OÖ. Heimatblätter 1966, 20. Jahrgang, Heft 1/2

Hermann Strobach: Bauernklagen. Untersuchun gen zum sozialkritischen deutschen Volkslied. Ver öffentlichungen des Instituts für deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Band 33, Akademieverlag, Berlin 1964. 438 Seiten, 9 Karten. Mit der berühmten Formel vom „gesunkenen Kultur gut", nämlich den Schöpfungen der Zeitstile der Hochkunst, die mit entsprechender zeitlicher Phasen verschiebung und in stilistischer und z. T. auch inhalt licher Verändenmg in den Kulturbesitz der breiten Massen der Bevölkerung gelangen und hier neben den zahlenmäßig weniger ins Gewicht fallenden „primitiven Gemeinschaftsgütern" die Hauptmasse der kulturellen Ausdrucksformen des „Volksmenschen" ausmachen, konnte Hans Naumann^ in brillanten Veröffentlichungen jahrzehntelang faszinieren. Allent halben suchte man, vor allem in der Volksliedfor schung, nach den aus der Feder bekannter Dichter stammenden Vorbildern, die, oft durch Hörfehler oder mißverstandene Einzelstellen verstümmelt — „zersungen" -, in mehr oder weniger zahlreichen Varianten volkläufig wurden und damit in jene spezifische literarische Gattung Eingang fanden, die die Forschung als „Volkslieder" bezeichnet. Aber früh schon riefen die geradezu provokanten Formulierungen vom „Volk, das nicht produziert, sondern reproduziert", den Widerspruch bedeutender Fachleute, so in Österreich V. d. Gerambs, hervor, die mit Recht darauf hinwiesen, daß die nicht zu leugnende Übernahme zahlreicher Elemente der Schöpfungen der geistig höherstehenden Schichten durch das Volk sich in Wahrheit in Form eines Aus lese- und (z. T. unbewußt gezielten) Umwandlungs prozesses vollziehe, durch den das betreffende Kultur gut dem Geschmack des Volksmenschen und der ländlichen Situation zur Zeit der Übernahme angepaßt werde, was einer Art schöpferischer Neugestaltung gleichkomme, wie dies u. a. an zahlreichen Erzeug nissen der bäuerlichen Möbelkunst und der Volkstracht unschwer abzulesen sei. Für das Volkslied, für dessen Erforschung sich die Thesen Naumanns und nicht weniger auch die ihnen vorausgehenden Werke John Meiers® als besonders fruchtbar erwiesen, aber gab J. Schwietering® zu bedenken, daß neben Herkimft und Variantenbildung vor allem auch die Frage nach der funktionellen Stellung der Volkslieder zu berücksichtigen sei, die diese innerhalb der sie tra dierenden Gemeinschaften einnehmen, sofern nämlich die Ausgangsposition der Untersuchung nicht eine literarhistorische, sondern eine volkskundliche sei. Erst von hier aus sei es möglich, die Bedeutung der „Volkslieder" innerhalb der gesamten Volkskultur richtig einzuschätzen. Waren es für Schwietering und seine Schüler vor dringlich religiös-konfessionell-soziologische Aspekte, denen sie ihr Augenmerk zuwandten, so gehen nun mehr vom Institut für Volkskunde in Berlin entschei dende Vorstöße dahin aus, einzelne Gruppen von Volksliedern nach ihrem sozialkritischen Gehalt zu untersuchen und damit von dieser Seite her ihre eminente Bedeutung innerhalb des Sozialgefüges sicht bar zu machen. Wir haben um so mehr Anlaß, in unseren „Heimatblättern" auf diese Arbeiten hin zuweisen, als ein großer Teil der von den betreffenden Gelehrten herangezogenen Belege auch aus Ober österreich stammen und ihre Untersuchungen auch für die heimische Forschung anregend wirken können. Finden wir bereits in dem Monumentalwerk von W. Steinitz' neben einer wichtigen Sammlung von Originalliedern aus dem großen Bauernaufstand 1625/26 (Bd. I, 25-40 S.) „Lieder der tmterdrückten und kämpfenden Bauern aus der Dorfarmut des 15. bis 19. Jahrhunderts", die hier erstmals nach dem Untertitel eines schwäbischen Flugblatt-Liedes als „Bauernklage" bezeichnet werden - darunter die Lieder „Ich bin ein armer Bauer", „Das Bauernleben ist nichts mehr wert", „Kein Bauer mag ich nimmer bleiben" und die vor allem in Osterreich weitver breiteten Lieder vom „Sonnberger (bzw. Unkberger, Kürnberger, Böhmerwald-)Bäuerl" so greift H. S trobach nun gerade diese Gruppe im besonderen auf. Dabei konnte er die Zahl der schon von Steinitz dargebotenen Originaltexte von 9 auf 39, die der erfaßten Varianten von 20 auf über 200 erhöhen, von denen nicht weniger als 97 allein in Osterreich gesammelt werden konnten. Sie bezeugen die Über lieferung der betreffenden Texte durch mehrere Jahrhunderte, eben seit den früliesten FlugblattDrucken im 16. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Aufzeichnung aus dem Volksmund durch unsere Feldforscher, unter denen für Oberösterreich Herr Hofrat Dr. Hans Commenda, Linz, besonders wertvolle Belege beisteuern konnte. Die Verbreitung der wichtigsten, durch zahlreiche Aufzeichnungen belegten Lieder wird in 9 Fundkarten veranschaulicht, aus denen vor allem die weiträumige Streuung in Osterreich und den unmittelbar anschließenden Nachbarländern ersichtlich wird. Zur Begründung dieser auffallenden Verbreitungstendenz weist der Verfasser nicht nur auf die speziellen sozialen Ver hältnissein diesem Raum, sondern auch auf die Wirk samkeit der Dialektdichter hin, die sich hier, wie in Oberösterreich der einst hochberühmte P. Maurus Lindemayr®, dem armen Volk meist schon durch ihre eigene Herkunft verbunden fühlten, wenngleich sie den revolutionären Stachel der Anklage bei den sozialkritfschen Tendenzen in ihren Dichtungen häufig durch deren Ausmünden in religions- und staats treue Grundgedanken in Richtung auf eine mehr ironisch-demutsvolle Klage über die herrschenden so zialen Verhältnisse umzubiegen verstanden. Während Steinitz in der Beurteilung der einschlägigen Lieder fast noch ausschließlich den Ausdruck der gepeinigten Seele des Kleinbauern konkretisiert sieht, der sich gegen die drangvolle Not in seinem Hausstand auf lehnt, vermag Strobach an Hand der Ergebnisse seiner meisterhaften, oft Wort um Wort durchge führten Textkritik zu erkennen, daß sich, inhaltlich manchmal nur durch Auslassung oder Hinzufügung weniger Verse oder durch Umstellung und Ersetzung einiger Wörter bewirkt, der Akzent der Lieder oft je nach der sozialen Stellung des Sängers und der Funk tion der Lieder (z. B. durch Einbeziehung in ein brauchtümliches Weihnachtsspiel) maßgeblich ver schiebt, so daß die Variationsbreite desselben Grund textes unter Umständen von der häufigen Klage über die soziale Not bis zur leidenschaftlichen Anklage und von der Selbstironie eines verarmten Kleinbauern bis zum beißenden Spott durch die Dienstboten über die selbstverschuldete Notlage und den Geiz ihres

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