Deutlicher Ausdruck dieser Stimmung ist etwa die Tatsache, daß innerhalb der politischen Lin ken vorerst der Räteflügel und Rätetendenzen stärker zum Durchbruch kommen als der Flü gel der demokratischen Sozialisten oder die Ge werkschaft. Dieses Hin- und Herschwanken von zwei fast gleich starken Gruppen im Bereich der politischen Linken beherrscht das letzte Viertel jahr des Jahres 1918, das ganze Jahr 1919, und erst 1920 senkt sich Schritt für Schritt die Waage zugunsten der demokratischen Sozialisten. Dann allerdings fällt im Verlauf des Jahres 1921 die Bedeutung der Arbeiter- und Soldatenräte, auch die der rasch und sorglos aufgestellten Volks wehr in sich zusammen. Die Normalisierung der Lebensmittelversorgung mag ebenso Anteil ha ben wie das Erstarken der Gewerkschaft und die Errichtung der Arbeiterkammer. Vorerst aber ist der Einfluß der russischen Ok toberrevolution über russische Kriegsgefangene wie über österreichische Kriegsheimkehrer auch in Oberösterreich unverkennbar. „Wir wollen es russisch machen", hatte man bei Kriegsende in Steyr gerufen®. Und noch nach der ersten Plün derungsaktion hieß es beim Linzer Arbeiterrat im Feber 1919, „daß wir nur das schützen, was in unserem Interesse liegt, aber nicht jene Leute, welche uns ausbeuten. Der jetzige Staat ist nicht wert, daß man ihn schützt^." Diese Stellung nahme entspricht etwa der, in der die Aufgabe der Arbeiterräte Oberösterreichs definiert wird: „Die Proletarier haben sich in den Arbeiterräten eine wirkungsvolle Waffe zur Bekämpfung des kapitalistischen Systems geschaffen, sie als sol che auch anerkannt und werden sich ihrer auch bedienen, bis der sozialistische Staat geschaffen ist®." Nun mögen das vielfach auch nur große Worte gewesen sein, sie zeigen doch jene Stim mung, die in Oberösterreich in den ersten zwei einhalb Jahren nach Kriegsende mehrmals zu Explosionen geführt hat. Neben Hunger und Kälte und dieser revolutio när-anarchistischen Gesinnung ist es vor allem das Sicherheits-Vakuum in den Städten, das die Plünderungen zwar nicht verursacht, aber eben auch nicht verhindern kann, vielleicht aber dazu ermuntert. Von den ersten Nachkriegstagen an baut man in Oberösterreich vor allem die Gen darmerie systematisch, wenn auch nicht hyper troph, aus. Und hier ergeben sich gleich die er sten Überschneidungen mit der Volkswehr, de ren Planung ebenfalls je Bezirk ein VolkswehrBataillon vorsieht. Es ergeben sich auch sofort die ersten Spannungen, etwa wenn ein junger Volks wehr-Leutnant einem alten Gendarmen unter stellt wird oder umgekehrt. Vor allem aber weiß man in diesen ersten Wochen gar nicht, welche Aufgaben dieser neuen Volkswehr zugedacht sind: eine bessere Arbeitslosenfürsorge — wie es auch in Oberösterreich mehrfach definiert wird —, eine Grenzschutztruppe oder etwa auch eine Einheit, die der inneren Friedenssicherung dienen soll. Gibt es also am flachen Land Kom petenzüberschneidungen, so gibt es in den Städ ten, vor allem in Linz, Steyr, aber auch in Wels, ein Kompetenz-Vakuum, denn hier ist eigentlich weder Volkswehr noch Gendarmerie zuständig, und die städtischen Sicherheitswachen fallen kaum ins Gewicht. Mag auch das Aufeinander prallen von Volkswehr und Gendarmerie vor allem in Steyr sichtbar werden, wo sich anläß lich der dortigen Ausschreitungen und Plünde rungen unter den zwei Toten ein Gendarmerie schüler befindet, so sind auch in Linz und auch noch im Jahre 1920 die Spannungen unverkenn bar, so etwa wenn das „Tagblatt" über die Vor fälle schreibt: „Mittlerweile war auch die Gen darmerie am Platz erschienen und nun nahmen die Ausschreitungen einen gefährlichen Charak ter an. Wer die Gendarmerie zur Assistenz be rufen hat, ist momentan noch nicht festgestellt, jedenfalls war es ein grober taktischer Fehler, die unbeliebte Gendarmerie der aufgeregten Menge gegenüberzustellen. Jedem Einsichtigen war es klar, daß die Menge noch mehr gereizt würde®." Tatsächlich aber ist auch der Einsatz der Volkswehreinheiten in Linz und in Steyr ein Fiasko, und das aus vielerlei Gründen: einmal ist es die völlig imgeklärte Befehlsgewalt zwi schen Offizieren und Soldatenrat, die den Ein satz bestenfalls verzögert. Bezüglich Linz wird von sozialistischer Seite vor allem der Landes- ' Hans Witzany, in: Oberösterreich und die NovemberRevolution 1918. Linz 1928, 83. ' LTgbl. 1919, Nr. 107. ® LTgbl. 1919, Nr. 29.
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