OÖ. Heimatblätter 1975, 29. Jahrgang, Heft 1/2

Beispielsweise ist aus dem Französischen im Zusammenhang mit dem Vorkommen des bestimmten Artikels das Elision- und LiaisonPhänomen bekannt. Im Französischen ist im Gegensatz zum Deutschen bei der Verwendung des bestimmten Artikels darauf zu achten, ob das nachfolgende Substantiv vokalisch anlautet oder nicht43 . Wenn das Substantiv vokalisch anlautet, ist im Singular die Artikelform l' statt le bzw. la zu verwenden. Im Plural wird die Form les mit dem nachfolgenden Substantiv gebunden44 . Das Italienische kennt ebenfalls das Phänomen der Elision und es wird ähnlich gehandhabt wie im Französischen. Nur im Plural wird vor vokalisch anlautenden Substantiven, die maskulin sind, statt i die Artikelform gli verwendet: gli italiani, aber le anime. Die Liaison kennt das Italienische nicht. Allerdings gibt es im Italienischen mehr Kontraktionen als im Französischen: vgl. z. B. del, dal, nel usw. Eine typisch italienische Eigenheit ist auch die Artikelsonderform vor einem sogenannten s impurum: z. B. lo scolaro, gli sportivi. Schwieriger und komplizierter als im Französischen und Italienischen und ähnlich wie im oö. Dialekt gestaltet sich das Artikelphänomen im Portugiesischen. Das Portugiesische macht besonders häufig von der Liaison Gebrauch. Zum Unterschied vom Französischen aber werden die beiden Artikelformen des Plurals os und as nicht nur an das nachfolgende Substantiv gebunden, sondern der Endlaut der Artikelformen [S] wird je nach Lautcharakter des substantivischen Anlautes zu einem [z] oder [3]. Auch die beiden Singularformen o und a können phonotaktisch bedingt ihren Lautcharakter ändern45 . Auch wenn die Bildung des bestimmten Artikels im Portugiesischen nur relativ schwierig in den „Griff zu bekommen" ist, so handelt es sich doch in dieser Sprache nur um „leichte Umwandlungen" der Formen des bestimmten Artikels unter bestimmten Bedingungen. Der oö. Dialekt hingegen kennt mehr solche Umwandlungen und vor allem sind diese Umwandlungen - sprich Realisierungen phonotaktischer Natur - im Oberösterreichischen „radikaler". Während das Französische und vor allem Portugiesische bestimmte Artikelformen unter bestimmten phonotaktischen Bedingungen an das nachfolgende Substantiv bindet - bei leichten Änderungen der Artikellautung im Portugiesischen (vgl. weiter oben) -, läßt der oö. Dialekt die Artikelformen teilweise in der Anlautung des Substantivs „aufgehen", so daß man nicht mehr bloß von einer Bindung (Liaison) sprechen kann. Man müßte für dieses eigenartige Phänomen des oö. Dialektes, das ich als phonotaktische Artikelbildung bezeichnet habe, einen neuen bezeichnenderen Terminus.ersinnen46 . Wir haben weiter oben auch gesehen, daß die phonotaktisch gebildeten Artikelformen auch eine speziell geregelte syntaktische Verwendung haben, was nicht unerheblich zur weiteren Komplizierung des Phänomens beiträgt. Eigentlich muß man unsere im Dialekt „aufgewachsenen" Schulkinder bewundern, daß sie ohne viele Schwierigkeiten die Umsetzungsprozesse in das Deutsche bewältigen. Wahrscheinlich fällt ihnen die Umsetzung nur deshalb leicht, weil das deutsche Artikelsystem so einfach ist. Bewunderung aber muß man diesen Kindern auf jeden Fall dafür zollen, daß sie als spracherlernende Kleinkinder etwa im Alter von zwei Jahren scheinbar mühelos die Beherrschung des hier in aller Ausführlichkeit beschriebenen dialektalen Artikelsystems erlernt haben47 . 43 Der Ausländer hat hierbei .Schwierigkeiten mit ,dem G11aphem h, das nicht immer ,a,ls vo~aJischer Anlaut .betrachtet werden kann. 44 Zu beachten ist auch noch, daß die Formen des bestimmten Artikels mit den Präpositionen de und a kontrahiert werden: z. B. du, aux usw. 45 Das Portugiesische kennt übrigens auch kontrahierte formen •aus Artikel und Präposition, allerdings nicht so viele wie das Italienische. Für eine genaue Beschreibung der portugiesischen Verhältniss·e ,in Fragen der Artikelbildung vgl. H. Krenn u. M. A. Mendes (1971) Modemes •Portugiesisch. GJ:1ammatik und Lehrbuch. Tübingen. 46 Auf jeden f.all sollte man m. E. diesem Phänomen auch in der Graphie Rechnung tragen, indem man n'icht einfach mehr d ' schreibt. 47 Auf Grund eigener Forschung konnte ich feststellen, daß ein 18 Monate altes Kind bereits zur Hälfte unser kompliziertes Artikelsystem behen,schte. Vgl. hier,zu H. Krenn (1974) <Beobachtungen zur syntaktischen Entwicklung ,eines zweijäh!1igen Kindes. Vortrag zum ,,Ersten 5alzburger Kolloquium über Kinder.sprache", Salzburg 6.-8. 12. 1974. 37

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