Wie steht es gerade in dieser Hinsicht um das geschichtliche Informationsmaterial? War dieses Material vor allem in der Frühzeit nicht auf ganz andere Prozesse und Fakten programmiert, auf (offizielle) Kriege, Landnahmen, Wechsel der Herrscher, kurz auf Bewegungen der legalen Machtspitzen? Diese galten für überlieferungs würdig und schlugen in Inschriften, Denkmälern, Dokumenten, Verträgen zu Buch, und die Chro nisten feierten sie in ruhmredigen Tiraden. Da gegen geriet anderes nur allzu leicht in eine Zone fehlender Resonanz. So ist zu vermuten, daß uns bei weitem nicht alle stattgehabten Revolten überliefert sind. Lag es nicht nahe, die Verzweif lungstaten kleiner, verachteter, verelendeter Gruppen unter der Hand und als eher interne Moleste in aller Stille abzutun? Und wer sollte schon darüber berichten? Die Herren etwa und die ihnen nahestehenden Informationsträger —? Sie hatten in seltenen Fällen Anlaß, sich dessen zu rühmen, daß sie das Volk gegen sich aufge bracht hatten. Und die Aufständischen selbst —? Sie waren nach erfolgter Revolte zumeist nicht mehr dazu imstande, weil nicht mehr am Leben. Die meisten dieser Aktionen wurden rasch und grausam niedergeschlagen, in Strömen Blutes er stickt. So verloren sich diese frühen Versuche, Freiheit und Recht zu erlangen, spurlos im Dun kel der Geschichte. Tatsächlich spurlos? Durchaus nicht. Denn was die offiziöse Geschichtsschreibung zu berichten vergaß, wurde doch so manchesmal von Märchen, Sagen und Mythen weitertradiert und in deren Symbol sprache aufbewahrt. (So haben wir, wie ich glaube, in der biblischen Erzählung vom Exodus und seiner Vorgeschichte den klassischen Fall einer mythischen bzw. religiösen Version sozialgeschichtlich deutbarer Ereignisse.) Doch auch in den gesellschaftlichen Strukturen hinterließen die an sich gescheiterten Revolten oft genug gewisse Wirkungen. Die unmittelbaren Ziele wurden zwar verfehlt und zumeist war vorerst eine Wen dung ins Noch-Schlimmere eingetreten. Mit der Zeit aber, so scheint es wenigstens, setzten spu renweise und vielfach verformt die Folgen ein. Die Rechte, die man der Gewalt verweigert hatte, wurden im Zuge von Reformen allmählich doch gewährt. Freilich blieb immer ein Rest. Auch im besten der Fälle ein gewaltiger Rest, nämlich die Distanz, die Realität von Utopie unterscheidet. Der Oberösterreichische Bauernaufstand erfolgte unter den besonderen Bedingungen der Fremd herrschaft, nach erfolgter konfessioneller Spal tung und noch bevor die Gegenreformation völlig durchgedrungen war. In seinen Motivationen amalgamierten sich soziale mit patriotischen und religiösen Momenten. Insofern war dieser Aufstand exemplarisch moti viert. Wie in so vielen Fällen hatte sich auch hier erwiesen, daß die Not allein, daß das nackte Elend den Menschen selten in den Aufruhr treibt, wenn ihm nicht zugleich von irgendwoher eine ideologische Krücke geboten wird, an der er sich aus der täglichen Misere seines Alltags zu geziel ten Aktionen erheben kann. Die ideologische Krücke muß kein revolutionäres Theorem sein. Viel öfter bot sich im Verlauf der Geschichte eine religiöse Hoffnung, eine chiliastische Erwar tung an, die alle Rücksichten über den Haufen warfen und die — über den Umweg des Umsturzes — eine generelle Erneuerung, eine metaphysische Neuordnung anzielten. Nicht sel ten spielte dabei auch ein fernes, vielleicht nur gedachtes, ein-gebildetes Land eine Rolle: ein tausendjähriges Reich, ein sacrum imperium, ein himmlisches Jerusalem, ein gelobtes Land Kanaan, womöglich ein Kontinent; auch God's own country der Amerikaner und das Charisma des dostojewskischen Rußland, in jüngster Zeit sogar Maos China gehören dazu. Stets geht es dabei um ein nicht unmittelbar erfahrbares oder als ungeheuer und deshalb als unfaßbar emp fundenes Drüben und Jenseits, um ein Fernes, Entrücktes, das selbstverständlich besser zu sein verspricht als das nahe greifbare Hier und Dies seits; es geht also dabei um eine ersehnte, er wünschte imaginierte Dislokation. Auch Fremd herrschaften haben ähnliche Elfekte; die zerstörte oder geminderte Freiheit erinnert schmerzlich an verlorene Zustände, verlorene Zusammenhänge. Man blickt mit Sehnsucht über Grenzen und nach Vergangenheiten aus. Der Anteil nostal gischer Regungen an revolutionären Prozessen ist nicht zu unterschätzen.
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