzname des Bauern — 1358 zu den Waffen. Zweieinhalb Jahrzehnte später derselbe Ausbruch im gegnerischen Land, in England: auch dort hatte sich die Überfor derung der nationalen Wirtschaft durch das end lose Wüten des Krieges unheilvoll ausgewirkt. Die geschlossene Gesellschaft des Hochmittel alters wird porös für outsiderische Erscheinungen (zu denen letztlich auch das Bauernmädchen von Domremy gezählt werden kann). Das ganze Zeitalter ist von einem ständigen, manchmal unterschwelligen, manchmal brutal eruptivem Rebellionsgeist erfüllt. Auf den Bauern, dessen Willfährigkeit man so oft mißbraucht hat, ist plötzlich kein Verlaß mehr. Nun heißt es nicht mehr: „Jacque bonhomme a bon dos, il souffre tout" (der Bauerntropf hat einen breiten Buckel, ihm kann man alles aufladen), jetzt tauchen in den Bittgebeten der etablierten Klassen plötzlich Ausrufe der Angst auf: „A furore rusticorum libera nos. Domine!" Vor der Wut der Bauern befreie uns, o Herr! Alles Zeichen der Zeit. Der Bauer steht nicht mehr allein, wo er sich zum Widerstand aufrafft. Auch in den Städten gärt es. Die Unruheherde beginnen miteinander zu kommunizieren. Während die Eruption der Jacquerie das flache Land in Brand setzt, ver-

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