Zum Verständnis der mittelalterlichen Urkundenfälschungen (Mit Beispielen aus dem bayerisch-österreichischen Raum) Von RudolfZinnhobler Der Aufsatz will ein Beitragzum Verständnis mittelalterlicher Urkundenfälschungen sein. Sein Zweck ist nicht Apologie, sondern der Versuch, die Geschichtlichkeit des Menschen ernst zu nehmen, das heißt, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß zu verschiedenen Zeiten auch verschiedene Einstellungen, Überzeugungen und Handlungsweisen für richtig und erlaubt gehalten wurden. Originalität wird nicht angestrebt. Es geht eher um eine übersichdiche Zusammen stellung auch bisher schon geäußerter Thesen und um deren Erprobung an Hand heimischer Fälschungsbeispiele. Einleitend soll kurz auf die Häufigkeit mittelalterlicher Falsifikate hingewiesen und einige Stellungnahmen von Historikern der Jahrhundertwende zitiert werden. In einem ersten Hauptteil sei dann eine Reihe von Fälschungen aus unseren Gegenden vorgeführt und die Umstände aufgezeigt, unter denen sie entstanden sind. Dieser vielleicht etwas trockene Abschnitt dürfte unerläßlich sein,sollen die Ausführungen des zweiten Haupt teils, in dem der Versuch unternommen wird, einige Maßstäbe der Bewertung aufzuzeigen, nicht in der Luft hängen. Daß im Mittelalter zahlreiche Urkunden gefälscht oder verfälscht wurden, ist eine all gemein bekannte Tatsache. Bresslau gibt in seiner Urkundenlehre an, daß etwa 50% der Merowinger-Urkunden, 15% der Karolinger-Urkunden und 10% der Urkunden der ersten Sachsenkönige als spätere Fälschungen anzusprechen sind'. Bei den Urkunden für geistliche Empfanger gelten bei den vor dem 12. Jh. datierten Dokumenten gar gegen zwei Drittel als teilweise oder ganze Fälschungen''. Das Faktum der Urkundenfälschungen steht aber nicht isoliert da. Auch unechte Reliquien und erdichtete Heiligenviten waren in großer Zahl im Umlauf®. Man hat daher das Mittelalter abwertend das Zeitalter der Fälschungen genannt*. Nun ist das das gleiche Zeitalter, das wir als eine eminent gläubige Zeit kennen, das Zeitalter, dessen Lebensäußerungen zutiefst von der Religion geprägt waren. Würden wir mit heutigen Maßstäben messen, so kämen wir zu einem vernichtenden Urteil. Das Mittel alter müßte als eine überaus heuchlerische Epoche, die sich zwar fromm gab, dabei aber zum eigenen Vorteil bedenkenlos schwindelte und fälschte, beurteilt, ja verurteilt werden. Bedenkt man weiterhin, daß diejenigen, die ex offo zu Hütern und Kündern der Wahrheit bestellt waren, die Geistlichen bis hinaufin die höchsten Ränge der Hierarchie,das Haupt kontingent der Fälscher ausmachten®, scheint man vor eine vollendete Aporie gestelltzusein. Die pseudo-isidorischen Dekretalen (um 850) gehen auf fränkische Kleriker zurück. Die sehr bekannten Lorcher Fälschungen sind von dem tüchtigen,ja als Heiligen verehrten Passauer Bischof Pilgrim (971-991) - anscheinend eigenhändig - hergestellt ^ H. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre, 3. Aufl., Berlin 1958-1960. ® A. V. Brandt, Werkzeug des Historikers(= Urban Bücher 33), Stuttgart 1958, S. 120. 'K. Schreiner, „Discrimen veri et falsi". Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquien verehrung des Mittelalters. Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966) 1-53. H.Fichtenau, Zum Reliquienwesen im frühen Mittelalter, MIÖG 60(1952) 60-89. * Vgl. Horst Fuhrmann,Die Fälschungen im Mittelalter, HZ 197(1963)532f. 'Bresslau, a. a. O., 11;Fuhrmann,a. a. O.,535. 21
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