natürlich auch gesagt werden, daß die gegenteilige Auffassung von Dialekt - jedenfalls in bestimmten Kreisen - auch nicht wenig verbreitet ist. Nämlich die Auffassung, daß Dialekte an Ausdrucksmitteln reicher sind als die Hochsprache. Ich möchte diese ebenfalls unrichtige Auffassung als Abundanz-Hypothese bezeichnen. Urteile und Konzeptionen dieser Art sind wissenschaftlich genauso wenig haltbar bzw. beweisbar wie die häufig vorgetragene Meinung, eine bestimmte Sprache sei „schöner" oder ,,schwerer" als eine andere. Es wäre ein leichtes, alle diese Fehlbewertungen ad absurdum zu führen. Ich will es hier nicht tun. Jedenfalls öffnet derjenige, der solche Auffassungen ernsthaft vertritt, einem subjektiven Realismus schlimmster Sorte Tür und Tor. Bei meinem Versuch, den Dialekt aufzuwerten gegenüber einer verfehlten Defekthypothese möchte ich nur soweit gehen zu behaupten, daß der oö. Dialekt eine autonome und in sich (das heißt: ohne fremde Hilfe) voll funktionierende Sprach- und Kommunikationsform darstellt. Vielleicht wird auch diese wissenschaftlich leicht zu rechtfertigende Aussage als außergewöhnlich empfunden. Die Annahme, daß der oberösterreichische Dialekt als ein autonomes Sprach- und Kommunikationssystem betrachtet werden kann, das heißt, daß es durchaus jemanden gibt, der ihn als einzige Sprachform beherrscht, impliziert die Übertragung grammatisch-theoretischer Aussagen auf den oö. Dialekt. Ich möchte hier nur einige nennen: Im oberösterreichischen Dialekt können - wie in jeder anderen natürlichen Sprache - theoretisch unendlich viele Sätze gebildet werden. Jemand, der für den oö. Dialekt kompetent17 ist - und wir Oberösterreicher sind fast alle nur bezüglich unseres Dialektes kompetent -, kann auf oberösterreichisch unendlich viele Sätze bilden und verstehen. Ein kompetenter Sprecher des Oberösterreichischen macht in seinem Dialekt keine Fehler, solange er sich im Idealzustand des kompetenten Sprecher-Hörers befindet. Was auf oberösterreichisch grammatisch ist, kann jeder kompetente Sprecher dieses Dialektes bzw. dieser Sprachform bestimmen und angeben. 30 Das Oberösterreichische hat eine oftmals vom Deutschen stark Grammatik18 . spezielle und abweichende Meine nachfolgende Beschreibung des oö. 1Artikelsystems versteht sich als ein Baustein zur Erstellung einer oö. Grammatik. Um etwaige Mißverständnisse auszuräumen, möchte ich noch darauf hinweisen, daß die meisten Einwohner von Oberösterreich zwar nur für e i n Sprachsystem kompetent sind, das heißt, für den oö. Dialekt, daß sie aber fast alle gleichzeitig für ein zweites Sprachsystem, nämlich das gesprochene Hochdeutsche, quasi-kompetent sind. Die Einwohner Oberösterreichs, die in diesem Bundesland sprachlich 11aufgewachsen" sind, beherrschen das dialektale Sprachsystem perfekt, das hochdeutsche oder kurz deutsche relativ gut, aber nicht perfekt. Ein normaler Oberösterreicher kann natürlich wie jeder andere ganz kompetente Sprecher des Deutschen theoretisch unendlich viele Sätze auf deutsch bilden und verstehen und vieles andere mehr, aber er verfügt nicht - das folgende ist eine generell gehaltene Behauptung - über alle Eigenschaften des deutschen 11native speakers". Beispielsweise könnte der oö. Sprecher des Deutschen manchmal bei der Grammatikalitätsfeststellung zu bestimmten deutschen Äußerungen Schwierigkeiten bekommen und Fehlentscheidungen treffen gegenüber seinem deutschen Partner. Der Oberösterreicher wird vielleicht den nachfolgenden Satz akzeptieren, der deutsche kompetente Sprecher würde es nicht tun: Daß die von Löffler hier referierte Defekt-Hypothese verfehlt ist, scheint außer Zweifel zu stehen, wenn man die Ergebniss•e der neueren Grammatiktheorie beherzigt. So zum Beispiel besagt die Feststellung einer mangelhaften Ausstattung an irgendeiner Stelle der Grammatik noch lange nicht, daß ein Defekt vorliegt. Es könnte ja an einer anderen (vielleicht noch unbekannten) Stelle der Grammatik eine überreiche Auss-tattung vorli,egen. Außerdem i·st von einem Ausstattungsdefekt durchaus noch keine mindere Bewertung zurecht ableitbar. 17 Kompetent im Sinne der generativ-transformationellen Grammabiktheorie. 18 Vgl. weiter oben. Wie die Grammatik des Oö. im einzelnen auss•ieht, ist noch lange nicht erforscht. Ich wollte hier nur auf eill!ige eigenständige grammatische Phänomene hinweisen.
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