Bausteine zur Heimatkunde Zum Brauchtum des Maibaumes 1. Das Maibaumstehlen in Enns 1937 Im kleinen niederösterreichischen Orte Ennsdorf stellte im Jahre 1936 die Sängerkameradschaft Dietinger nach langer Zeit wieder einen richtigen Maibaum auf. Der schöne, alte, bodenständige Brauch fand dabei solchen Anklang, daß man ihn im Jahre 1937 —ebenfalls wieder an gute heimische Überlieferung anknüpfend — mit glücklicher Hand zu einem richtigen großen Volksfest ausbaute. Wie das geschah, das sei zu Nutz und Frommen aller derer, die es nachmachen wollen, im folgenden erzählt. In der Walpurgisnacht zum ersten Mai des Jahres 1937 setzte also die Dietingerrunde in Ennsdorf ihren zweiten Maibaum, einen gewaltigen, prächtig geschmückten Stamm. Allein für die Kränze und den sich um den Stamm schlän gelnden „Schnecken“ waren 72 laufende Meter Grüngewinde aufgegangen. In der Nacht vom 1. zum 2. Mai zwischen 2 und 3 Uhr früh wurde nun selbstverständlich in stiller gegenseitiger Zusammenarbeit — der neuaufgestellte Maibaum von der Feuerwehr der Stadt Enns „gestohlen“ und nach Enns entführt, wo er auf dem Stadtplatz in aller Pracht und Herrlichkeit neu errichtet wurde. Das „Heben“ und „Verführen“ eines so gewaltigen Stammes mitten in der Ortschaft kann natürlich nur dann unbemerkt erfolgen, wenn Augen und Ohren nichts merken wollen. So war denn ein „falscher“ Gendarm in komischer Ver¬ kleidung am Abend des 1. Mai in Ennsdorf von Haus zu Haus gegangen und hatte eine besonders frühe und strenge Sperrstunde eingesagt. Obwohl es sich also um ein wohlvorbereitetes „Theater“ handelte, machten die Ennser doch ganz gründliche Arbeit und nahmen sogar alles Gerät, Leitern, Seile, „Schwoabeln“ (je zwei lange, oben durch eine Seilschlinge verbundene Stangen), „Gabeln“ (lange Stangen mit einer eisernen Gabel am schlanken Ende), Krampen, Schaufeln, Schlaghämmer aus Ennsdorf mit, um ja ein Rückbefördern des Baumes zu unterbinden. Von diesem Beispiel ermutigt, machte die Feuerwehr der Zuckerfabrik Enns zweimal in der Nacht zum 5. Mai den allerdings vergeblichen Versuch, den auf dem Stadtplatz eben errichteten Baum nochmals zu stehlen. Die Ennser paßten aber zu gut auf. Außerdem fanden sich diesmal die Diebe erst in der vierten Nacht ein, während nach altem Herkommen die Entwendung des Maibaumes einzig innerhalb der ersten drei Tage nach dem Setzen erfolgen darf. Der Baum muß außerdem frei von Schmuck und Erde sein, sonst gilt er nicht als gestohlen. Mit Fug und Recht wurde daher den Ertappten ganz nach alter Sitte ein „Schandmai“, d. h. ein Spottmaibaum mit häßlichem Behang, vor die Nase gestellt. Der richtige Maibaum aber ragte stolz in den blaugoldenen Maienhimmel. Am höchsten Gipfel wehte eine rot-weiß-rote Fahne, dann kam die elektrische Gipfellampe — der ganze Baum war wie ein Christbaum mit bunten Leucht 271
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