Grüne Bürgerzeitung, Nummer 4, Dezember 1988

GRÜNE BÜRGER-ZEITUNG 4/881 JUDEN IN S TEY R . • Verschwunden - vergessen Das Gedenkjahr 1988 neigt sich dem Ende zu. Dies ist ein Anlaß, derer zu gedenken, die man bei allen Feiern und Gedenken fast vergaß: die Steyrer Ju- den. - Kaum jemand erinnert sich noch an sie. Sie verschwanden bei Nacht und Nebel, von einem Tag auf den anderen waren sie plötzlich nicht mehr da. Unangenehmes verdrängt man leicht , es liegt schon so lange zurück. Die Erin- nerung an die grausam verfolgte jüdi- schen Bevölkerung Steyrs ist verblaßt. Ein Grund mehr , die Spuren zu verfol- gen, die den Nebel zu lichten , der schwer auf dem Gedächtnis dieser Stadt lastet. Gespräche mit dem letzten überleben- den Juden in Steyr, Zeitzeugenberichte sollen Licht in das Dunkel bringen und ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit unserer jüngeren Geschichte sein. -Xielleicht denken manche, wozu solle es dienen, immer wieder in der Verges- senheit herzukramen, man solle doch das Alte ruhen lassen und an das Neue denken. - Kann man jedoch die Gegen- wart verstehen , wenn man nicht die Vergangenheit betrachtet? Ist es nicht wichtig, Unangenehmes , Verdrängtes anzuschauen und zu verarbeiten , damit es nicht böse Blüten treibe? waist, wird er von der Linzer Kultusge- meinde betreut. Eindrucksvoll bieten sich dem Besucher verwitterte Grabsteine dar, auf denen ein Stück jüdischer Geschichte in Steyr zu lesen ist. Der Blick fällt auf ein Mas- sengrab, in dem 100 ungarische Flücht- linge, die auf dem Weg nach Mauthau- sen 1945 erschossen wurden, ihre letzte Ruhe fanden. Ist es Zufall , daß dieser jüdische Fried- hof und die Synagoge so unbemerkt und vergessen , ohne ein Zeichen der Mah- nung und Erinnerung an die jüdische Bevölkerung in teyr ihr Dasein fri- sten? Sind wir es uns nicht schuldig, daß wir daran erinnert werden, was einmal geschah? 1st es nicht das Mindeste, was wir tun können; gedenken, erinnern , mahnen ? - Wir fordern daher die Stadt Steyr die Errichtung von Gedenktafeln, um damit ein Zeichen zu setzen: WIR WOLLEN UNS ERINNERN - verdrängt Sie konnten mit einem illegalem Trans- port nach Plästina entkommen. Die bei- den Töchter kamen mit einem Kinder- transport nach England, eine lebt in Amerika, eine in Israel. Dr. TIGER, Neuschönau, Rechtsan- walt (Kanzlei gemeinsam mit Dr. Schneeweis). Schicksal ist unbekannt. Farn. SCHNEEWEISS, Dr. Rudolfund Olga, Volksstraße 4, Rechtsanwalt. Emigrierten mit Tochter nach England. Tochter war bei der BBC tätig, kehrten ein Jahr nach Steyr zurück, gingen dann wieder nach England. Farn. STÖSSL, Dr. Julius, Frau ist Tochter von Nathan Pollak, Schlüssel- hofgasse 19 (Julius war Rechtsanwalt, seine Frau Pharmazeutin). Er wurde im KZ ermordet, sie konnte nach England emigrieren. Zwei Kinder überlebten. Aufenthalt unbekannt. Farn. ZWICKER, Dr. Alois und Frie- derike, Preuenhuberstraße 6, (Direktor in den Steyrer Werken). Schicksal unbe- kannt. Eine Tochter lebt angeblich in der Schweiz. Farn. BRÜHL, Redtenba- chergasse 7, Oberbaurat. Überlebten in Steyr. Und tatsächlich , die Saat geht immer wieder auf: Es gibt in Steyr Jugendgrup- pen , denen rechtsradikales Gedanken- gut anhaftet : eine „HJ-Gruppe" (!) , die Burschenschaftsverbindung „Eysn zu Steyr", ,,Skinheads". IHN gibt es 11och: den jüdische11 Friedhof i11 Steyr Farn. POLLAK, Nathan und Sidonie, Enge 6, Klei- derhaus (heute: Gazelle). Herr Pollak, Vorsteher der jüdischen Kultusgemeinde, Zur Geschichte Die Synagoge war im Haus Bahnhof- straße 5 (heute Drogeriemarkt) unterge- bracht. Es gab einen Rabbiner, namens Nürnberger, der mit seiner Familie im Gebäude der Synagoge wohnte. Die Kultusgemeinde umfaßte ca. 30 An- gehörige, die die Feiertage einhielten und ihre Bräuche und Riten pflegten. Allem Anschein nach waren die Juden in Steyr gut integriert, wobei es aber in den Dreißiger Jahren doch Fälle von Über- griffen gegeben haben soll . (Ein Inter- view mit dem letzten noch lebenden Steyrer Juden folgt in der nächsten Nummer.) Der jüdische Friedhof besteht noch als abgeschlossener, .von Mauern umgebe- ner Teil des Städtischen Friedhofes am Tabor. Kaum bemerkt und recht ver- Die jüdische Bevölkerung in Steyr ( -1938) Die folgende Liste erhebt keinen An- spruch auf Vollständigkeit , da sie aus dem Gedächtnisprotokoll unserer Zeit- zeugen, die anonym bleiben wollen , ent- stand. Die SYNAGOGE, Bahnhofstraße 5 (heute : Drogeriemarkt DM) Farn. NÜRNBERGER: Bahnhofstraße 5, Herr Nürnberger war der Rabbiner , starb vor 1938, Frau Nürnberger wurde im KZ ermordet. Ein Sohn überlebte das KZ und starb vor zwei Jahren in Wien. Ein Sohn lebt in Israel, ein Sohn und eine Tochter leben in Amerika. Farn. ORNSTEIN Hermann und Ga- briele (Hermann ist ein Bruder von Leo- pold Ornstein) , Haratzmüllerstraße 4, Kleiderhaus (heute: Cafe-Konditorei Brückner). starb 1933; Frau Pollak emigrierte mit Kindern nach England (von dort nach Amerika, starb dort?). Tochter Doro- thea lebt dort, ein Sohn war Arzt in Innsbruck, sein Schicksal ist unbekannt, eine Tochter, verehel. Surkin , lebt in Amstetten, eine Tochter ist Frau Stössl. Farn. POLLAK, Franz (Sohn von Na- than), Enge 31 , Kleiderhaus (heute: Nothaft), emigrierte nach Südamerika (Uruguay). Farn. GARDE, Jakob und Marie, Ja- kob hatte eine Krämerei, Enge Gasse 18 (heute: Haubeneder), Marie war Modi- stin , Ölberggasse 3. Die ganze Familie, zwei Erwachsene, drei Kinder wurden in Polen ermordet. Farn. KAMENOVIC, Enge Gasse 24, Kleiderhaus (eh. Hasselberger), emi- grierte schon vor 1938. STADTAPOTHEKE, Stadtplatz 7, ge-

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