abweichender Form als eigentliche Muttersprache erlernt wird, könnte man sogar so weit gehen zu behaupten, die spätere Erlernung des Hochdeutschen sei nichts anderes als die Erlernung der ersten Fremdsprache. Die Entscheidung darüber, ob die hochdeutsche Sprache gegenüber sehr dialektalen Sprachformen als Fremdsprache beziehungsweise Quasi-Fremdsprache zu bewerten ist, kann nur von einer wissenschaftlich-vergleichenden Sprachtypologie getroffen werden. Es handelt sich hier um das alte aber immer noch ungelöste Problem, ab welche; Stufe man eine bestimmte 11eigenwillige" Sprachform als eigene Sprache betrachten kann. (Vergleiche hierzu beispielsweise die Bewertung des Rätoromanischen [oder Ladinischen] in der Geschichte der Sprachwissenschaft selbst!) Letztlich ist das Problem eine Definitionsfrage, deren exakte Kriterien allerdings noch nicht erstellt sind. Niemand wird natürlich die Zugehörigkeit des oberösterreichischen Dialektes zur deutschen Sprachfamilie in Abrede stellen wollen. Die Linguistik wird wahrscheinlich auch nie zu einem anderen Ergebnis kommen. Trotzdem soll hier nicht verschwiegen werden, daß sich eine nicht unbeträchtliche Zahl von Phänomenen im ober- . österreichischen Dialekt benennen läßt, die zugunsten einer Ausklammerung des oberösterreichischen Dialektes jedenfalls aus dem deutschen Sprachverband sprechen. Im folgenden will ich nur stichwortartig einige dieser Phänomene aufzählen. Ihre genaue Beschreibung beziehungsweise ihre Erweiterung muß einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben. Der oberösterreichische Dialekt hat in seinem phonologischen System beispielsweise eine Vielzahl von Nasallauten, die die hochdeutsche Sprache nicht kennt. Das phonologische System des Oberösterreichischen hat damit nicht nur ein ganz anderes "Gesicht", sondern 'ist auch ,,innerlich" ganz anders strukturiert. Der oberösterreichische Dialekt weicht auch in sehr wichtigen grammatischen Phänomenen, wie zum Beispiel der Reflexivierung, der Syntax der Personalpronomina und der Grammatik des Infinitivs, stark vom Hochdeutschen ab. Damit sind aber nur einige wenige Erscheinungen benannt. In der Frage der Reflexivierung nach Präpositionen geht der oberösterreichische Dialekt gemeinsam mit dem Englischen7 • Vergleiche hierzu folgende Gegenüberstellung: oö. Dialekt: Eri re<lb näl:ta va e.ahmi selm8 Englisc;h: Hei talks only about himselfi Hochdeutsch: Eri spricht" nur. -von sich (selbst) Wenn ein reflexiver Sachverhalt (vgl. Anm. 8) bezeichnet werden soll, muß im oö. Dialekt und im Englischen selm bzw. -self zum Personalpronomen eahm bzw. him hinzugefügt werden9 • Im Hochdeutschen ist in diesem Fall der Gebrauch des Personalpronomens ihm untersagt. Wenn man den obigen Beispielsatz auch in andere Personen transponiert, wird deutlich, daß es im oö. Dialekt genau wie im Englischen ein Reflexivpronomen für jede Person des Singulars und Plurals gibt: mi selm etc.: myself etc. Daß diese Reflexivpronomina im oö. Dialekt und im Englischen nach Präpositionen unter den gleichen Bedingungen verwendet werden, könnte anhand einer eingehenden Beschreibung der Reflexivierung gezeigt werden10 . Vergleiche in diesem Zusammenhang noch folgende Beispiele für Nicht-Reflexivierung im oö. Dialekt und Englischen, und für Reflexivierung im Hochdeutschen: oö. Dialekt: Englisch: Hochdeutsch: Erj legt s'Buach neben eahmi hin. Hej kept it near himj. Erj legt das Buch neben sichj, Die Tatsache, daß sich der oö. Dialekt und Englisch hinsichtlich des Gebrauchs der Reflexivpronomina gleich verhalten, könnte übrigens didaktisch ausgenützt werden. Man schlage nur eine englische Grammatik oder ein Englisch7 Gemeinsamkeiten mit der englischen Sprache lassen sich auch häufig im Bereich des Lexikons feststellen: z. B. oiwei : always : immer (veraltet : alleweile), aft : after : dann. 8 Durch die Indizierung mit i witd ,angedeutet, daß ein reflexiver Sachverhalt vorliegt, ,das heißt, ,daß sich die indizierten •Wörter auf .ein und ,dieselbe Person beziehen. 0 Meines ,Erachtens ist die Schreibung eahmselm vorzuziehen. In Dialekttexten werden ,das ,Personalpronomen und selm allerdings gewöhnlich getrennt ge• schrieben. 10 Vergleiche hierzu H. Krenn (1975) Zur Reflexivierung im Neuhochdeutschen und in -einem mittelbairischen Dialekt. ,,Somatische" und „asornabische" Präposi'l'ionalphrasen. Erscheint in: Orbis. 27
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