OÖ. Heimatblätter 1960, 14. Jahrgang, Heft 1

Oberösterreichische Heimatblätter IV. Das Mühlviertel in der Agilulfinger- und Karolingerzeit 1. Die bairische und slawische Siedlung Vom 5. Jahrhundert an ist die Raumeinheit Böhmen-Mähren-Niederösterreich-Westungarn Schauplatz weitausgreifender, einander rasch ablösender Machtbildungen: der Reiche der Langobarden, des Samo, der Awaren, unter deren Herrschaft die Slawen siedeln. Von Westen her schiebt sich der Stamm der Baiern zwischen Alpenrand und Nordwald donauabwärts bis in den Donaukorridor von Amstetten-St. Pölten vor; sein Siedlungsgebiet dürfte als schmaler Keil östlich etwa so weit gereicht haben, als die Donau vom Nordwald begleitet war. Das östliche Ufernorikum, kurz vorher das letzte Rückzugsgebiet des Römerreiches an der Donau, bildet jetzt den am weitesten vorgeschobenen Ostkeil Baierns. Um das Jahr 700 stoßen die Awaren über die Enns vor, zerstören Lorch und gliedern das Gebiet donauaufwärts bis zur Enns ihrem Hoheitsbereich ein. Die Ennslinie wird damit zum Westglacis Awariens, zur Ostgrenze des Stammesherzogtums Baiern und nach dessen Eingliederung ins Frankenreich vorübergehend zur festen Ostgrenze (certus limes) des Reiches. Das Mühlviertel ist jetzt Grenzbezirk Baierns gegen Böhmen und Awarien. In der Passauer Schenkungsurkunde von 823 sind Orte des Unteren Mühlviertels, Ried, Naarn, Saxen, gleich solchen im niederösterreichischen Viertel ob dem Wienerwald zur „Terra Hunnorum", zum „Hunnenland", zu dem von den Awaren beherrschten Gebiet zwischen der Enns und dem Wienerwald, gerechnet" und später finden wir nur für das Obere, nicht aber für das Untere Mühlviertel die Landesbezeichnung „Baiern"; dieser Gebrauch der Landesnamen könnte andeuten, daß das östliche Mühlviertel nicht voll in das Hoheitsgebiet der bairischen Herzoge eingegliedert war. Auf seine Grenzstellung gegen Norden wie gegen Osten weist auch die alte Bezeichnung Riedmark'®, die den Begriff des „Siedellandes" mit jenem der „Grenze" sinnvoll vereint. Seit Karl der Große den Traungau, das Obere und Untere Mühlviertel mit dem ehemaligen awarischen Hoheitsgebiet unter der Enns zum nördlichen Verwaltungsbezirk der Mark grafschaft des Ostlandes vereinigt hatte, war die Grenzstellung des Mühlviertels gegen Osten aufgehoben; Weinsberger Wald und Enns bildeten jetzt nur noch die Grenzen zwischen dem altbairischen Gebiet der Grenzgrafschaft (Traungau, Mühlviertel) und der ihr angeschlos senen „Mark". Diese umfaßt in der Hauptsache das Gebiet südlich der Donau. Die besten Siedelgebiete Nordniederösterreichs zählen zum Mährischen Reich, dessen Südgrenze — wie vordem jene Germaniens — nahe bzw. an der niederösterreichischen Donau verläuft: 884 liegt Tulln an der Grenze der „Baiern und Slawen" (in terminis Noricorum et Sclavorum), der seit 877 kremsmünsterische (passauische) Besitz an der unteren Schmida und am Wag ram erstreckt sich an der „mährischen Grenze" (ultra Danubium usque ad Marevinos terminos), und die Lebensbeschreibung des hl. Koloman (JlOM) nennt Stockerau einen Ort an der „bairisch-mährischen Grenze" (in Bawariorum confinio et Mararensium)'®. " Oö. UB. 2, S. 8 Nr. 5. '® 823: Reoda, Reode (Oö. UB. 2, S. 8 f. Nr. 5, 6); um 900: marha (Oö. UB. 2, S. 47 Nr. 34); um 905: Reodarü (Zollordnung von Raffelstetten). " Belege bei F. Pfeffer, Das Land ob der Enns S. 177 Anm. 73. — Die an oder nahe der Donau verlaufende Nordgrenze der „Mark" wird auch in der Entwicklung des niederösterreichischen Urpfarrnetzes sichtbar. Nördlich der niederösterreichischen Donau erscheint in der Karolingerzeit nur die Urpfarre St. Michael in der

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