OÖ. Heimatblätter 1975, 29. Jahrgang, Heft 3/4

„Wucherer" gehaßt, verfolgt, gemordet, vertrieben oder in Ghettos eingesperrt, wobei der damalige Antisemitis mus im Geist der Zeit die massiven sozialökonomischen Hintergründe religiös verbrämt (Kampf gegen die „Got tesmörder"!). Das verhängnisvolle Doppelspiel wiederholt sich in Ost europa, wohin ein Großteil der aus Deutschland ver triebenen Juden auswandert. Zuerst Schutz und För derung durch die feudale Oberschicht zur Erschließung ihrer unterentwickelten Ländereien, nach Aufstieg ein heimischer Kräfte und infolge trostloser Verhältnisse auf dem Lande der Gegenschlag in Form des furchtbaren Pogrom-Antisemitismus, von oben noch angeheizt zur Ablenkung der revolutionären Empörung von den eigent lich Schuldigen an der russischen Misere. Dazu die Proletarisierung der jüdischen Handwerker, die massen haft in jüdischen Kleinbetrieben unter denkbar schlech ten Bedingungen beschäftigt sind. Nur zwei Auswege aus dem Drangsal schien es zu geben: Emigration oder soziale Revolution. Beide Wege werden beschritten. Seit der Jahrhundertwende Massen auswanderung nach dem Westen. Die Folge: auch hier Steigerung des Antisemitismus bis zur hemmungslosen Hysterie — und am Ende die Hölle von Auschwitz. Der revolutionäre Weg; seit den siebziger Jahren zahl reiche Streiks, in den achtziger Jahren Entstehung marxi stischer Zirkel, schließlich 1897 Gründung der führenden sozialistischen Massenorganisation „Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Rußland und Polen". Ausführlich schil dert der Verfasser das schwierige Verhältnis des „Bun des" zur sozialdemokratischen Bewegung in Rußland, Russisch-Polen und Österreichisch-Galizien, die Ausein andersetzung mit anderen jüdisch-sozialistischen Strö mungen und vor allem den Konflikt mit der aufsteigenden zionistischen Bewegung, schließlich das Ende der Organi sation nach der russischen Oktoberrevolution mit einem Ausblick auf die gegenwärtige gespannte Lage des Judentums in der Sowjetunion tmd auf die Problematik des Staates Israel. Der junge Soziologe Bunzl (1945) trägt mit seiner SpezialUntersuchung zu einem vertieften Verständnis der immer wieder beunruhigenden jüdischen Frage bei und zeigt an einem Modellfall, was eine streng sozioökonomische Betrachtungsweise im Sinne des „Histori schen Materialismus" zur Erklärung geschichtlicher Ab läufe und gesellschaftlicher Strukturen herzugeben ver mag. Den etwaigen Einfluß geistesgeschichtlicher Fak toren berücksichtigt der Verfasser grundsätzlich nicht. Josef Krims Martin Brauen: Heinrich Harrers Impressionen aus Tibet. Gerettete Schätze. Innsbruck (Pinguin-Verlag) 1974, 244 Seiten mit 112 Bildtafeln, davon 40 farbig. Ln. S 198.—. Am 11. Dezember 1974 wurde im Völkerkundemuseum der Universität Zürich eine phantastische Sammlung eröffnet, die eigentlich für Österreich bestimmt war; die etwas leidige Angelegenheit ist aus zahlreichen Presseberichten bekannt. Ein kleiner Trost ist das vor liegende Buch, in dem die schönsten und interessan testen Exponate aus der großartigen Tibet-Sammlung Harrers sowie viele bisher unbekannte Bilder aus dem tibetischen Alltagsleben veröffentlicht werden. Das Vorwort zu diesem Buch schrieb kein Geringerer als der Dalai Lama, den Harrer zu seinen Freunden zählen darf — war er doch während seines langen Aufenthaltes in diesem so lange abgeschlossenen Land ein wichtiger Berater des jungen „Kundün", als die chinesischen Truppen einrückten (vgl. Harrers Buch „Sie ben Jahre in Tibet", 1953). Infolge der Zerschlagung Tibets ging eine Unmenge an kunst- und kulturhistorisch bedeutender Dinge zu grunde, wurde vernichtet oder ins Ausland zerstreut. Die Sammlung Harrers, die uns hier in lebendiger und wissenschaftlich exakter Form vorgestellt wird, ist somit in ihrer relativen Geschlossenheit eine äußerst wichtige Quelle für die Erforschung dieses hochinteressanten Landes und Volkes. D. Assmann

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