Kirchlicher Aufbruch und kulturelle Avantgarde

le einen neuen Blick auf die Welt signalisier te: Nein, die Erde ist kein Jammertal! Nicht: „In von Gott verfluchten Gründen/herrschen Satan, Tod und Sünden", sondern, ja: Die Erde ist schön, wir wollen uns des Lebens erfreuen, und Gott will, dass das so ist! In seinem Kern hatte sich ja das ganze bisherige christkatho lische Denken um Sünde, Tod und Jenseits gedreht. Dieses Lied bezeichnet für mich bis heute den historischen Kamera-Schwenk von Tod und Jenseits auf Leben im Diesseits, von der Sündenfurcht zur Lebensfreude. Die Leonsteiner Jungschar In diesen Jahren habe ich mich für einige Zeit der Leonsteiner Jungschar angeschlos sen. An den Sonntagnachmittagen fuhr ich mit dem Radi hinüber nach Leonstein zu den Jungscharstunden, und der Jungscharführer damals war der Walter Pfaffenhuemer. Es war mein Freund Joe Asch, der mich auf Walters neu bemaltes Auto, einen Fünfhunderter, auf merksam machte: Er hatte es mit vielen bun ten Farben bemalt, und es damit ganz bewusst zu einem schreienden Protest gegen den Völ kermord an den Igbos in Biafra gemacht! Natürlich hatte ich von diesem Krieg im damals noch jungen Staat Nigeria in den Ra dio-Nachrichten gehört, dass das Volk der Ig bos einen eigenen Staat hatte gründen wollen, und das militärisch siegreiche Nigeria die Ig bos von alles Versorgungslinien abgeschnitten und dem Verhungern und Verrecken preisge geben hat. Aber der Walter Pfaffenhuemer hatte seinen Fünfhunderter händisch mit Pro testparolen gegen diesen Völkermord bemalt, und er ließ sich einen Vollbart wachsen, den er erst abrasieren wollte, wenn das Morden ein Ende hatte. Das war damals etwas völlig Neues: Man kannte zwar die 68er Proteste aus den Fern sehnachrichten, aber die hatten in den fernen Städten Paris und Berlin stattgefunden, und was genau diese Protestierer wollten, au ßer ein Ende des Vietnamkrieges, hat sowie so keiner von uns so recht verstanden. Aber dass jetzt ein Sprössling aus einer der ange sehensten Leonsteiner Familien, einer erzka tholischen dazu, plötzlich gegen Ereignisse im fernen Afrika protestiert, das war völlig neu und irritierend. Das Politische im Katholischen hatte sich bisher ausschließlich auf die ÖVP beschränkt und war ohne jede Betroffenheit und jeden Aktionismus ausgekommen. Wenn ich so an die Jahre 1968 bis 1970/71 zurückdenke: Damals schwirrte und flirrte al les, soviel Neues lag in der Luft. Da waren die Studentenproteste von 1968, da begannen wir die „Dritte Welt" wahrzunehmen mit dem Hun ger in Afrika und den grauenhaften Diktato ren in Mittel- und Südamerika, da lenkte der Mord an Martin Luther King 1968 unsren Blick auf die Rassendiskriminierung in den USA und die Bürgerrechtsbewegung, Vietnam war, eine entsprechende Wachheit vorausgesetzt, schon fast ein Alltagsthema und mit Bob Dylan bekam auch unsere, die populäre, die rockige Musik einen neuen, einen politischen Prophe ten. Die 68er und die Kirche Manchmal wurde ich, auch von mir selber, gefragt, inwiefern ich mich zu den „68ern" rechne. Streng genommen nicht, denn im Mai 1968 war ich noch keine sechzehn Jahre alt, ging in die erste HAK und war in dem welt fernen Franziskanerkonvikt sowieso von den meisten Informationen abgeschnitten. Nimmt man „1968" aber als Chiffre, als Zu sammenfassung all der neuen Themen, wie ich sie oben skizziert habe, dazu die Aura des Anti-Autoritären, das bei uns gerade zu einem Autoritäts-Kritischen reichte, dann kann man sehr wohl von so etwas wie Spät-68ern spre chen. Was zu diesem Komplex noch untrenn bar gehört, sexuelle Revolution, freie Liebe und natürlich Drogen, waren in unserem Um feld aber überhaupt keine Themen. Dafür hatten wir etwas ganz 68-Untypisches: unsere Bindung an die Kirche. Wir alle 17

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