OÖ. Heimatblätter 1968, 22. Jahrgang, Heft 3/4

zens der Dachsteingletscher zusammenhängenden Oscillationen des Waldbaches gab den Anstoß, von meinem ersten winterlichen Besuche des Karls-Eisfeldes zu sprechen und dabei eine Eishöhle zu schildern, durch welche es mir gelungen war, unter dem Gletscher eine bedeutende Strecke vorzudringen. Da wegen des strömenden Regens eine Unternehmung ins Freie gar zu abenteuerlich gewesen wäre, lud ich Stifter ein, sich indes bei mir häuslich niederzulassen. Mit ganz besonderem Interesse betrachtete er nun in meinem Heim lange ein von mir ziemlich treu gemaltes Bild jener Gletscherhöhle, von welcher ich ihm erzählt hatte. Plötzlich sagte er: ,Ich habe mir jetzt das Kinderpaar in diesen blauen Eisdom versetzt gedacht; welch ein Gegensatz wäre dies liebliche, aufknospende, frisch pulsierende Menschenleben zu der grauenhaft prächtigen, starren, todeskalten Umrahmung! Vielleicht stehle ich Ihnen einmal dieses Bild, wenn Sie nicht vorziehen, es selbst unter die Leute zu bringen/ - Nun, er hat es später auch im ,Bergkristall‘ unter die Leute gebracht und so unnachahmlich schön, daß es kein Mensch schöner hätte fertigbringen können.“ Soweit berichtet uns Friedrich Simony. Handlung und Inhalt der Erzählung „Bergkristall“ sind einfach wie fast bei allen Erzählungen Stifters. Wie im Kindermärchen werden auch hier zwei Kinder, der ältere Knabe Konrad und sein jüngeres Schwesterchen Sanna am Weihnachtsabend aus dem Dorfe Gschaid - am Gars gelegen - man wird dabei an Gosau denken dürfen - aus der behüteten Ordnung der häuslichen Gemeinschaft über das Gebirge - den „Rais“ - bei strahlend schönem Wetter zu den Großeltern nach Millstatt geschickt, und sodann von diesen, mit Geschenken und stärkendem Imbiß bedacht, wieder rechtzeitig auf den Heimweg gebracht. Und nun hebt die grandiose, in unserer Literatur wohl einzig dastehende Schilderung der einsamen Bergwanderung durch Schnee und Eis der beiden Kinder an: Ein leiser Schneefall setzt ein, der stärker und stärker wird und ihnen bald die Sicht des Weges raubt und sie in Einsamkeit und Irre führt. Sie glauben bergab zu gehen und gehen bergauf, vom verschneiten, unwegsamen Gelände verführt. Immer wieder kommen in der Erzählung über zwei Blattseiten hin die Worte vor: „Sie wollten, sie versuchten, aber sie konnten nicht!“ Das Hinauf wird ein Bergab, das Vorwärts ein Zurück, Bewegung im Kreis wird ein Bleiben am Ort und Täuschung. „Sie wollten jenseits wieder hinab klettern“ heißt es, „aber es gab kein Jenseits!“ Endlich gelangen sie, durch die ragenden Felsen zu beiden Seiten gezwungen, in ein großes Eisgewölbe, in die Eishöhle unter dem Gletscher, die blau ist wie nichts auf der Welt, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas. Von dem schreckbaren Blau, dem dämonischen Widerschein des Firmamentes, geängstigt, fliehen die Kinder aus der Eishöhle. Aber sie sind, wohin sie sich auch wenden, von neuen starrenden Eiswänden umgeben, die ihnen den Weg verstellen. Endlich nach langem Herumirren finden sie eine Felshöhle, in welcher sie die Nacht zubringen können. In der ungeheuren lastenden Stille der Eiswelt hören sie das schreckliche Krachen des Eises, als würde die Erde unter ihnen bersten. Aber diese Urstimme der chaotischen Naturmächte hält sie wach und scheucht ihren Schlaf, der ihnen den sicheren Tod brächte. Das Schneien hat indessen aufgehört. Mit offenen Augen starren sie in die unendliche Sternenwelt hinauf, in deren Bogen der grüne Schimmer eines Nordlichtes erblüht, in dem die kleine Sanna den heiligen Christ zu erblicken glaubt. Unten in den Tälern der Menschen erklingen die Weihnachtsglocken, aber die Kinder hören sie nicht. Endlich beginnt es zu tagen. Die Natur und ihre unheimliche Macht, die sie wach gehalten hat, läßt sie nun in der Tiefe in klarer Morgenfrühe die Zeichen der Bewohner von Gschaid erkennen, die in treuer Gemeinschaftshilfe sie suchen gingen. Sie werden in die Ordnungswelt des Dorfes und des Heimes wieder zurückgebracht. Die Welt weiß wieder um das Weihnachtswunder, das die Verirrten durch die Macht der Natur und die Beharrlichkeit der Kinder gerettet hat. Wo alle Sinne und alles Wissen versagten, da blieb den Kindern, in ihrer Unwissenheit selbst ein Stück und ein Kleinod der Natur, nur die unerschütterliche Zuversicht, mit der der unablässig suchende und vorwärts strebende Knabe auf seiner Bahn beharrt und sich für die jüngere Schwester verantwortlich fühlt, und das Mädchen ihm in unerschütterlichem Glauben und Vertrauen folgt. Das in aller Wirrsal immer wieder auf klingende Wort „Ja, Konrad“ des Mädchens klingt dem Leser wie eine friedvolle Weihnachtsglocke über der chaotischen Eiswelt und schwingt in die weite lichtzitternde Flut des Himmels hinein. Im „Bergkristall“ zeichnet Stifter letzte und entscheidende Gefahr und bringt das unendliche Schweigen der Eiswelt zum Klingen mit geringen Mitteln seiner wunderbaren Sprachkunst. Alle Eigentümlichkeiten seiner großen Kunst sind hier zur vollen zwingenden Wirkung vereint. Von seinem bedeutungsvollen Ausflug ins Hochgebirge und zu seinem Jugendfreund wieder in seinen Sommeraufenthaltsort nach Linz zurückgekehrt, schrieb Stifter dann im „Gstöttnerhof“, der heutigen Spiritusfabrik Kirchmayr in Urfahr, „im nettesten Bauernhaus in absoluter Muße und Stille“, wie er berichtet, die Novelle nieder. Die Wiener Zeitschrift „Die Gegenwart“, der er die Erzählung zum Druck überließ, kündigte diese bereits in ihrer Oktoberfolge des Jahrganges 1845 mit den Worten an: „Der liebenswürdige Stifter lebte 5

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2