OÖ. Heimatblätter 1975, 29. Jahrgang, Heft 3/4

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Bildnis Stephan Fadingers nach einem Gemälde von Ernst Liebermann; Titelblatt der illustrierten Monatsschrift „Bergland" (geleitet von Franz Karl Ginzkey), VII. Jg. (1925), Nr. 8.

Oberösterreichische Heimatblätter Herausgegeben vom Landesinstitut für Volksbildung und Heimatpflege in Oberösterreidi; Leiter: W. Hofrat Dr. Aldemar Schiflkorn. 29. Jahrgang (1975) Heft 3/4 INHALT Gertrud Fussenegger: Die Vorläufer (von Spartacus bis Fadinger) 123 Adalbert Schmidt: Der Bauernkrieg in literarischer Sicht . 133 Erich Posch: Musikleben in Oberösterreich zur Zeit des Bauernkrieges 154 Armin Fo1ivka : Die soziale Lage der Bauern zur Zeit der Bauernkriege 162 Georg Wacha : Die Belagerung von Linz 1626 im Spiegel der Zeitungsmeldungen 167 Rudolf Zinnhobler : Die katholische Erneuerung der Stadt Wels und der Bauernkrieg des Jahres 1626 .... 192 Hertha Schober : Der verspätete Aufruhr im Mondsee land 200 Dietmar Assmann : Die Bauernkriegs-Gedenkstätten am Schulterberg bei Pram 213 Fritz Wink1er : Der Bauernkrieg in Sage und Geschichte . 219 Prof. Georg Grüll gestorben (Alois Zauner) 231 Wilhelm Freh — 15 Jahre Direktion des Oö. Landesmuseums (Otto Wutzel) 234 In memoriam Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Moriz Enzinger (Diet mar Assmann) 236 Schrifttum 237

Ansdiriften der Mitarbeiter Professor Dr. Gertrud Fussenegger, Ortmayrstraße 27, 4060 Leonding. Univ.-Ass. Mag. Armin Polivka, Institut für Agrarpolitik der Universität Linz, 4045 linzAuhof. Professor Erich Posdi, Bruckner-Konservatorium, Wildbergstraße 18, 4020 Linz. Univ.-Prof. Dr. Adalbert Schmidt, Vorstand des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Salzburg, Akademiestraße 20, 5020 Salzburg. Dr. Hertha Schober, Konsulent der oö. Landesregierung, Halbgasse 4, 4020 Linz. Senatsrat Dr. Georg Wacha, Direktor des Linzer Stadtmuseums, Bethlehemstraße 7, 4020 Linz. Bez.-Schulinsp. Prof. Fritz Winkler, Konsulent der oö. Landesregierung, Bürgermeister der Gemeinde Schönegg, 4191 Vorderweißenbach. W. Hofrat Dr. Otto Wutzel, Leiter der Abt. Presse des Amtes der oö. Landesregierung, Klosterstraße 7, 4010 Linz. Oberarchivrat Dr. Alois Zauner, Oö. Landesarchiv, Anzengruberstraße 19, 4020 Linz. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Zinnhobler, Dekan der Phil.-theol. Hochschule, Harrachstraße 7, 4020 Linz. Buchbesprechungen: Professor Dr. Hans Huebmer, Salzburger Straße 8, 4880 Vödclabruck. OStR, Prof. Dr. Josef Krims, Konsulent der oö. Landesregierung, Zemannstraße 37, 4240 Frei stadt. Dr. Maria Sdimeiß-Kubat, Landesbaudirektion, Kämtnerstraße 12, 4020 Linz. Direktor Dipl.-Ing. Viktor Stampfl, Landwirtschaftskammer für Oö., Auf der Gugl 3, 4021 Linz. Staatsbibl. Mag. Dr. Gerhard Winkler, Bundesstaatl. Studienbibliothek, Schillerplatz 2, 4020 Linz. Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexemplare etc.) und Bestellungen sind zu richten an den Herausgeber : Landesinstitut für Volksbildung und Heimatpflege in Oö., 4020 Linz, Landstraße 31 (Landeskulturzentrum Ursulinenhof), Tel. (0 72 22) 28 7 38 u. 28 7 39. Redaktion : Wiss. Rat Dr. Dietmar Assmann, Anschrift siehe Herausgeber. Verlag : Landesinstitut für Volksbildung und Heimatpflege in Oberösterreidi. Druck : Oberösterreichischer Landesverlag, 4020 Linz, Landstraße 41. Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der jeweilige Verfasser verantwortlich. Alle Rechte vorbehalten.

Das Land Oberösterreich gedenkt im Jahre 1976 in besonderer Weise der 350. Wiederkehr des Oberösterreichischen Bauernkrieges vom Jahre 1626. Soziale, wirtschaftliche und religiöse Span nungen und dazu als auslösendes Moment die jahrelange Fremdherrschaft ließen die Bauern schließlich zu ihren Waffen greifen, um für Frei heit und Recht zu kämpfen. So edel das Motiv an sich ist, so waren die Mittel, es durchzusetzen, weder gut noch richtig, und in der Art der Durch führung war der Kampf — aus der heutigen Sicht — von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eines aber blieb: ein, wenn auch vorübergehend noch wesentlich schwächer gewordener Bauernstand, der erstmals eine landesbewußte Einheit erreichte und mit seinen Aktionen, auf längere Sicht bezo gen, wesentlich dazu beigetragen hat, die Vor rangstellung des Adels zu schwächen zugunsten einer erstarkenden Staatsmacht. In den folgenden Beiträgen wird versucht, einiges aus dieser Zeit lebendig werden zu lassen, u. a. auf Grund zeitgenössischer Pressemeldun gen; durch Vergleiche mit früheren Bauern unruhen wird eine Einordnung in die größeren Zusammenhänge geboten, weiter wird das litera rische und musikalische Schaffen in seinem Bezug zum Thema Bauernkrieg untersucht, die damalige soziale Lage der Bauern dargestellt und manch anderes mehr; einiges ist nur mehr durch örtliche Sagenüberlieferung erhalten, Gedenkstätten erin nern an den blutigen Zoll dieser Schreckenszeit. Zwei weitere Beiträge, die für dieses Heft geplant waren, nämlich von Ernst Burgstaller über „Volkskundliches und Soziologisches aus den oberösterreichischen Bauernkriegen" und von Benno Ulm über „Die Pfarrkirche Alt münster — die Herberstorff-Gruft und das Pro blem des Benediktinerklosters des 9. Jahrhun derts", konnten aus verschiedenen Gründen nicht termingemäß fertiggestellt werden und sind für das nächste Heft unserer Zeitschrift vorgesehen. Ohne die Kenntnis der geistesgeschichtlichen Grundlagen, ohne das Wissen um die sozialund wirtschaftsgeschichtlichen Hintergründe sind die Geschehnisse jener Zeit auch nicht annähernd zu verstehen und wären alle Aktionen, die dem Gedenken an das Jahr 1626 dienen, letzten Endes ohne bleibenden Wert. Die Redaktion

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Die Vorläufer (von Spartacus bis Fadinger) Von Gertrud Fussenegger Im kommenden Jahr, 1976, jährt sich der Ober österreichische Bauernkrieg zum dreihundertfünf zigsten Male. Das Land begeht das Gedächtnis in feierlicher Weise, nüt nicht geringem Aufwand. Man könnte die Frage stellen: Warum? Von wel cher Seite und aus welchen Motiven wird diesem längst vergangenen Ereignis ein so großes Inter esse gezollt? Ich sehe drei Gruppen mit verschiedenen Moti ven agieren. Die eine erblickt in jeder revolutio nären Aktion, wann immer sie stattgefunden und zu welchem Ende sie geführt hat, einen Vorläufer späterer wirksamerer und damit womöglich auch künftiger Revolutionen. Die Erinnerung an eine lokale Revolte dient dieser Gruppe allemal nur als Beleg dafür, daß schon immer Unmensch lichkeit von Seiten der Mächtigen geherrscht, schon immer Widerstand von Seiten der Unter drückten rege gewesen und sich entladen habe. So soll die Utopie tiefer in der Vergangenheit verankert und damit auch für die Zukunft als notwendiges, weil organisches Ergebnis der Ge schichte empfohlen werden. Eine andere Gruppe hat andere Motive: sie sieht im Aufstand der Bauern ein imposantes Lebens zeichen ethnischer Kraft; dieser Gruppe bereitet es Genugtuung, daß sich im Schoß des Volkes in früher Zeit und unter härtesten Bedingungen un beugsame Gesinnung, Trotz, Entschlußkraft und eine mannhaft redliche Grundsatzhaltung kund getan haben, die — so die hier implizierte Hoff nung — auch heute noch wirksam sind oder in möglichen Zeiten der Not wieder wirksam wer den könnten. Patriotismus kann ja nie darauf verzichten, sich mit historischen Kontexten zu instrumentieren. Früher diente diesem Ziel — wie bekannt — vor allem dynastische und politische Geschichte. Die Anteilnahme hat sich längst ver lagert. Mit der Kultur- und Gesellschafts geschichte rückt auch das Inoffiziöse, Spontane und Elementare in den Brennpunkt des Inter esses. Doch: Inoffiziös, spontan und elementar — genauso präsentiert sich uns das historische Er eignis der Bauernkriege. Und hier haben wir den Punkt, an den die dritte Gruppe anknüpft: das Motiv ihres Interesses an den Ereignissen von 1626 ist nicht in erster Linie politischer, sondern eher ästhetischer Art. Die Saga vom Volksaufstand mit seinen bunten, tur bulenten, dramatischen Episoden hat auch heute noch nicht ihren Reiz verloren. Der stürmische Atem, der jene Tage bewegte, bewegt die Phan tasie auch des modernen Menschen. Der Nachhall des Exemplarisch-Großartigen, das etwa der junge Goethe in den Bauernkriegsszenen seines „Götz" auf die Bühne brachte, ist noch nicht ver klungen: Größe und Elend des Menschen haben sich in diesen Aktionen in urtümlicher Weise kundgetan. Das mythische Modell schimmert durch die historischen Kontexte, und das fascinosum der Geschichte erweist sich wieder einmal mehr als unausschöpfbar. Es ist zu erwarten, daß sich in den Feiern zum Bauernkriegs jähr 1976, in Ausstellungen und Publikationen alle drei Motive ausgiebig formu lieren werden. Ich aber möchte in dieser Arbeit, sofern das in so engem Rahmen möglich ist, auf etwas nodi Allgemeineres hinweisen. Es gibt kaum ein historisches Ereignis von Be deutung, das sich auf dem Feld der Geschichte als Unikat sui generis erwiese. Im Gegenteil, man kann sagen, daß den jeweili gen Ereignissen eine um so größere Bedeutsam keit zugeschrieben werden muß, je öfter ihres gleichen da und dort, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Zeiträumen festgestellt werden können. Dann nämlich ist mehr als zufällige Konstellation im Spiel, daim sind diese Ereig nisse Anzeichen allgemeinerer Umstände und tiefergreifender Bewegxmgen. So glaube ich dem Bild des Oberösterreichischen Bauernkriegs (diesem Bild, das eben auch in dieser Publikation von Fachgelehrten noch weiter ausgearbeitet, noch feiner differenziert wird) am besten dadurch dienen zu können, daß ich es vor einen weiteren historischen Horizont stelle, in dem ich nach ähnlichen oder doch vergleichbaren Ereignissen suche, und zwar in weitestem Umkreis und audi entferntesten Zeiten. Wo haben wir sonst noch Revolten dieser Art zu notieren und welchen Verlauf haben sie genom men? Dazu wäre freilich zu überlegen:

Wie steht es gerade in dieser Hinsicht um das geschichtliche Informationsmaterial? War dieses Material vor allem in der Frühzeit nicht auf ganz andere Prozesse und Fakten programmiert, auf (offizielle) Kriege, Landnahmen, Wechsel der Herrscher, kurz auf Bewegungen der legalen Machtspitzen? Diese galten für überlieferungs würdig und schlugen in Inschriften, Denkmälern, Dokumenten, Verträgen zu Buch, und die Chro nisten feierten sie in ruhmredigen Tiraden. Da gegen geriet anderes nur allzu leicht in eine Zone fehlender Resonanz. So ist zu vermuten, daß uns bei weitem nicht alle stattgehabten Revolten überliefert sind. Lag es nicht nahe, die Verzweif lungstaten kleiner, verachteter, verelendeter Gruppen unter der Hand und als eher interne Moleste in aller Stille abzutun? Und wer sollte schon darüber berichten? Die Herren etwa und die ihnen nahestehenden Informationsträger —? Sie hatten in seltenen Fällen Anlaß, sich dessen zu rühmen, daß sie das Volk gegen sich aufge bracht hatten. Und die Aufständischen selbst —? Sie waren nach erfolgter Revolte zumeist nicht mehr dazu imstande, weil nicht mehr am Leben. Die meisten dieser Aktionen wurden rasch und grausam niedergeschlagen, in Strömen Blutes er stickt. So verloren sich diese frühen Versuche, Freiheit und Recht zu erlangen, spurlos im Dun kel der Geschichte. Tatsächlich spurlos? Durchaus nicht. Denn was die offiziöse Geschichtsschreibung zu berichten vergaß, wurde doch so manchesmal von Märchen, Sagen und Mythen weitertradiert und in deren Symbol sprache aufbewahrt. (So haben wir, wie ich glaube, in der biblischen Erzählung vom Exodus und seiner Vorgeschichte den klassischen Fall einer mythischen bzw. religiösen Version sozialgeschichtlich deutbarer Ereignisse.) Doch auch in den gesellschaftlichen Strukturen hinterließen die an sich gescheiterten Revolten oft genug gewisse Wirkungen. Die unmittelbaren Ziele wurden zwar verfehlt und zumeist war vorerst eine Wen dung ins Noch-Schlimmere eingetreten. Mit der Zeit aber, so scheint es wenigstens, setzten spu renweise und vielfach verformt die Folgen ein. Die Rechte, die man der Gewalt verweigert hatte, wurden im Zuge von Reformen allmählich doch gewährt. Freilich blieb immer ein Rest. Auch im besten der Fälle ein gewaltiger Rest, nämlich die Distanz, die Realität von Utopie unterscheidet. Der Oberösterreichische Bauernaufstand erfolgte unter den besonderen Bedingungen der Fremd herrschaft, nach erfolgter konfessioneller Spal tung und noch bevor die Gegenreformation völlig durchgedrungen war. In seinen Motivationen amalgamierten sich soziale mit patriotischen und religiösen Momenten. Insofern war dieser Aufstand exemplarisch moti viert. Wie in so vielen Fällen hatte sich auch hier erwiesen, daß die Not allein, daß das nackte Elend den Menschen selten in den Aufruhr treibt, wenn ihm nicht zugleich von irgendwoher eine ideologische Krücke geboten wird, an der er sich aus der täglichen Misere seines Alltags zu geziel ten Aktionen erheben kann. Die ideologische Krücke muß kein revolutionäres Theorem sein. Viel öfter bot sich im Verlauf der Geschichte eine religiöse Hoffnung, eine chiliastische Erwar tung an, die alle Rücksichten über den Haufen warfen und die — über den Umweg des Umsturzes — eine generelle Erneuerung, eine metaphysische Neuordnung anzielten. Nicht sel ten spielte dabei auch ein fernes, vielleicht nur gedachtes, ein-gebildetes Land eine Rolle: ein tausendjähriges Reich, ein sacrum imperium, ein himmlisches Jerusalem, ein gelobtes Land Kanaan, womöglich ein Kontinent; auch God's own country der Amerikaner und das Charisma des dostojewskischen Rußland, in jüngster Zeit sogar Maos China gehören dazu. Stets geht es dabei um ein nicht unmittelbar erfahrbares oder als ungeheuer und deshalb als unfaßbar emp fundenes Drüben und Jenseits, um ein Fernes, Entrücktes, das selbstverständlich besser zu sein verspricht als das nahe greifbare Hier und Dies seits; es geht also dabei um eine ersehnte, er wünschte imaginierte Dislokation. Auch Fremd herrschaften haben ähnliche Elfekte; die zerstörte oder geminderte Freiheit erinnert schmerzlich an verlorene Zustände, verlorene Zusammenhänge. Man blickt mit Sehnsucht über Grenzen und nach Vergangenheiten aus. Der Anteil nostal gischer Regungen an revolutionären Prozessen ist nicht zu unterschätzen.

Lassen wir nun die Bauernaufstände, von der uns die Geschichte erzählt, in aller Kürze Revue passieren. Ein düsteres Vorspiel für die lange Reihe der Revolten im Abendland: die Sklavenkriege der Antike (135—132 v. Chr. und 103—99 v. Chr.). Schauplatz: Sizilien und Süditalien. Hier handelte es sich freilich nicht um Bauernaufstände im engeren Sinn. Das Bauerntum war in jenen Ge genden längst durch die Latifundien erdrückt worden, es war, an Kriegsdiensten ausgeblutet xmd entnervt, schließlich vom Lande weg und in die Metropole abgewandert, wo seine Nach fahren jene unruhige, entwurzelte und unver schämte Masse bildeten, die — für jede Partei käuflich geworden — nur noch durch Geschenke, pane et circensibus, im Schach zu halten war. Auf den verwaisten Äckern waren nun andere tätig: die zahllosen Kriegsgefangenen, die Rom in aller Welt gemacht hatte, und deren Kinder und Kindeskinder, wahre Verdammte dieser Erde, Sklaven, die nur als Sache gehandelt und behandelt wurden. Sie hatten in ihren Quartieren oft zu Tausenden zusammengepfercht, nicht sel ten in Ketten ihre Arbeit zu leisten, d. h. die ungeheuren Güter der Reichen und Reichsten zu bearbeiten. Ethnisch müssen sie aus einem selt samen Gemisch aller jener Nationen bestanden haben, mit denen Rom in kriegerische Konflikte verwickelt war, also aus der gesamten damals bekannten Welt. Explosionsartig entlud sich ihre Verzweiflung. Rudelweise entliefen sie plötzlich ihren Herren, wählten Anführer, sogenannte „Könige" aus ihren Reihen, schwollen zu einer Lawine an und ergossen sich verheerend über ganz Sizilien. Ihr Schicksal war freilich von vorn herein besiegelt. Gegen die geübten und diszipli nierten Legionen der Staatsmacht konnten die wilden Haufen nichts ausrichten. Sie wurden ge schlagen und ausgetilgt. Fünfzig Jahre später (73 v. Chr.) brach ein neuer und bei weitem gefährlicherer Aufstand aus. Seinen Anfang nahm er in der Gladiatorenschule von Capua, wo sich in einem hochspezialisierten, körperlich hochtrainierten Kader unter der Füh rerschaft des berühmten Spartacus eine seltsame Heilslehre gebildet hatte. Die Kunde von einem getischen Großreidi jenseits der Adria und des Balkangebirges (etwa im Raum des heutigen Banat), von einem gerechten König mit Namen Boerebista (90—44), von der moralischen Erhebimg und Wiedergeburt des bei den Geten gepflogenen Zalmenoxyskultes, diese zum Teil sicherlich rich tigen, zum Teil aber phantastisch ausgeschmück ten Berichte mußten unter den Gladiatoren eine ungeheure erwartungsvolle Erregung hervorgeru fen haben. So beschlossen sie, der herrschenden Ordnung, die sie ja doch nur auf schnellen Ver schleiß vor der sensationsgierigen Menge, auf frühen Tod und sinnloses Verderben program miert hatte, in einem heroischen Ausbruch zu entkommen. An Zulauf fehlte es ihnen nicht. Sie setzten sich vorerst am Fuße des Vesuvs fest, nahmen dann Lukanien ein, erfochten etliche erstaunliche Siege gegen die römischen Heere und hatten schließlich 70.000 Menschen zum lan gen Marsch in das Reich des Boerebista gesam melt. Doch — wie so oft in solchen Fällen — gereichte ihnen eben ihre Massenhaftigkeit zum Verderben. Sie liefen in die ihnen aufgerichteten Fallen, erlagen den Strapazen und wurden schließlich von Pompeius in einem gräßlichen Strafgericht vernichtet (71 v. Chr.). Zwei oder drei Menschenalter später (und nadi dem Maßstab, nach dem wir in diesem Versuch Geschichte behandeln müssen), also fast zu glei cher Zeit, wird aus einem ganz anderen Teil der Welt eine revolutionäre Bewegung gemeldet, aus China. Hier liegt die Macht in den Händen der WangDynastie. Sie ist noch nicht lange am Ruder. Ihr bedeutendster Vertreter Wang-Meng versucht, der allgemeinen sozialen Notlage Herr zu wer den. Er führt Reformen ein, die die Verschuldung der Bauernschaft an den Feudaladel und Groß grundbesitz lindern sollen; er sucht den Einfluß der lokalen Herren zu brechen, indem er für Salz, Wein und eiserne Geräte ein Staatsmonopol er richtet. Er gibt auch neue Münzen zu Gunsten der Armen, zu Lasten der Reichen heraus. Doch das System bewährt sich nicht. An die Stelle der Ausbeutung durch die einzelnen Grundherren — eine Ausbeutung, die sicher örtlich schwankte —

trat die großflächige Ausbeutung durch eine will kürlich schaltende Beamtenschaft im Namen des Staates. Der Aufstand der „Roten Augenbrauen" stürzt den reformfreundlichen Herrscher und kostet seiner Dynastie den Thron. Die konkur rierende Familie Han nimmt ihn ein. Vorerst scheint alles in besseres Bahnen gelenkt, da — makaberer Hintergrund — die Revolte der „Roten Augenbrauen" so viel Menschen gekostet hat, daß nun Land in Hülle und Fülle vorhanden ist. Doch innere Wirren verursachen neue Ver armung. 184 nach Christi Geburt bricht ein neuer Aufstand, der der „Gelben Turbane" aus, eine religiös gefärbte Volksbewegung mit eschatologischen Tendenzen. Im Verlauf dieser Revolte bricht das Reich der Mitte in drei Teile auseinander. Der Aufstand der Massen hat geschichtliche Weichen gestellt. Auch aus Japan wird ähnliches vermeldet: Der Aufstand der ländlichen Kyushu um 520 ver darb Nippon das Konzept, sich auf Korea, also auf dem asiatischen Kontinent, niederzulassen. Sozialgeschichte machte also in jenen Zonen Weltgeschichte. Bei uns in Europa ist es freilich noch lange nicht so weit. Viele Jahrhunderte lang hören wir aus unserem Raum nichts mehr von sozialen Revolten im engeren Sinne. Die Auseinandersetzung zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen hat des halb freilich noch lange kein Ende gefunden. Sie hat sich aber auf ein anderes politisches Feld verlagert. Die Völkerwanderung war in vielen Phasen nichts weiter als der Versuch der Habe nichtse, sich in den Besitz imperialer Reichtümer zu setzen. Die sagenhaften Berichte über das Goldene Rom, über das Schlaraffenland Italien, über die mit Kostbarkeiten überfüllten Schatz kammern der Tempel, Paläste und Kaiservillen müssen in den darbenden Völkern des Nordens und Ostens eine ungeheure Wirkung hervor gerufen haben. Freilich erwies es sich bald, daß nur die ersten Wellen der Plünderer Nennens wertes erraffen und daß schon die zweite und dritte Welle durch das zerstörte System eher belastet als bereichert wird. Der Pegel der wirtschaftlichen Effektivität sank rapide. Es ist zu vermuten, daß die meisten Menschen in Europa bis in die karolingische Zeit herauf am Rande des Hungers gelebt haben. Den Armen zu schonen fiel niemand ein, da sich auch der Reiche und Mächtige kaum zu schonen ver mochte und vielleicht auch nicht einmal dazu versucht war. Das alles beherrschende Motiv der Aggression verschüttete sogar jeden Ansatz, den eigenen Egoismus rational zu artikulieren. Als sich die Verhältnisse allmählich zu konsoli dieren begannen, zeigte es sich, daß sich in den Nachfolgestaaten des römischen Imperiums das Sozialgefüge der Antike in seinen Grundzügen als stabiles Grundmuster erwiesen imd durch gesetzt hatte. Wieder gab es Sklaven, wenn auch nicht in solchen Mengen wie früher, wieder staf felte sich die ländliche Bevölkerung in Colonen, Halbfreie und Freie, und darüber erhoben sich jetzt unter anderen Namen die hierarchischen Spitzen der großen Landbesitzer, des Adels, der Geistlichkeit, des Herzog- und Königtums. Doch wieviel Tyrannei und Willkür in diesem System Raum fanden, vergessen wir nicht: Über dieser Gesellschaft schwebte doch als höchster Grundund Richtsatz und als, wenn auch noch ferner, Bezugspunkt das von Papst Gregor d. Gr. ver kündigte Prinzip: Vor Gott sind alle Menschen gleich. So sehr dieses Prinzip der Zeit voraus eilte, so wenig es von der gesellschaftlichen Realität gedeckt war, es wirkte doch als eine Art Keimpunkt, von dem aus sich viele Jahr hunderte später Humanismus und soziale Gesin nung entfalten und ausbreiten konnten. Dieser Satz enthielt für die Unterdrückten eine Hoff nung, die für sie so ungeheuer erscheinen mußte, daß sie ihr lange nicht zu vertrauen wagten; für die Mächtigen aber enthielt er eine Verpflich tung, die ihnen ebenso ungeheuer und unabseh bar scheinen mußte, daß sie sie auszuloten weder wagten noch willens waren, willens sein konnten. Dennoch war ein Grundmaß gesetzt und wirkte als Reizwert fort. Wie bereits gesagt, war bis tief in die karolin gische Zeit Europa einer allgemeinen Verelendimg preisgegeben. Schuld daran trugen sicher nicht

nur die endlosen kriegerischen Verwicklungen, sondern gewiß auch die Unergiebigkeit der da mals üblichen agrarischen Nutzungsmethoden. Vom 11. Jahrhundert an aber ändert sich die Szenerie. Die Lage bessert sich. Die Zweifelder wirtschaft wird durch die Dreifelderwirtschaft abgelöst, ein besserer Pflug wird erfunden, die Viehwirtschaft intensiviert, es entwickeln sich allerlei Seitenzweige agrarischer Tätigkeit, wie der Weinbau auch nördlich der Alpen, Rapsbau, Imkerei und Kleintierzucht. Man ißt sich wieder — oder vielleicht auch zum erstenmal in unseren Regionen — wenigstens dann und wann einmal satt. Eine glückliche Zeit. War das Klima besser ge worden? Auch die Menschen vermehren sich. Es entstehen Städte aus frischer Wurzel oder, wie in den ehemals römisch beherrschten Gebie ten, auf den Trümmern antiker Mansionen. In ersten schüchternen Versuchen setzt der mensch liche Geist auch dazu an, die soziale Wirklichkeit zu definieren und in sinnvollen Relationen zu deuten. So erklärt um 1025 der Bischof von Cambrais in seiner berühmten Ständelehre: Genus humanum divisum est in oratoribus, agricultoribus, pugnatoribus. Horumque singulos alter utrum dextra laevaque foveri evidens documentum dedit. Das menschlidie Geschlecht ist eingeteilt in Beter, Bauern und Soldaten; es ist klar, daß sie in gleicher Weise, wie die rechte und die linke Hand (miteinander koope rieren), einander zu unterstützen haben. Der Geist des Hochmittelalters, dieser bejahende optimistische, von der harmonia mundi über zeugte und von ihr durchdrungene Geist will es nicht anders wahrhaben, als daß die Ordnungen auch dieser Welt bis in ihre untersten Gliederun gen in der allumfassenden ordo universalis mit enthalten und damit auch mit-gerechtfertigt seien. Dem Hochgesang auf diesen schönen, beruhigt in sich ruhenden Kosmos mischen sich freilich bald andere Töne bei und machen sicht bar, daß der tragische Aspekt dieser Harmonisie rung in geheimer Bitterkeit mitempfunden wird: Propter peccatum primi hominis, humano generi poena divinatus illata ist servitutis, ita ut quibus aspicit non congruere libertatem, his misericord'us irroget servitutem. Et licet peccatum hominae originis per batismi gratiam cunctis fidelibus dimissum sit, tamen aequus Deus ideo discrevit hominibus vitam, alios servos constituens, alios dominos, ut licentia male agendi servorum potestate dominantium restringatur. Der Sünde wegen, die der erste Mensch beging, wurde über das ganze menschliche Geschlecht die Strafe der Knechtschaft verhängt, so daß jenen, denen ein freier Stand offenkundig nicht zukommt, der Stand der Dienst barkeit zugesprochen wurde — und zwar barmherziger weise. Denn obgleich die Erbsünde durch die Gnade der Taufe allen Gläubigen vergeben wurde, hat doch der gerechte Gott den Menschen ein unterschiedliches Leben zugeteilt, so daß die einen Diener, die anderen Herren seien, auf daß die Dienenden durch die Macht der Herren daran gehindert werden. Böses zu tun. So ein Bischof Burchard von Worms um das Jahr 1010. Wir merken: in diesem Text kündigt sich, wenn auch nur schattenhaft, etwas Neues an. Hier wird eine Gesinnung bereits überanstrengt, einem sublimem Weltbild wird abgefordert, was es nicht mehr sehr lange zu leisten fähig sein wird, nämlich einen Sinnzusammenhang auch dort noch zu hypostasieren, wo die Wirklichkeit eine andere und sinnfälligere Sprache spricht. Das Hochmittelalter war eine Zeit relativen sozialen Friedens. Aus dem 10. Jahrhundert wird uns noch ein Bauernaufstand aus der Normandie gemeldet. Dann folgte eine mehr als zweihundert Jahre lange Zäsur. Doch mit dem Ende der Stauferzeit geht auch diese verhältnismäßig gedeihliche Epoche zu Ende. Eine schwer definierbare, schwer erklär liche Unruhe bemächtigt sich unseres Kontinents. Die biologische Fruchtbarkeit der Völker erfährt einen Knick, aber einen Knick erfährt auch die vorher so deutliche Entschlossenheit, Welt und Leben durch praktische Leistungen zu bewälti gen. Die vor kurzem noch blühende Landwirt schaft verfällt. Die Dörfer entleeren sich, aber wohin? In die Städte? Noch ist von starken Bal lungen nicht die Rede. Hat die Pest so reiche Ernte gehalten? Der Schwund der ländlichen Strukturen ist bald erschreckend. In vielen Ort schaften nimmt die Zahl der Feuerstellen (sie allein werden in den Quellen verzeichnet) um nahezu die Hälfte ab. Von diesem Rest wird

wieder die Hälfte als von Bettlern bewohnt bezeichnet. Landstreicherei und unstetes Herum ziehen nehmen verheerende Formen an. Wie immer in Zeiten der Not verschärft sich die Aus beutung oder wird als verschärft empfunden. Es zeigen sich deutliche Symptome von Massen hysterien. Aus dem geistigen und aus dem reli giösen Bereich wirken neue Impulse. Das Evangelium, diese unergründliche Botschaft, wird plötzlich mit anderen Augen gelesen wie bisher, nicht mehr so sehr als die Verkündigung des Sohnes, der den zürnenden Vater mit der sündigen Welt versöhnte und deshalb in dieser erlösten Welt ein triumphales Königreich auf richten durfte. Es wird mit einem Male als die bewegende Botschaft des leidenden Bruder-Got tes begriffen, der die Armen selig pries, die Hungernden speiste („mich erbarmt des Vol kes!"), der von sich selber sagte: „Die Vögel haben ihre Nester, die Füchse ihre Höhlen, nur der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt betten kann", und der schließlich zwischen zwei Verbrechern am Kreuze starb. Aus dem thro nenden König-Heiland der Domapsiden wird nun der wundenbedeckte Erbärmdichgott, der aus gemergelte Kreuzträger, das Andachtsbild, in dessen rührender Gestalt sich der Arme, Lei dende wiedererkennen konnte. Die Bettelorden konstituieren sich, Franz von Assisi konnte sei nen Frieden mit der Kirche machen. Aber andere ähnlich motivierte Bewegungen haben weniger fortune: Die Waldenser, die Albigenser, die Bewegung der Pataria, die Lollarden, sie alle agieren in religiös-sozialen Entwürfen, die end lich ernst machen wollen mit der Nachfolge Christi, in einer möglichst herrschaftslosen Welt oder in einem System, in dem nur der herrschen soll, der im Stande der Gnade ist. Eine immense Herausforderung an die damalige Führungs clique. Als „greuliche" Ketzer werden sie ver folgt, ausgehoben und blutig ausgerottet. Aber ihre Gesinnungen und Tendenzen ver lieren deshalb noch nicht ihre Lebenskraft. Sie werden von den Bettelorden in kleinen ungefähr lichen Dosen weitergereicht oder sie amalgamieren sich mit anderen säkularen Ideen wie etwa im böhmischen Raum mit dem neuerwachten slawi schen Nationalismus. Das Ergebnis ist Hus, die hussitische Reformation, endlich der Hussitenkrieg. Wo bleibt auf dieser Szene der Bauer? Er war, in einer vor allem agrarisch bestimmten Gesellschaft, immer mit von der Partie. Hier muß nun freilich eine neue und desaströse Wendung angemerkt werden: die alten Feudalstrukturen, die ursprünglich und wesentlich auf einem Schutzbündnis zwischen dem Adel und dem Kolonen, zwischen Grundherrn und Hintersassen beruhte, verloren ihre Funktion. Denn längst schon konnte der Grundherr keinen Schutz mehr gewähren. Am krassesten trat das in Frankreich in der langen Elendsperiode des Hundertjährigen Krieges zu Tage. Und richtig: Hier flammt auch der erste große Bauernaufstand des Abendlandes auf. Aus Verzweiflung über die unerträglichen Zustände der Ausplünderung und Brandschat zung durch fremde und eigene Truppen und Räuberbanden, aus Verzweiflung also über das Versagen der grundherrlichen Schirmherrschaft greift „Jacque" — so der Spitzname des Bauern — 1358 zu den Waffen. Zweieinhalb Jahrzehnte später derselbe Ausbruch im gegnerischen Land, in England: auch dort hatte sich die Überfor derung der nationalen Wirtschaft durch das end lose Wüten des Krieges unheilvoll ausgewirkt. Die geschlossene Gesellschaft des Hochmittel alters wird porös für outsiderische Erscheinungen (zu denen letztlich auch das Bauernmädchen von Domremy gezählt werden kann). Das ganze Zeitalter ist von einem ständigen, manchmal unterschwelligen, manchmal brutal eruptivem Rebellionsgeist erfüllt. Auf den Bauern, dessen Willfährigkeit man so oft mißbraucht hat, ist plötzlich kein Verlaß mehr. Nun heißt es nicht mehr: „Jacque bonhomme a bon dos, il souffre tout" (der Bauerntropf hat einen breiten Buckel, ihm kann man alles aufladen), jetzt tauchen in den Bittgebeten der etablierten Klassen plötzlich Ausrufe der Angst auf: „A furore rusticorum libera nos. Domine!" Vor der Wut der Bauern befreie uns, o Herr! Alles Zeichen der Zeit. Der Bauer steht nicht mehr allein, wo er sich zum Widerstand aufrafft. Auch in den Städten gärt es. Die Unruheherde beginnen miteinander zu kommunizieren. Während die Eruption der Jacquerie das flache Land in Brand setzt, ver-

sucht der reiche Kaufmann Etienne Marcel mit Hilfe der Pariser plebs eine quasi demokratische Kontrolle des Staatsapparates aufzurichten. Und der Aufstand unter Wat Tyler in England, der in der Grafschaft Essex ausgebrochen war, wälzte sich, von der Sympathie anderer Städte unter stützt, auf London zu. An der Spitze der Rebel len standen neben Tyler, dem Ziegelbrenner aus Maidstone, ein paar entlaufene Priester. Die Massen erstürmen unter dem ersten kommuni stischen Kampflied der abendländischen Ge schichte, das ganz offenbar naturrechtliche Ele mente enthält, den Tower: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?" — Doch Tylers Bewegung erlitt dasselbe Schicksal wie ihr Vorgänger in Frankreich: nachdem Tyler gefallen war, liefen seine Anhänger auseinander und wurden, versprengt und verstört, wie sie waren, von der Rache der siegreichen Herren eingeholt. In Frankreich wurden die nahezu unbewaffneten Bauernhaufen von den schwer gepanzerten Rittern mit Leichtigkeit nieder gemetzelt. Ganze Landstriche waren danach men schenleer. Teuer bezahlte Episoden. Hier wäre es vielleicht am Platz, auf ein Werk der Literatur hinzuweisen, das schon achtzig Jahre vor dem französischen Bauernaufstand und den demokratisierenden Versuchen Marcels, hundert Jahre vor Wat Tyler entstanden ist. Es wurde um 1280 in Paris geschrieben, im Wir kungskreis der Sorbonne, an der damals die Scholastik brillierte. Der Name des Autors ist bekannt: Jean de Meung, genannt Clopinel. Sonst wissen wir wenig Sicheres über ihn. Die einen bezeichnen ihn als Domherren, die anderen als entlaufenen Kleriker und Vagabunden. Auf jeden Fall war er ein gelehrter Mann, ein Viel wisser nach dem Maßstab der damaligen Zeit, beeinflußt von spätantiken Überlieferungen, als Dichter unbedeutend, als Denker aber radikal und banal zugleich; von französischen Forschern wird er gern als erster Vertreter typisch gallischer Geisteshaltung bezeichnet, als erster Protagonist der Aufklärung, ja der Französischen Revolution. Und in der Tat enthält sein Werk, der Roman de la Rose, eine Fülle von kritischen umstürzle rischen Gedanken, eine entschlossene Absage an das affirmative Strukturbewußtsein des hochmit telalterlichen Weltbilds, vor allem in Belangen des Politisch-Sozialen. Der Roman de la Rose ist das einzige erhaltene Werk seines Autors, ein wahres monstrum in seiner Art; 20.000 Verse, eine figurenreiche Allegorie um das Liebessymbol der Rose. Begon nen war das Werk von einem anderen Autor, einem jungen höfischen Dichter, Guillaume de Lorris, der um 1230 gestorben war. Darin geht es noch höfisch sittsam, idealistisch und hochgesto chen zu. Da sich das Fragment sogar als solches einiger Beliebtheit erfreute, reizte es Clopinel, fünfzig Jahre später damit fortzufahren. Doch Tun und Gesinnung hatten sich durchaus ver ändert. Ein platter Realismus trumpft grobianistisch auf und gipfelt in langen pornographischen Passagen. Dazwischen: Zeitkritik eingestreut, aber immer von neuem wiederholt und variiert, Kritik am Königtum, an den Bettelorden, am Adel, an den habsüchtigen Bürgern. Pessimisti scher Grundton: „Li plus fors le plus fieble robe." Der Stärkste plündert den Schwächsten. Eine verderbte Welt. Doch sie war nicht immer ver derbt: sehnsüchtig richtet sich der Blick des Autors in die Vergangenheit, in das goldene Zeitalter, da die Menschen untereinander alle noch gleiche waren: „N'encor n'avoit fet roi ne prince Meffais qui l'autrui tolt es pince. Trestuit pareil estre soloient, ne riens propre avoir ne voloient." Noch war kein König oder Fürst gemacht, kein Spitzhuh, der die anderen quälte, ein jeder war dem andern gleich, und niemand wollte Eigentum besitzen. Da sie nichts zu besitzen strebten und keine Herren über sich hatten, da gab es noch reine Liebe „Amors loiaus et fines, sans covoitise et Sans rapine", noch waren Begehrlichkeit und Raffsucht nicht geboren, die Menschen lebten ohne Leistungsdruck und in totaler „compaignie", die sogar im geschlechtlidien Bereich grenzenlos und von höchster Ungezwungenheit war: „So tex couches cum ge devise, s-entre

acoloient et baisoient dl cui Ii geu d'Amors plaisoient." So, mein ich, lagen sie beisammen und taten zärtlich miteinander, wenn sie das Spiel der Liebe (eben) freute ... Dodi leider, so führt Clopinel aus, schlug das Klima dieses urkommunistisch-paradiesischen Zustands um: Schuld daran trägt Jupiter (die Vatergestalt!), der das eiserne Zeitalter herauf führt, denn: „Cil commenda partir la terre Dont nus sa part ne savoit querre, et la devisa par arpens." Der wars, der die Erde zu teilen befahl, von der doch niemand vorher einen Teil für sich zu fordern dachte; er aber teilte sie in Joch (und Morgen) . . ., nun beginnen Eigennutz und Profit gier ihr Unwesen zu treiben: „Chacun doit avoir envie." Mit dem Stolz, der es nun lernte, auf den anderen herabzublicken, kamen mit großem Auf wand Habsucht und Geiz über die Menschen und damit auch alle anderen Laster (V. 9866—72). Und nun beginnt der durch Egoismus verderbte Mensch, „sich die Erde Untertan zu machen": er gräbt nach edlen Steinen und Metallen, er benennt die Sterne, er erlernt die Rechenkunst, zähmt sich das freie Tier oder verfolgt es als Jäger. Selbst die Anfänge der Kochkunst schreibt Clopinel der neuerwachten Bosheit zu. Endlich ist der Mensch gezwungen, seiner eige nen Lasterhaftigkeit eine Grenze zu setzen. Um der völligen Anarchie zu steuern, sieht man sich nach Schutz und Hilfe um und schreitet in einem ersten „Contrat social" zur Selbstorganisation. „. . . malice, qui fu mere des seignories, dont les franchises sunt peries." Das Böse ist der Ur sprung jeglicher Herrschaft, an ihr geht die Frei heit zugrunde. „Cy povez lire sans desroy, comment fut fait premier roy, qui puis leur jura sans tarder, de loyaulment de leur garder. Ung grant vilain entr'eus eslurent, le plus ossu de quanqu'il furent, le plus cornu und le greignor, si les firent prince et seignor." Hier könnt ihr lesen ohne Umschweif, wie's zuging, als der erste König gemacht wurde: er mußte gleich geloben (seinen Wählern) treulichen Schutz zu bieten. 'nen großen Lümmel hatten sie erkoren, den knochigsten und gröbsten weit und breit, den ungeschlachtesten, den machten sie zu ihrem Pürsten und zu ihrem Herrn. Man muß wohl sagen: desillusionistischer geht es nicht mehr. Und das im 13. Jahrhundert. Nur mühsam kaschiert Clopinel, daß er voll antireligiöser Affekte steckt, daß sein Weltbild nicht mehr christlich, daß es noch notdürftig deistisch ist. Natur und Vernunft liefern das Koordinatensystem seiner Moralität; von den Geboten Gottes ist nicht mehr die Rede. Das Heil der Menschheit wird nicht mehr durch die Erlö sung gewährleistet, sondern ist nur dann zu bewirken, wenn die Gesetze von Natur und Vernunft befolgt werden. In Clopinels Versepos herrscht ein aufklärerischer Enthusiasmus. Gegen alle höheren Stände seiner mittelalterlichen Um welt hat er schwerste Bedenken anzumelden, dafür schlägt sein Herz um so lebhafter für den gemeinen Mann, für den armen Teufel, den ribaus —, denn „maint ribaus ont des cuers si baus portans sac de charbon en grieve que da poine riens ne lor grieve: qu'il en pacience travaillent et balent, et tripent en saillent, et vont a Saint Marcel as tripes ne ne prisent tresor deus pipes, ains despendent en la taverne tout lor gaaing et lor espergne, puis revont porter des fardiaus ... et loiaument lor pain gaaignent.. Viel arme Teufel sind so wohlgemut, daß ihnen keine Bürde Kummer macht, die Kohlensäcke schleppen sie geduldig und rackern ohne Murren, und traben nach St. Marcel zur Gaudi und wetzen hin und her. Sie haben nichts als einen kleinen Dudelsack, und die paar Groschen, die sie sich verdienen, die haun sie auf den Kopf in der Taverne, und eilen wieder ihre Lasten zu tragen, so verdienen sie redlich ihr Brot. Da malt er das Bild des armen Sackträgers, der froh und munter seine Arbeit tut, während seine Ausbeuter, wie Clopinel an anderen Stel len versichert, von Sorge um ihren ungerechten Mammon verzehrt werden: ein Idyll proletari scher Armut, des harmlosen guten Gewissens. Man möchte meinen, daß Clopinel den Scholasti kern an der Sorbonne, aber auch der weltlichen Macht, Königtum und Adel zu einem unerträg lichen Ärgernis geworden wäre. Doch keines wegs. Während evangelientreue Sektierer die

geringste Abweichung von der kirchlichen Lehre mit dem Tode büßten, während der einfache Bürger jede Aufmüpfigkeit gegen den Adel schwer zu bezahlen hatte, blieb Clopinel gänzlich unangefochten. Der Stand, dem er die bittersten Anklagen entgegenschleuderte, die „plus fors", der Hohe Adel, fand im Gegenteil größtes Gefal len an seinem opus. Mit Eifer machte man sich an seine Vervielfältigung, so wanderte es bald durch ganz Frankreich und von hier nach den Nieder landen und England (doch nicht nach Deutsch land), wanderte von Hand zu Hand, von Schloß zu Schloß. Das Ausmaß seiner Verbreitung läßt sich an dem Umstand ablesen, daß es auch heute noch 20 handgeschriebene Exemplare des Rosen romans gibt. Sogar die Zeit konnte dem mon strösen Versepos kaum etwas anhaben: nach Entdeckung der Buchdruckerkunst wurde es flei ßig neuaufgelegt, man zählte allein in Paris 14 Ausgaben während eines Menschenalters. Was machte den Adel so nachsichtig gegen dieses Werk? Zweifellos waren es die zotigen Pas sagen, die die aufrührerischen deckten. In der grobsinnlich entstellten Symbolik des Rosen motivs war ein brisanter Stoff abgelegt worden und wurde als solcher übersehen oder gedanken los hingenommen. Der Rosenroman des Clopinel profitierte vielleicht als erstes Literaturwerk von der speziellen Reizverfallenheit einer Führungs schichte, die nicht wachsam genug war, um die hier geschickt verballhornte geheime Verführung zur Selbstaufgabe zu wittern. Der Vollzug dieser Selbstaufgabe ließ freilich bis zu den Tagen von Beaumarchais und Philipp Egalite noch lange auf sich warten. Es dauerte fünf Jahrhunderte, bis sich die bei Clopinel for mulierte Vor-Aufklärung in tätige Gesinnungen umsetzte; denn die Aufstände, die wir nach Clopinel im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu registrieren haben, zeigen fast alle samt nach wie vor eher Züge eschatologischer Erwartungshandlungen als solche der Rationali tät. Vor allem auf dem Lande blieb jeder Befreiungs versuch im Bannkreis religiöser Motivationen. Auf den starken Konnex zwischen dem großen deutschen Bauernkrieg und der Reformation braucht hier nicht mehr hingewiesen werden. Die Rückkehr zum „reinen" evangelischen Christen tum, die in Luthers Lehre vollzogen schien, muß die in urtümlicheren Verhältnissen lebenden Menschen auf dem platten Lande besonders an gesprochen haben. Der plötzlich aufflammende Zorn auf die alte Kirche, auf den „Papismus", hatte sicherlich tiefe psychologische Wurzeln. Man mißtraute plötzlich, wo man so lange ver traut, man verdächtigte, wo man so lange selbst mitagiert, mitgehofft, mitgeopfert hatte. Das ungeheure eminent kulturträchtige, doch zugleich auch kulturbedingte Gebäude der katholischen Kirche mit allen seinen nachträglichen liturgi schen, theologischen und juristischen Zutaten erschien dem einfachen Mann von heute auf morgen wie ein künstlich angehäuftes Sammel surium ausgemachter Spitzfindigkeiten, von dem er nur allzuleicht annahm, es sei bloß zu seinem Schaden, zu seiner Knechtung und Knebelung ersonnen worden. Darum wollte man „das Bei werk" los- und des Kernes wieder innewerden, wollte einfach und herzlich nichts weiter als Christenmenschen und erlöste Kreatur sein. Darum die Tendenz zur Erwachsenentaufe bzw. Wiedertaufe, die auch dem Sündigsten eine totale Regeneration und ein „neues Leben" verhieß. Um 1520 schlugen die Wogen hoch um Thomas Münzer und die Zwickauer Propheten. Vier Jahre später brach der Bauernkrieg in Schwaben und Franken aus. Er brachte weitere Verwirrung in die ohnehin schon verworrenen Fronten der Reformation. Mächtig wirkte das Beispiel der Schweiz und ermutigte die Aufständischen zu den bekannten zwölf Artikeln, in denen unter anderem die freie Wahl des Ortspfarrers und die Abschaffung der Feudallasten gefordert wur den. Natürlich blieb der gefürchtete und berüch tigte „furor rusticorum" nicht aus. In Goethes „Götz" wird er uns bühnendramatisch vor gestellt. Luthers Entsetzen über die frevelhaften Bauern ist bekannt. So hatten die ungeordneten Bauernheere schon jedes moralische Prestige ver loren, ehe sie sich zu den vernichtenden Schlach ten bei Frankenhausen, Sindelfingen und Königs hofen stellten. Auch im Salzburgischen erlag der Aufstand bin nen kurzem. Nur die Tiroler konnten unter

Michael Gaismayr einige Zugeständnisse errei chen. Aber auch diese wurden später wieder zurückgenommen; die 64 Meraner Artikel, deren Forderungen radikal-sozialistisch anmuten, blie ben selbstverständlich Utopie. Ich komme zum Ende. Was ich mir in diesem Exkurs vorgenommen habe, konnte ich in dem eng gesteckten Rahmen leider nur lückenhaft leisten: ich habe einige Ereignisse aufgezählt, die — jeweils cum grano salis — als Vorläufer und in einzelnen Fällen auch als Wegbereiter des Oberösterreichischen Bauernkrieges zu betrachten sind. Ich konnte auf die Hintergründe der Aufstände kaum oder nur flüchtig eingehen, da ein solches Verfahren eine umfangreiche Publikation erfor dert hätte: die Verhältnisse waren höchst ver wickelt, von Land zu Land verschieden, und in jedem Zeitalter neu modifiziert. Eins sollte mir aber doch gelungen sein: nämlich ein Bild zu entwerfen von dem Feld der Geschichte, auf dem das tragische Geschehen des Jahres 1626 durchaus nicht als vereinzeltes Phä nomen zu notieren ist. Im Gegenteil: wir sehen schon längst da und dort — unter den verschie densten Vorzeichen und doch in einer gewissen Weise miteinander verbunden — die Fanale der Revolten aufleuchten: bald kleine Flämmchen, die bald ausgetreten sind, bald verheerende Eruptionen, die auf gewaltige unterirdische Kräfte schließen lassen und Freund und Feind mit ins Verderben reißen. Trotzdem bleiben auch sie in unserem Raum Zwischenspiele von episo dischem Charakter. Erst die Französische Revolution wird das Klima in dieser Hinsicht auch in Europa ändern. Sicher ist, daß die Bauernrevolten die Macht des Adels schwächten. Die ersten Nutznießer waren nicht die Aufständischen, sondern die erstarken den Strukturen der Staatsmacht. Der Absolutis mus wäre kaum so leicht des Feudalismus Herr geworden, wären an ihm nicht zuvor die grau samen Aderlässe durch die Bauern erfolgt. Erst über diesen Umweg war nach weiteren lan gen Auseinandersetzungen demokratische Frei heit zu konstituieren. tKrauffrddfc^m (er €n0/(rrmr9nfc ^Uer9ert(un((rlf(^f}e (eg 06 (er <fn^: Öle Sluffrärtffc&c ^aurfcliaffi/auff allrtt itberfaUung / au t)erme(n<n. €rfW<c5 geörucft |u Sraticfforf Flugschrift aus dem Jahre 1626; Original in der National bibliothek, Wien.

Der Bauernkrieg in literarischer Sicht Von Adalbert Schmidt Mit 2 Textbildem Seit eh und je hat die Dichtung aus dem reichen Reservoir der Geschichte geschöpft. Geschichte bedeutet zweierlei; das Geschehen als Ablauf von Ereignissen und die Aufzeichnung dieser Vorgänge durch die Historie, die Geschichts wissenschaft. Die Historie als Fachdisziplin ist mit der Aufgabe betraut, aus der unüberseh baren Flut der Geschehnisse das ihr wichtig Scheinende herauszuheben und in gemäßer Art darzustellen. Als Nachgestalterin des Geschehe nen kann auch die Geschichtswissenschaft künst lerisch verfahren, sie ist Reproduktion ebenso wie Produktion, und also hat auch der Historiker Anteil am schöpferischen Prozeß. Um wieviel mehr der Dichter, der die Sicht auf die Vorgänge mit der Tiefenschau seiner intuitiven Erkenntnis verbindet. Solche Erkenntnis ist der wissenschaft lichen Betrachtung keineswegs unterlegen: „Die Dichtung analysiert den Menschen nicht, sondern sie stellt ihn dar. Ihre Darstellung kann Ergeb nisse wissenschaftlicher Analysen enthalten, die sich der Dichter angeeignet hat, sie kann auch ohne solche Kenntnisse allein aus privater Er fahrung und Intuition schöpfen — das ist ohne Belang. Denn nicht auf die wissenschaftliche Haltbarkeit, sondern auf die dichterische Über zeugungskraft ihres Menschenbildes kommt es an. Wodurch es überzeugt oder zu seiner Zeit überzeugt hat, ist freilich generell nicht zu sagen, weil die Kriterien mit den Epochen wechseln. Vorausgehen mußte aber wohl zu allen Zeiten der Eindruck, das Bild sei wahr, weil es die Wirklichkeit des Menschen treffe^." Die Kriterien wechseln mit den Epochen. Das wird den Dichtern der jeweiligen Zeit zu einer Erfahrung, wie sie unter anderen Heimito von Doderer (1896—1966) besonders bewußt gewor den ist. Doderer war auch Historiker — er hat immer mit Stolz hervorgehoben, daß er Mitglied des Instituts für österreichische Geschichtsfor schung sei — und meint, man müsse Geschichte sehen wie eine erweiterte eigene Vergangenheit. So wie ein Mensch im Laufe seines Lebens zu manchen Teilen seiner Vergangenheit eine lebendigere Beziehung gewinnt als zu anderen, die ihm gleichgültig bleiben, so ergeht es ihm und seiner Generation mit der Geschichte: „Jedes Zeitalter hat seine Vorlieben unter den vorhergegangenen Perioden, und das nennt man dann Renaissance oder Romantik oder Klassi zismus oder sonstwie ... an solchen Kehren leben ganze Völker und Kulturkreise dicht an einem früheren Abschnitte, ja tatsächlich viel näher als etwa am Jüngstvergangenen. Gebärden und Fühlweisen und Denkweisen kehren wieder, und selbst die Landschaft wird in der wieder erwachenden Art von ehemals gesehen; jedoch auch diesmal ist's ja etwas gänzlich Neues, Frisches — und so wird es auch erlebt! —, denn eigentliche Wiederholungen gibt es nicht. Jedes mal aber muß die ganze Vergangenheit neu geordnet und gesichtet werden, da ja jedesmal ihr Schwerpunkt, nach welchem sich alles richten muß, anderswohin verschoben ist: nämlich in eine andere Gegenwart, und das heißt aber zugleich auch in einen anderen, jetzt tief innerlich verwandten und höchst gegenwärtigen Teil der Vergangenheit. Deshalb ist jede echte Geschichtsschreibung, wie ein großer Denker ge sagt hat, Geschichte der Gegenwart, mag sie auch jeweils mit Römerzeiten oder dem hohen Mittelalter oder irgendeiner anderen Zeitspanne sich befassen. Nein, die Vergangenheit ist nichts Festliegendes, wir gestalten sie immer neu^." Der Dichtung ist damit im besonderen ein weites Feld eröffnet. Geschichtliche Dichtung w'rd zu einer Mischform, in der dichterische, geschicht liche und biographische Aspekte einander durch dringen. Die Grenzen zwischen dichterischer Ge staltung und historischem Porträt sind oft fließend. Der geschichtliche Gegenstand kann für den Darsteller verschieden sein: Er kann einer historischen Einzelperson gelten oder dem Zeit bild einer Epoche mit erfundenen Gestalten. Die Darstellung kann auf Chronikal'sches oder Psychologisches, auf Ideengeschichtliches, Kultur oder Sozialgeschichtliches abgestimmt sein. Oft liegt alles Historische nur als Maske über Per sonen und Ereignissen, die die Gegenwart bewe gen. Trotz solcher Zwitterbildungen vermag ' Wolfgang Binder: Das Bild des Menschen in der modernen deutschen Literatur. Schriften zur Zeit im Artemis Verlag, Heft 31, Zürich 1969, S. 7. ^ Heimito von Doderer: Die Dämonen. Nach der Chro nik des Sektionsrates Geyrenhoff. Roman. München 1956, S. 109 f.

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