Weinberger: 100 Jahre Eiszeitforschung in Oberösterreich Im Jahre 1815 erzählte der Walliser Bauer und Gemsjäger J. P. Per¬ raudin dem Bergdirektor des Kantons Waadt J. de Charpentier, einem Deutschen hugenottischer Herkunft, von Beobachtungen über Gletscherschliffe und Findlinge im heute eisfreien Gebiet und meinte, daß diese durch einstige Riesen¬ gletscher hergebracht worden seien. Doch Charpentier schenkte ihm keine rechte Be¬ uchtung. Ebenso erging es dem Bergführer Deville aus Chamonix, der gleich¬ falls ähnliche Beobachtungen machte. So gingen die ersten richtigen Beobachtungen von Menschen, deren Beruf sie viel mit der Natur zusammenführte, verloren. Erinnern wir uns nochmals der Irrlehre, nach der große Fluten Findlinge transportiert haben sollten. Man zog große Überschwemmungen, Katastrophen zur Erklärung heran. Wir wollen diese Ansicht als Katastrophentheorie be¬ zeichnen. Diese Ansicht wurde allmählich abgelöst durch die Erkenntnisse, daß die erdgeschichtlichen Vorgänge nicht einzelne Katastrophen als Ursache haben, sondern stetige Naturkräfte, die wir auch heute noch beobachten können. Es folgte der soge¬ nannte Aktualismus, begründet von K. v. Hoff und Ch. Lyell, auf dem auch noch die heutige Geologie basiert. Mit der Lehre Lyells tauchte eine neue Irrlehre auf, die zweite der Eiszeitforschung. Es ist dies die sogenannte Drifttheorie. Die großen Eisberge, die auf dem Atlantischen Ozean von Grönland her nach Süden schwimmen, gaben den Anlaß zu deren Aufstellung. Die Drifttheorie nahm an, daß auf dem Meere einst große Eisblöcke von Skandinavien aus ihre Reise nach Süden genommen hätten. Auf dem Rücken hätten sie Gebirgsschutt getragen, der dann nach Abschmelzung der Eisblöcke im Süden auf fremdem Boden liegen geblieben sei. So erklärte man die Findlinge in Deutschland. Da sich Darwin und andere Autoritäten der Drifttheorie anschlossen, galt sie als gesichert. Joseph Viktor v. Scheffel verherrlichte bekanntlich noch 1867 den erratischen Block in einem Liede. Erst 1882 konnte die Drifttheorie endgültig überwunden werden. So sehen wir in der Geschichte der Eiszeitforschung, wie zweimal Irrlehren den Fortschritt hemmten, der abseits der offiziellen Lehrmeinung mühsam oft durch Außenseiter erzielt wurde. Nehmen wir den Faden der wahren Eiszeitforschung wieder auf. Erinnern wir uns, wie Charpentier die Ansicht des schlichten Gemsjägers ablehnte. 14 Jahre später (1829) hörte Charpentier wiederum gleiche Ansichten, diesmal von seinem Freunde, dem Walliser Ing. J. Venetz, vorgetragen. Venetz meinte, daß die großen erratischen Blöcke nicht von Wasserfluten, sondern durch riesige Gletscher herbeigeschleppt worden seien. Er behauptete, daß die Felsschliffe und die Moränen Gletscherwerk seien. Venetz hatte auf der Versammlung der Schweizer naturfor¬ schenden Gesellschaft (SNG) auf dem St. Bernhard 1821 seine Idee schriftlich niedergelegt. Die Schrift wurde zwar preisgekrönt, blieb aber im übrigen unbe¬ achtet. Als nun Charpentier diese Anschauungen von Venetz vernahm, gedachte er den Freund im Interesse seines guten Rufes von seinen absonderlichen Vorstel¬ lungen abzubringen. Er suchte nun zwingende Gegenbeweise und studierte die Er¬ scheinungen im Felde. Und siehe da, aus dem Saulus wurde ein Paulus! Ange¬ sichts der Natur mußte er umlernen und er war ehrlich genug, sich trotz seiner frü¬
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