OÖ. Heimatblätter 1947, 1. Jahrgang, Heft 3

Oberösterreichische Heimatblätter Wien unter Fremdherrschaft Die Aufzeichnungen des Greiner Arztes Johann Tichtel Von Dr. Justus Schmidt (Linz) Der Humanismus mit seiner Wiedererweckung des Individualismus ver¬ anlaßte im fünfzehnten Jahrhundert die Entstehung der ersten naturgetreuen Bild¬ nisse im Bereich der deutschen Malerei, gleichzeitig entstand eine Blüte der Bekenntnisliteratur und eine Fülle von Selbstdarstellungen, Tagebüchern und ähn¬ lichen Selbstzeugnissen gibt ein Bild der verschiedensten Persönlichkeiten dieser Zeit. In Oberösterreich sind zwei solche Selbstzeugnisse des 15. Jahrhunderts von be sonderer kulturgeschichtlicher Bedeutung, die Aufzeichnungen des Schloßhaupt¬ mannes von Steyr, Krobat von Labat, die für den zehnten Band der „Selbstzeug¬ nisse des deutschen Schrifttums“ angekündigt wurden und das Tagebuch des Arztes Johann Tichtel, das von Theodor v. Karajan im ersten Band der „Fontes Rerum Austriacarum“ (Wien 1855) zum erstenmal im lateinischen Originaltext veröffentlicht wurde. Seine kritische Würdigung besorgte Adalbert Horawitz im zehnten Band der Berichte und Mitteilungen des Altertumvereins in Wien 1869. Johann Tichtel wurde am 5. Jänner eines nicht feststellbaren Jahres in Grein an der Donau geboren und bezog am 14. August 1463 die medizinische Fakultät der Universität Wien. Erst am 13. Dezember 1476 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert, am 21. August 1477 hielt er seine erste Disputation und wurde im gleichen Jahr zum Dekan der medizinischen Fakultät ernannt. Am 14. April 1479 heiratete er die Witwe Margaretha Silberprenner, geb. Steber, die ihm bis 1490 sechs Kinder schenkte. Im Jahre 1492 schließt Tichtel Freund¬ schaft mit dem Humanisten Conrad Celtes, er überläßt ihm sein Haus zu Vor¬ lesungen über die Dichtkunst der Griechen, nennt sich selbst seinen Schüler und steht später mit Celtes in Briefwechsel; das Fragment eines Briefes von Tichtel an Celtes, datiert vom 6. Februar 1493, ist noch erhalten. Von Celtes selbst stammen einige Verse an Benedikt Tichtel, wohl einen Verwandten, der Rektor der Wiener Universität Bartholomäus Tichtel war sein Neffe. Tichtels Tätigkeit als akademischer Lehrer scheint sich auf Vorlesungen aus dem Wissensbereich des arabischen Arztes Avicenna beschränkt zu haben, dagegen war seine Praxis weit ausgebreitet, Königin Beatrix von Ungarn, viele Klöster und Schlösser von Preßburg bis Melk nahmen seine ärztliche Hilfe in Anspruch. In seiner Heimat Oberösterreich scheint er sich mehrfach aufgehalten zu haben, da er Patienten in Klingenberg bei Grein, Waldhausen und Wels, auch solche aus oberösterreichischen Adelsgeschlechtern, wie Pollheim und Zelking, erwähnt. So gelangt Tichtel zu Wohlstand, kauft sich 1483 ein Haus in der Inneren Stadt, Weihenpruck Nr. 920, und in der Folge mehrere Weingärten in der Umgebung Wiens. Sein Todestag ist nicht bekannt, 1498 ist er im Gastregister des Stiftes Klosterneuburg noch erwähnt. 220

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