Kirchlicher Aufbruch und kulturelle Avantgarde

ii 11 Wilhelm Achleitner (Hg.) Kirchlicher Aufbruch und kulturelle Avantgarde Die Anfänge des Jugendzentrums Flü in Steyr-Ennsleite 1969-1991 und das Jugendzentrum Gewölbe in der Pfarrgasse ab 1993

Wilhelm Achleltner Vorwort Ich habe zur Vorbereitung dieses Dossiers über das Jugendzentrum FlO in der Pfarre Steyr-Ennsleite, das von 1969-1991 bestand, mit einigen Personen Kontakt aufgenommen: mit dem Priester Franz Haidinger in Ebensee, Gründer des FlÜS 1969 zusammen mit Josef Friedl und einigen Jugendlichen, und mit wei teren Leuten aus der Anfangszeit: mit Christine Schaffer in Salzburg, mit Veronika und Hannes Hiesimayr in Kirchdorf, mit Franz Steinmaßl in Grünbach bei Freistadt, und mit Menschen, die die letzten Jahre des FlOs erlebten: mit Georg Kamptner in Garsten, Pastoralassistent im FlO 1989, Bernd Schnaubelt in Steyr, Jugend leiter im FlO bis 1990 und mit Melanie Berger, Tochter von FlO-Mitgliedern und Leiterin des „Gewölbes", dem Nachfolgejugendzentrum ab 1993 in Steyr. Ich danke Pfarrassistentin Ange lika Paulitsch und Bernhard Feibauer für den Zugang zur umfangreichen Pfarrchronik. In diesen Gesprächen ist deutlich geworden, dass das FlO für jede und jeden auch etwas Eigenes, Individuelles bedeutete, oft intensiv und lebensbestimmend, je nachdem, in wel cher Zeit man dabei war, welchem Club man angehörte, aus welchem sozialen Milieu, aus welcher Schule man kam. Um das FlO wissen schaftlich zu fassen, pastoraltheologisch oder sozialpsychologisch, mit all den notwendigen Daten und Zahlen und Veranstaltungen, mit den Namen und Besonderheiten der 25 Clubs, die im Laufe der Zeit sich im FlO versammel ten, wäre ein umfangreicher Forschungsvor gang, eine Dissertation nötig. In diesem Dossier sind Erinnerungen ver sammelt, Statements zur Bedeutung des FlOs für Einzelne. Sie ergeben zusammen ein Mo saik, in dem sich das Ganze im Fragment, im individuellen Erlebnis zeigt. Der letzte Beitrag führt mit dem Nachfolgejugendzentrum Ge wölbe in die Gegenwart.

Inhalt Vom katholischen Mühlviertel zum kirchlichen Jugendzentrum FlO Wilhelm Achleitner 4 Die Kleingruppe als Prinzip und Zentrum Franz Haidinger 12 Offene und aufmerksame Unterstützung Christine Schaffer 13 Die Liebe für das Leben kennengelernt Veronika und Hannes Hiesimayr J4 Meinen Glaubensweg gefunden Maria Gabriele Treschnitzer 15 Links abgebogen Franz Steinmaßl 16 Pfarrer Ernst Pimingstorfer und das FlO Franz Haidinger 23 Aus dem Jugendzentrum Gewölbe Melanie Berger 26

Der Pfarrsaal Wilhelm Achleltner Vom katholischen Mühlviertel zum kirchlichen Jugendzentrum FlO Eine bewegende Kirchen- und Lebensgeschichte Von Klam in Mühlviertel kommend sind wir im Sommer 1957 nach Steyr, nach „Kleinabermein" in die Waldrandsiedlung umgezogen. Mit einem LKW, voll bepackt mit Möbeln, einer Kis te mit einem Schwein und einer mit Hühnern. Mein Vater hatte ein Grundstück mit drei Par zellen für drei Kinder gekauft und ein Haus er richtet. Der Keller wurde händisch mit Spaten und hölzernem Schubkarren ausgegraben, das Haus mithilfe von Verwandten ohne eine Bau firma errichtet - im damals typischen Mansar denstil, zusätzlich angebaut ein kleiner, zweiräumiger Stall und ein Heuboden. Wir hielten eine Ziege, dann ein Schwein, zwei Mal einen Stier und jahrzehntelang bis zu 35 Kaninchen und sechs Hühner. Ab September 1958 war ich Schüler in der Otto-Glöckel-Schule in Steyr-Ennsleite. Um 7.10 Uhr verließ ich das Haus, um nach über 2km Schulweg um 7.50 Uhr im Schulgebäu de zu sein. Nach der Siedlung und durch ei nen Wald war die längste Strecke, getrennt mit einem Gehweg, die Einfahrstraße der von den Steyr-Werken gehandelten FIAT-Autos. Nach dem Kammermayrhof neben Steyr-Werke-Häusern, durch Getreidefelder gelangten wir zur neu erbauten Schule. Mein Lehrer in der Volksschule war streng und hieß Herbert Ta gini. Religionsunterricht gab uns der überaus gütige Franz Kaesdorf. Ich war der Schlimms te im Religionsunterricht. Meine Familie war, wie damals üblich, tra ditionell volkskirchlich vorkonziliar geprägt, achtete den Hochwürden, betete den Ro senkranz, hielt hin und wieder den Herz-Jesu-Freitag und immer die Fastengebote, ging an Sonn- und Feiertagen in die lateinischen Gottesdienste und erduldete die überlangen, weihrauchduftenden lateinischen Hochämter. Und ich immer mit dabei. Sonntags waren wir

meistens in der Marienkirche auf dem Stadt platz, hin und wieder auch in der 1946 erbau ten kleinen Kirche in Münichholz. In der Mari enkirche saßen wir immer links in der 4. Reihe, schräg unterhalb der Kanzel, von der die Jesu iten mit kräftiger Stimme herunterpredigten. Wenn einer besonders laut schimpfte, bezog ich, ohne sinnerfassend zu verstehen, dies auf mich und duckte mich in die Bank. Die latei nischen Messen dauerten für Kinder viel zu lange, bewirkten aber ein beständiges Her umwandern der Augen. Ich kenne alle Figuren, Symbole, Engel und Ornamente in der Mari enkirche, die man von der 4. Reihe aus sehen kann. Ich kenne sie für immer. Und vor allem die goldglänzende Madonna mitten im Altar. Die Baustelle Am 14. September 1959 erfolgte der erste Spa tenstich zu Pfarrhof und Pfarrsaal auf der Ennsleite, entworfen von den Architekten Johann Georg Gsteu und der Arbeitsgruppe 4 aus Wien. So führte von da weg mein Schulweg durch das Baugelände. Über die 3m hohen zusammenge baggerten Erd- und Lehmhügel entstanden sehr bald ausgetretene Pfade. Ich war vom ersten Tag und an allen weiteren Tagen in der Früh und in der Mittagszeit auf der Baustelle und verfolgte die Ausgrabungen der Keller, die Fundamentierung und die Betonarbeiten. Besonders span nend wurde es, als die neuartigen, die Gebäude tragenden Stahlbetonkreuze angeliefert und aufgestellt wurden. Nach zwei Jahren, am 14. Ok tober 1961, wurde die neue Seelsorgeanlage mit einer Feierstunde eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt waren Pfarrhof, Pfarrsaal und Jugendheim fer tiggestellt. Als Kirchenraum diente der Pfarrsaal. Am Sonntag, 15. Oktober 1961 wurden um 7,9 und 10.30 Uhr die ersten Gottesdienste gefeiert. Am 10. Dezember 1961 wurde die neue Seelsorgean lage von Diözesanbischof Dr. Franz Zauner ein geweiht. Als Seelsorger wurden Pfarrkurat Alois Reiter und ab 1. August 1962 Kaplan Ferdinand Arbinger bestellt. 5.547 Personen lebten 1962 im Pfarrbereich. Beton Brut Oer Bau der Kirche wurde in Sichtbeton - Beton Brut - gestaltet. Diese architektonische Richtung bezeichnet die Verwendung von Be ton in seiner nach dem Ausschalen sichtbaren Bauform. Spuren des Schalungs- und Herstel lungsprozesses wie Unebenheiten in der Über fläche kennzeichnen die Betonoberflächen dieser Bauwerke. Oer Neubau in der damals modernsten Architektursprache war zweifel los der inspirierende räumliche Hintergrund, der die Entstehung einer neuen kirchlichen Jugendkultur mitermöglichte. Mit der Anord nung der Bänke rund um den Altar und dem vielen Tageslicht wurde der Gemeinschafts charakter der erneuerten Liturgie sogleich er fahrbar. Am Beginn der zweiten Klasse Hauptschu le 1963 hat mich unsere Religionslehrerin Maria Gieß zum Vorbeten in den Kindergot tesdiensten berufen. Ich weiß nicht, warum sie mich auserwählt hat. Jedenfalls begann Die Ennsleitsn-Kirche

damit eine liturgische und kirchliche Karrie re, der ich bis heute treu geblieben bin: Lek tor, Verkünder des Evangeliums, Liturge sein. Zu Weihnachten 1963 schenkte sie mir eine Dünndruck-Ausgabe des Neuen Testaments aus dem Herder-Verlag. Vorne schrieb sie hi nein: „Für's fleißige Verbeten! Weihnachten 1963. M. Dieß." Mein erstes Neues Testament! Im Religionsunterricht oder zu Hause gab es dieses Buch nicht. Im Bett habe ich es dann studiert und die Abkürzungen - Mk 3,6 oder 1 Kor 15,3 - zunächst nicht verstanden. Ich habe Hypothesen gebildet, mit diesen die Öffnung der Stellen versucht - und bin gescheitert. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den Aufbau in Kapitel und Verse verstanden hatte. Erfolgrei ches, einstündiges Selbststudium! Ich habe jahrelang zwei- v mal in der Woche „vorgebetet", wie man damals sagte, i|j^| in den Kindermessen am wie man manche Begriffe Apostelgeschichte beim Pfingstereignis anführt [Apg 2,9-11]. Ich habe nicht jl^fBlinil nur gelesen, sondern auch vorgesungen. In den damaligen, kirchenrecht lich unerlaubten lateinisch-deutschen Got tesdiensten hatte ich volles Programm: alle Orationen, die Lesung, das Evangelium, das gesungene Kyrie, Sanctus und Lamm Gottes synchron mit dem lateinisch betenden Pries ter mit dem Rücken zum Volk. Nur die Predigt hielt Pfarrer Alois Reiter in Deutsch. Ich habe, so sagte man mir, „schön" vorgebetet, und es seien einige wegen meines Vorbetens beson ders gerne in die Kirche gegangen. Ich hatte eine Aufgabe in der Pfarre bekommen, wurde als jüngster Teilnehmer mit 1A Jahren nach ei ner Schulung auf der Burg Altpernstein durch den Kinderseelsorger und späteren Generalvi kar Josef Ahammer Leiter einer Ministranten gruppe u. a. mit Andreas Lebeda, Peter Langgartner und Willi Auer mit einer wöchentlichen Gruppenstunde. Kleinraming und der junge Kaplan Meine mehr als drei Jahre ältere Schwester Anneliese war In dieser Zeit in einer Jugend gruppe in Kleinraming [9km südlich von Steyr] und erzählte begeistert von den Zusammen künften mit dem jungen Kaplan Franz Haidin ger. Mit ihm und der Katholischen Jugend in Kleinraming begann für - ■ - meine Schwester ein sehr • Lebens, in dem sie auch - Wk ihren späteren Mann Josef im Ennsleite. Am 1.9.196A kam Helga VoitI als 21-jährige Volksschul-Religionslehrerin in die Pfarre. Sr. Helga und Pfarrer Pimingstorfer begannen eine intensive Ernst Pimingstorfer Jungschar- Und Minist" rantenarbeit. 1970 z. B. gab es sechs Minist rantengruppen mit 80 Ministranten und eine große Mädchenjungschar. Am 12.9.196A zog die 33-jährige Waltraud Gasperlmair als Pfarr haushälterin in den Pfarrhof ein. Am 1.9.1966 wurde Kaplan Arbinger Religionslehrer in der HTL mit Wohnung und Seelsorgeverpflichtung in der Stadtpfarre und damit auch für zwei Jahre mein Religionslehrer, allerdings war er bereits auf dem Weg aus dem zölibatären Priestertum hinaus und am Unterrichten des Faches Religion nicht wirklich mehr interes-

- • m<^ Helga VoitI - Franz Haidinger siert. An seiner Stelle kam aus Kleinraming am 1.9.1966 der 27-jährige Franz Haidinger in die Pfarre, wurde mit Schulbeginn 1968 Reli gionslehrer in der HTL und wohnte weiterhin im Pfarrhof. An seiner Stelle kam für wenige Monate der 30jährige Rudolf Kappimüller als Kaplan in die Pfarre, wurde aber bereits am 15. Dezember 1968 Pfarrer von Kronstorf. Am 22.9.1968 erfolgte durch Stadtpfarrer Johann Steinbock der 1. Spatenstich für den Kirchenbau. Schließlich kam am 1. Dezember 1968 der 25-jährige Josef Friedl nach einem ersten Seelsorgeeinsatz in Gallspach in die Pfarre. Das junge kirchliche Personal zur Gründung des Jugendzentrums war damit auf der Szene versammelt. Alle wohnten in kleinen Zimmern im neu errichteten Pfarrhof zusammen mit der Mesnerfamilie Weigl. 1968 folgten ihr Ingrid und Walter Steiner aus Kleinraming. Nach Franz Haidinger [1966-1971] und Jo sef Friedl [1968-1973], 2018 im 75. Lebensjahr verstorben, kamen die Priester Hans Wührer [1971-1973], Rupert Federsei [1972-1976], Ludwig Puchinger [1973-1977], Ludwig Walch [1977-1983], Franz Salcher [1983-1986] und Wolfgang Singer [1986-1989], dazu die Pastoralassistent*innen Helga VoitI [196A-1971], Sr. Waltrude Lackinger [1976-1978], Reinhard Josef Fried/ Brandstätter [1978-1983], Johannes Lackinger [1982-1986], der Jugendleiter Bernd Schnau belt [1986-1990], die Pastoralassistenten Sissy und Georg Kamptner [1989-1991] und schließ lich der Jugendleiter Christoph Schatzl [19901991]. Im Hintergrund das 2. Vatikanische Konzil Den Hintergrund der Entstehung des Ju gendzentrums bildete das 2. Vatikanische Konzil [1962-1965], das ein enormes Auf bruchsgefühl entfachte. 1971 wäre in einer Bi schofssynode beinahe der Pflichtzölibat gefal len, Papst Paul VI. sei dazu bereit gewesen. Die Abstimmung ergab nur einen kleinen Überhang der Bewahrer. Mit dem Konzil kam schneller als vom Konzil vorgesehen endlich die gesam te Liturgie in der Volkssprache und der Volks altar, d. h. der Priester drehte sich zum Volk, wodurch sofort das Gemeinschaftliche der Liturgie besonders hervortrat. Im Hintergrund die 68er Kulturbewegung, die Relativierung und Infragestellung jedweder Tradition, jedes öffentlichen Funktionsträgers, verbunden mit einem aufmerksamen und kritischen Blick auf die nationalsozialistische Zeit. Weiters wurden

die Psychologie und die tiefenpsychologischen Hermeneutik wichtig, dazu die neuen emanzipatorischen Formen der Kommunikation, ers te Ansätze zur Überwindung der Geschlech terpolarität, der Rollentypologie und Impulse zur Emanzipation der Frauen, zudem der Be ginn der Befreiung im Bereich der Sexualität, ihre Besprechbarkeit und die enorme Wirkung der Pille als erstmalige sichere Möglichkeit der Frauen, sich sexuell selbst zu bestimmen. Im Hintergrund waren weiters der entstehende Wohlstand, die Mobilisierung der Bevölkerung, die Arbeitskräftemigration, die beginnende Pluralisierung der Mode, der Wohnkultur und die Individualisierung der Lebensformen. Beweglichkeit und Aufbruch in allen Bereichen Beweglichkeit und Aufbruch also in allen Be reichen. Darauf musste fast zwangsläufig eine neue Form der kirchlichen Jugendseelsorge entstehen. Dazu kam als urbaner Hintergrund, dass es damals in Steyr für die aufbrechende, kreativeJugend kaum interessante öffentliche Begegnungsmöglichkeiten gab. Neben verein zelten Jugendgruppen in den Pfarren gab es in Steyr nur zwei Discos, eine in der Berggas se, in die ein anständiger junger Mensch nicht hineinging, und die besuchbare Hechtendie le, dazu noch den Ratsherrnkeller. Es gab die kaum bekannten Roten Falken und die damals noch ziemlich militärisch auftretenden Pfad finder. In dieser noch etwas dürftigen Szene erregte das begeisterte Jugendzentrum Auf merksamkeit und enorme Anziehungskraft. Als Franz Haidinger 1966 auf die Ennsleite kam, habe ich mich aufgrund der Begeiste rung meiner älteren Schwester für ihn sofort ihm angeschlossen. Er war der neue, moderne Typ des Priesters ohne Priesterkleidung. Auf einer Bergwoche feierten wir um einen Tisch herum, auf dem das rote Bergsteigerseil lag, Gottesdienst, Franz Haidinger ohne Messge wand. Für damals keinesfalls erlaubt. Dazu meinte er: „Wenn das der Bischof erfährt, wirft er mich raus!" Direkt ging er auf uns Jugendli che zu, interessierte sich für uns und hörte uns in zuweilen langen Gesprächen zu. Hunderte Stunden war ich in den fünf Jahren 1966-1971 in seinem kleinen, 12m^ großen Zimmer und konnte all meine Gedanken und Ideen mit ihm besprechen. Auch bei Helga VoitI war ich oft zum Gespräch. Dieses Bei-den-Jungen-Sein war das Anziehende. Zugleich war er in diesen Gesprächen immerzu motiviert, uns mit Jesus und dem Evangelium in Kontakt zu bringen. So rutschen wir nicht in eine Banalität oder in die beginnende Konsumgesellschaft, viel mehr wurde unser Leben, unsere Persönlich keit durch die Schnittstellen mit der Religion größer, bedeutsamer und in einen für uns als Jugendliche erst allmählich wahrnehmbaren Horizont der Transzendenz aufregend einge bettet. Die Übersetzung der biblischen Bot schaft in die Gegenwart jugendlichen Lebens war das spirituell Bewegende. Nicht minder wichtig waren die Kontakt möglichkeiten zwischen Jungen und Mäd chen. Eros und Religion gingen im EID enge Verbindungen ein, was sich dann auch im wei teren Leben der jungen Kapläne zeigte. Das fundamentale Bedürfnis nach Begegnung in allen ihren Formen war sicherlich ein Haupt motiv ins FlO zu kommen. Dort aber blieb es nicht nur bei den Begegnungen, Bildung er eignete sich, persönliche, religiöse, kultu relle, politische und praktische Bildung. Die Verbindung mit der kulturell aufgebrachten Szenerie evozierte zudem ein Größen-Ich, das die Welt verbessern wollte. Diese ungestüme Idee der Weltverbesserung wurde zur DNA der FlO-Leute. Wir empfanden uns als kirchli che und gesellschaftliche Avantgarde in Steyr und waren es auch. Und diese DNA ging vielen von uns nie mehr verloren. Sie ist wirksam bis heute. Viele Ehemalige, fast alle, sind an den verschiedensten sozialen, kulturellen, ökolo gischen, politischen und kirchlichen Orten und Einrichtungen engagiert.

Das Flüund die HTL Franz Haidinger versuchte, auf der Ennsleite angekommen, wie in Kleinraming, sogleich Jugendliche um sich zu sammeln, und es gab auch bald eine Gruppe von etwa sieben Ju gendlichen. Wir trafen uns vierzehntägig, aber so richtig in Fahrt kam unsere Gruppe nicht. Zwei Jahre lang bemühte sich Franz Haidinger und nichts Weiteres mehr entstand. Er wollte schon aufgeben, doch dann wurde er 1968 Re ligionsprofessor in der HTL und damit in der dritten Klasse auch mein Religionslehrer. Sein Unterricht war nach dem er matteten Ferdinand Arbinger so begeisternd und lebendig, dass wir freudig über Gott und die Welt zu diskutieren begannen. Schon nach we nigen Wochen waren „Blacky" Franz Weiß und ich bei Franz Haidinger, um ihm den Wunsch nach einer Diskus sionsrunde „über den schuli schen Unterricht hinaus" vor zutragen. Diese Besprechung war der Anfang, der „Urknall" des späteren FlOs. Er mein te, zu dritt seien wir zu weni ge, ob wir nicht noch weitere Interessierte wüssten. Wir voni sprachen Ernst Lackerbauer, chnstmAchie Heinz Konrad und Andreas Wastl an, alle drei stimmten zu und der „Club um 19" war geboren, und wöchentlich am Donnerstag von 19 bis 21 Uhr trafen wir zusammen. Bald kamen noch einige weitere Interessierte hinzu. Daneben gab es bereits mit Helga VoitI eine Mädchen gruppe, die sich Weandyou = Way nannte und ihre Zusammenkünfte nun erklärungslos auch auf Donnerstag verlegte, damit wir danach zusammenstehen konnten. Es entstand der „Club of happy sisters", von Schülerinnen des Steyrer Gymnasiums, das „Team 9", „Pro Nova", und ich gründete noch einen zweiten Club „Ferror ARG 70", aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen gebildet. Als wir zehn Clubs wa ren, wurden mit meiner jüngeren Schwester und mir zwei „Hauptverantwortliche" gewählt. 16-, 17-jährige Jugendliche mit dem Titel „Hauptverantwortliche"! Und wir meinten es ernst damit. Die Clubs waren geschlechtlich getrennt. Wir haben im zweiten Jahr des Bestehens drei Mädchen aufgenommen, aber dies bewährte sich nicht. Wir waren von der Volksschule an nur in Klassen mit männlichen Schülern. Die Kommunikation wurde nicht richtig beweg lich. Nach zwei Jahren, 1971, belebten 21 Clubs mit fünf bis 12 Mitgliedern das Pfarrzentrum. 1 Hfl Von links nach rechts: Franz Haidinger, Bernhard Weiß, Wilhelm Achleitner, Heinz Konrad, Christine Achleitner, Franz Weiß, Annemarie Gobold, Inge Auer, Helga VoitI, Fotograf: Rudolf Wührer alle drei Das Kennedy-Haus in Innsbruck geboren, 19 bis 21 Sehr bald, im Sommer 1969, besuchten wir len noch zu zehnt das Kennedy-Haus mit Sigmund Kripp Daneben SJ in Innsbruck, das damals größte Jugendlädchen- Zentrums Europas mit bis zu 1.500 Mitgliedern, nnte und 1959 übernahm P. Kripp den Aufbau und die jlosauch Leitung der Marianischen Kongregation der ■ danach Gymnasialjugend in Innsbruck und wurde 196A tand der Bauherr des John-F.-Kennedy-Hauses. Kripp inen des verzichtete auf eine „Pädagogik von oben" als ro Nova", Anpassungsinstrument an herrschende Nör ten Club men. Er zielte dagegen auf eine „Pädagogik :hstaben ohne Belehrung", die Erfahrung, kritische Re-

flexion und Diskurs sowie konsequente demo kratische Selbstverwaltung förderte. Die Ju gendlichen gestalteten selbst die Zeitschrift „Wir diskutieren", wo sie offen ihre Probleme ansprachen und ungeschönte Diskussionsbei träge mit ihren Meinungen veröffentlichten. Mit seinem ersten Buch Abschied von morgen geriet Kripp in eine Konfrontation mit Bischof Paulus Rusch, der in Absprache mit dem Gene raloberen der Gesellschaft Jesu, Pedro Arrupe, seine Absetzung als Erzieher in Innsbruck erreichte. Mit einem roten und einem weißen Fiat 85üer fuhren Helga VoitI, Inge Auer, Christine Achleitner, Annemarie Gobald, Franz Weiß, Bernhard Weiß, Rudolf Wührer, Franz Haidin ger, Heinz Konrad und ich nach Innsbruck. Wir besichtigten das Jugendzentrum und hatten ein längeres Gespräch mit P. Sigmund Kripp, ein ernster, eher introvertierter, sehr verantwortungsbewusster offener Mensch. Die offene Szene dort hat uns sehr beein druckt, u. a. die nicht nach Geschlechtern getrennten Duschräume. Nicht zuletzt dieser nicht von Ängstlichkeit bestimmter Umgang mit dem Sexuellen hat Kripp seine Leitung vermutlich durch ein sexualneurotisches Ver halten des Bischofs gekostet. Jedenfalls hat uns allein schon die Tatsa che, dass es ein modernes, offenes, dynami sches, christliches Jugendzentrum in einem modernen Neubau gab, sehr viel Schwung und Begeisterung gegeben, auf der Ennsleite in ebenso neuen Räumen dynamisch weiterzuwirken. Wir trafen im Herbst 1969 in Nußdorf am At tersee, in damaligen Seminarheim, und 1970 auf Burg Altpernstein zu Planungswochenen den mit 30 und 80 Jugendlichen zusammen. In Nußdorf suchten wir einen Namen für unser Jugendzentrum. Ilse Aigner nannte „Go on", ich spielte mit der programmatischen Abkürzung von „Future is our", FlO, woraufhin Josef Friedl oder Franz Haidinger ausrief, dass „fio" im La teinischen „Ich werde" bedeute und dies, das Werden der jungen Persönlichkeit in Freiheit, Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit, genau das Ziel des Zentrums sei. Da wir uns in Nuß dorf noch nicht entscheiden konnten und alle Clubmitglieder befragen wollten, kam es in der Woche darauf zur schriftlichen Abstimmung zwischen diesen beiden Vorschlägen. Mit 25 zu 23 für FIO fiel das Ergebnis ziemlich knapp aus. Die Jugendgottesdienste Am 5. Oktober 1969 fand die erste Jugend messe mit 56 Teilnehmer*innen im Kleinen Saal im Pfarrhof statt. Monat für Monat über viele Jahre wurden diese Jugendgottesdiens te mit bis zu 1.000 Teilnehmerinnen, die von weither, auch mit Bussen, kamen, ein auch öffentlich wahrgenommenes Zentrum der jun gen Gemeinschaft. Der Gottesdienst wurde jeweils von einem Club zusammen mit einem der beiden Kapläne vorbereitet. Wir konnten frei und kreativ gestalten. Es gab kaum je mals Begrenzungen. Wichtig waren vor allem die Musik, selbst formulierte Texte und Gebe te und Zeichen wie Tanz oder Bewegungen zur Musik. Neben den Gottesdiensten und den Clubabenden organisierten wir sehr bald Partys im kleinen Pfarrsaal mit aufwändigen Dekorationen, Bildungsvorträge, z. B. mit dem bekannten Maler Heribert Mader zur modernen Kunst, zur Frage des Guten Benehmens mit der Kulturreferentin des Landes OÖ Grete Casagrande oder zu Rhetorik und Gesprächsfüh rung mit Eduard Ploier, Besinnungssamstage z. B. mit Gunter Janda - „Gott ist nicht billig", Bergwochen in die Stubaier Alpen, in die Rad städter Tauern, in die Hohen Tauern, Ausflüge zum Kampstausee oder auf den Bärenstein im Oberen Mühlviertel. Am 7. Juni 1970 wurde der erste Gottes dienst in der neuen Kirche gefeiert. Am 31. Mai 1970 stellte sich im letzten Gottesdienst im Pfarrsaal das FIO mit einer sogenannten Rhythmusmesse der Pfarrgemeinde vor. Zu den normalen Sonntagsgottesdiensten kamen immer etwa 50 FlO-Jugendliche. Wir verein barten dann oft Treffen am Sonntag-Nachmit10

tag, an denen wir zu 15 oder zu 20 z. B. nach Ulrich oder Garsten wanderten und viel Spaß und Kommunikation miteinander teilten. Ein neuer Impuls für das Flü war die Auf merksamkeit auf die Gemeinschaft von Taize. Zu Ostern 1970 fuhr Josef Friedl mit Werner Schaffer, Enrico Savio und mir erstmals nach Taize. Wir erlebten beeindruckende Tage des Glaubens inmitten von vielen Jugendlichen aus vielen Ländern, einen wunderbaren Auf erstehungsgottesdienst mit der Ankündigung eines Konzils der Jugend für 197A durch den Prior Roger Schutz. Von da an begaben sich immer wieder FlO-Leute mit Auto oder Bus nach Taize. Gerhard Dite, Manfred Gurtner, Reinhard Schmid, Wilhelm Achleitner, Gudrun Fritsch Durch die begeisternden Erfahrungen im Flü wollte ich nach der Matura Priester bzw. Jugendkaplan werden. Mit Franz Haidinger, der mich im Winter 1971 mit dieser Idee über raschte, fuhr ich im Juni zum Linzer Priester seminar, um mich bei Regens Josef Wiener anzumelden. Ich erzählte, eine Freundin zu haben, was die Aufnahme nicht hinderte. Die Möglichkeit, als „Laientheologe" zu studieren, war mir nicht bekannt, wurde dort auch nicht erwähnt, war in Linz noch nicht üblich. Ich ging im September 1971 zum Theologie studium nach Linz ins Priesterseminar, Franz Haidinger wurde aufgrund seines Erfolgs im Flü zum Diözesanseelsorger der Katholischen Landjugend berufen und zog nach Linz. Franz Haidinger startete im ersten Jahr zusammen mit meinem Jahrgangskollegen Josef Habrin ger, dem Theologen und jetzigen Domkapell meister, und mir die Reihe großer, ganztägiger Jugendtreffen in Peuerbach, auf Burg Altpernstein und in St. Georgen an der Gusen. Hunder te Jugendliche diskutierten in kleinen Grup pen über die Bedeutung Jesu für ihr Leben, hörten Impulsvorträge von Franz Haidinger, sangen begeistert Lieder und meditierten von mir vorbereitete Texte. 1972 wurde ich von Re gens Wiener, den Bischöfen Zauner und Wag ner eingeladen, mich zum weiteren Studium ins Germanicum und an die Gregoriana in Rom zu begeben. Daraufhin suchte ich, allerdings vergeblich, zwei Jahre lang meine Berufung zum Zölibat. Dann kehrte ich 197A zu meiner Freundin nach Österreich und zur Fortsetzung meines Theologiestudiums nach Salzburg zu rück. Aber das ist nun eine andere Geschichte. Aufbau und Entwicklung des EIDS nun 52 Jahre danach: Freude an den Erinnerungen an ein schönes Stück Lebensgeschichte, in dem sich der Wandel von Kirche und Gesellschaft, von Architektur und Jugendkultur, von Kom munikation und Beziehung abbildet. Wilhelm Achleitner, war Direktor des Blldungshauses Schloss Puchberg In Wels, Im FlO 1969-1971

Franz Haidinger Die Kleingruppe als Prinzip und Zentrum 1968 wurde ich Religionslehrer in der HTL Der Seelsorger der KSJ, der Katholischen Stu dierenden Jugend, Dr. Josef Janda, besuchte mich und trug mir auf, unter den HTL-Schülern Jugendarbeit aufzubauen. Ein bedeutender Impuls für diese Art des Jugendzentrums kam für mich aus einem Gruppendynamik-Seminar, das ich noch vor der HTL-Zeit in Deutschland mitmachen konn te. Die wichtige Erkenntnis: Es gibt keine idea lere Lernsituation als die Kleingruppe. Nach meiner Erinnerung war der allerers te Anfang des FlOs die Religionsstunde in der Klasse L3, in der wir über „Kirche" sprachen und auf einmal einer von den Schülern sagte, in meiner Erinnerung Willi Achleitner: „Könnten wir nicht in einer kleinen Gruppe modellartig zu leben versuchen, was Kirche ist, Kirche sein soll, mit Kirche gemeint ist." Ich habe ihnen dann auf der Ennsleite Räume angeboten - und die erste Gruppe, der „Club um 19", entstand. Von der Innsbruckfahrt zum Kennedy-Haus habe ich noch die Fotos, aber kein Datum. Sehr bedeutsam war, dass jede Gruppe, je der „Club" einen Namen hatte, dadurch war sie ansprechbar und von anderen Gruppen un terschieden. Und der Gesamtname FlO wurde beim Wochenende im Seminarheim in Nußdorf am Attersee kreiert. Seelsorgehelferin Sr. Hel ga VoitI erinnert sich, in jener Gruppe gewesen zu sein, in der dieser Name „erfunden" wurde. FlO passte zudem auch gut nach Steyr-FIAT.Ich erinnere mich, dass ich sehr gekämpft habe, dass nicht zu viele Partys stattfinden. Ich fürch tete, dass sich die ganze Gemeinschaft in lauter 2er-Gemeinschaften auflöst. Wenn Tanzabend, dann sollte jeder und jede möglichst wenig mit dem Partner, der Partnerin zusammen sein, sondern mit möglichst vielen anderen. Gut in Erinnerung habe ich nach Jahren ei nen Bericht über das FlO in der Kirchenzeitung. Einer der „Schnaubelt-Buben" versuchte, seine Vorstellung von einem zeitgemäßen Jugend zentrum darzulegen. „Früher", sagte er „ging es den Verantwortlichen eher darum, Leute für die Kirche zu rekrutieren. Wir sehen aber heu te, dass es viel wichtiger ist, sich um gefährde te Jugendliche zu sorgen: Alkohol, Rauschgift ... Das ist unsere Aufgabe im JugendzentrumI" Ich dachte damals: Das wird das Ende des FlOsl Denn welche Eltern werden da noch Ju gendlichen erlauben, in dieses Jugendzentrum zu gehen, wenn dort Jugendliche sind, die mit Alkohol oder Drogen Probleme haben. Und im FlO sind nicht von vorneherein Jugendliche, die fähig sind für solch schwierige Sozialarbeit. Da musst du schon vorher lange spirituell mit ihnen arbeiten! Diese Aussage hatte aber nicht die befürchteten Folgen. In meiner Predigt zum Abschied von Pfarrer Ernst Pimingstorfer habe ich zu berichten ver sucht, aus welchem Leidensweg heraus auf einmal sich alles gewandelt hat - dazu die Bi belstelle vom Totenfeld, das zu neuem Leben erwacht. Das sind so ein paar Splitter, die mir einge fallen sind. Jedenfalls gehört die Geschichte mit dem FlO zu unserer Lebensgeschichte. Wir haben viel dabei gelernt. Das Feuer habe ich immer noch in mir, etwas zu tun, dass die zwei zu sammenkommen: Gott und der Mensch. Die Gottvergessenheit wird immer deutlicher. Es kann nicht egal sein, ob jemand verbunden mit Gott lebt oder getrennt von ihm. Franz Haidinger, war Landjugendseelsorger, Pfarrer und Bischofsvikar, im FiO 1969-1971 12

Christine Schaffer Offene und aufmerksame Unterstützung Der Name definierte die Zielsetzung des Jugendzentrums: FlO (lat.) = „Ich werde" und "Future Is Our"{engl.) = Die Zukunft gehört uns. Wir Jugendlichen wurden gesehen, ernst genommen und wertgeschätzt. Kapläne und eine Pastoralassistentin und Religionslehrerin begleiteten uns auf unserer Suche nach uns selber, nach unserer Lebens - und Berufs findung. Interessiert, offen und aufmerksam unterstützten sie uns in unseren Gedanken, Meinungen und Plänen. In einer sinn- und lust vollen Freizeitgestaltung innerhalb einer grö ßeren Gemeinschaft Gleichaltriger lernten wir uns selber, einander und die Welt kennen. Die Atmosphäre war Aufbruch, Neues, Begeiste rung. Wir begegneten einer modernen Kirche, die in uns Lust und Interesse weckte, sich zu engagieren. Und so manche/r hat es später auch getan! Christine Schaffer, unterrichtete Reiigion und Engiisch im Musischen Gymnasium in Saizburg, im FiO 1969-1972 13

Veronika und Hannes HIesImayr Die Liebe für das Leben kennengelernt Mariazell, 13. Mai 2021 Was uns zum FlÜ heute noch einfällt. Als Jugendlicher ernst genommen zu wer den und etwas bewirken können und wahrge nommen werden, etwas, das wahrscheinlich jeden Menschen bewegt: Das haben wir im FIG erleben dürfen. In einer Gruppe „ernsthaft" zu diskutieren über Themen, die das wirkliche Leben eines jungen Menschen betreffen und ansprechen und nicht nur an der Überfläche von Sport, Musik hängen bleiben. Von einem Gott zu hören, der uns nicht kon trolliert und bestraft, sondern von einem Gott, der uns liebt und unser Bestes will, der Le bensfreude und Ausgelassenheit gutheißt und der verzeiht. Darin besteht für uns das beson dere Verdienst unserer Kapläne Franz Haidin ger und Josef Friedl. Sich Gedanken zu machen über die Unge rechtigkeit auf dieser Welt und überlegen, wie wir zur Verbesserung dieser Welt beitragen können: Darin besteht für uns das Verdienst der Kapläne Rupp Federsei und Hans Wührer. Freundschaften schließen, die bis heute tragen. Die erste Verliebtheit erleben und mit je manden darüber auch sprechen zu können. Meine Frau und große Liebe für das Leben kennenlernen. Eine Kirche erleben, die einlädt und in der nicht nur ernste und lange Gesichter zu sehen sind. Sich einbringen und etwas gestalten zu dür fen. Einen Rückzugsort finden, Platten hören, meditieren, „wutzeln" im Keller des Pfarrhofs. Lebendige Gottesdienste feiern, Gottes dienste mit toller musikalischer Gestaltung, neue Formen der Gottesdienstgestaltung. Predigten, die sich an uns Jugendliche wen deten. Ein Kirchenraum, der die Gemeinschaft noch besser spürbar gemacht hat. Auch viele und prominente Erwachsene besuchten die Jugendgottesdienste. Was uns natürlich auch das Gefühl gab, ernst genommen zu werden. Keine Differenzierung in der Bewertung von Burschen und Mädchen, keine spürbare Hier archie zwischen Priestern und Laien. Wir sind überzeugt, dass unser Leben durch diese Erlebnisse und Möglichkeiten maßgeb lich geformt und beeinflusst wurde. Veronika HIesImayr unterrichtete In der Valksschule In Wartberg an der Krems, Hannes HIesImayr war leitender Angestellter der Firma Plesslinger In Mölln, beide Im Fl01969 -1972 14

Maria Gabriele Treschnitzer Meinen Glaubensweg gefunden Ich war 15 und auf der Suche. Im Glauben fühlte ich mich allein gelassen. Nach einer recht intensiven Jungschargruppe in Dietach bei Steyr gab es dann für heranwachsende Jugendliche außer den Gottesdiensten in der Pfarrkirche im Dorf keine Möglichkeiten mehr, sich in Gemeinschaft intensiv mit dem Glauben zu beschäftigen und sich auszutauschen. Bald bemerkte ich auch, dass die meisten Jugend lichen um mich herum kaum mehr Interesse an solchen Fragen hatten. Die Religiosität der Dorfkirche empfand ich mehr als Brauchtum, das mich nicht besonders ansprach und die ich, auch der Überheblichkeit der Jugend ge schuldet, oft als unaufrichtig und wenig tief beurteilte. Wie können sie so leben, wenn ich doch Sonntag für Sonntag in den biblischen Texten etwas ganz anderes höre? Wie können sie zufrieden sein, wenn sie wohlhabend, bür gerlich, abgegrenzt leben? Kurzum: Ich war mit meinen Fragen und Zweifeln allein. Dann kam das FlO. In der Schule hatte ich davon erfahren, ich glaube über den Religions professor. Dort wurde ich mit Gemeinschaft, aber was für mich genauso wichtig war, mit der Radikalität des Glaubens konfrontiert. Plötzlich waren da viele, die wie ich dem Evan gelium, Christus intensiv nachfolgen wollten, die mich nicht für eine hysterische Spinne rin hielten und mit mir die Freude am Beten, Glauben, Feiern und Singen teilten. In den vielen Gesprächen und Liturgien, die wir sehr jugendlich und frei gestalten durften, erlebte ich eine christliche Gemeinschaft, die mir half, meinen Glaubensweg zu finden. Ich war im Club „Spektrum" mit sechs Mit schülerinnen aus meiner Klasse. Der Clubna me „Spektrum" hat uns gefallen, weil er das Bild hervorrief, wie das Licht durch ein Prisma die Farben des Regenbogens entstehen lässt. Jede von uns suchte sich eine Farbe, und wir strickten uns Pullover, nähten uns Kleider in „unserer" Farbe: ich hatte die Farbe Rot und war die Leiterin. Somit war ich auch in der Leiter*innengruppe und lernte kennen, welche Schwerpunkte andere Gruppen hatten. Das war eine große Bereicherung, aber auch eine Herausforderung, z.B. in den immerwähren den Diskussionen: Brauchen wir mehr Kon templation oder mehr Aktion? Meine Eltern waren, da selber sehr gläubig, angetan, dass sich die jüngste Tochter so in tensiv mit dem Glauben auseinandersetzte, andererseits war die Art und Weise, wie es dort geschah, für sie befremdlich und auch et was suspekt. Die Einfachheit im Leben und im Umgang mit Besitz radikaler zu werden, wurde mir nicht zuletzt durch unsere gemeinsamen Taize-Reisen zur lebenslangen Herausforderung. Christ*in sein spielt sich jenseits bürger licher Religion ab. Das darf so sein und darin bin nicht allein. Für die Erfahrungen im FlO, die mich auf den Weg gebracht haben, bin ich bis heute sehr, sehr dankbar. Maria Gabriele Treschnitzer, Theologin, Mitbegründerin der Krankenseeisorge in Salzburg, Seeisorgerin für Laientheoiog*innen, zuletzt Referentin für Citypastoral und soziai-caritative Dienste, im Fi01972-1974 15

Franz Steinmaßl Links abgebogen Ich sehe uns heute noch sitzen, den Hannes Hiesimayr, den Hans Freimüller und mich. Wir saßen im Zimmer der beiden auf ihren Betten und besprachen die Verbesserung der Welt. Es muss in meiner dritten HAK-Klasse gewesen sein, wir waren so um die siebzehn Jahre alt, und wie überhaupt sich unser Gespräch auf dieses Thema hinbewegt hat, weiß ich nicht mehr. Aber es war schon so: Die Nöte der Welt und wie sie zu lösen wären, das war damals schon ein Thema, und die Schwerpunkte wa ren der Vietnam-Krieg und das, was man da mals in kritischen Kreisen als „Dritte Welt" zu entdecken begann. Hier richtete sich die Auf merksamkeit zunehmend auf Lateinamerika, die brutalen Diktaturen dort und die entste hende Befreiungstheologie. So ungefähr in diesem Radius hat sich un ser Gespräch an diesem Abend bewegt, und unausgesprochen gingen wir dabei von zwei gemeinsamen Grundüberzeugungen aus: Wir kamen erstens aus einem christlich-katholi schen Hintergrund und hatten begonnen, un seren Glauben als Auftrag zur Verbesserung der Welt zu verstehen, ein Gedanke, der der Generation unserer Eltern noch völlig fremd gewesen war. Und wir waren zweitens davon überzeugt, dass die Welt mit der richtigen mo ralischen Einstellung im Verbund mit den bes seren Argumenten wirklich besser = gerechter gemacht werden konnte. Die Suche nach einem Ort Die weise Einsicht dieses Abends war: Die Probleme sind riesengroß, und unser Wissen ist demgegenüber zu klein. Also beschlossen wir, uns auf die Suche nach einem Ort, hier in Steyr, zu machen, um unser Wissen zu vertie fen und so der Weltverbesserung einen Schritt näher kommen zu können. Und diesen Ort fanden wir tatsächlich: Es war das damals recht junge Jugendzentrum PID in der ebenfalls noch jungen Pfarre St. Jo sef auf der Ennsleite. Bis zu diesem Abend hatte meine „Politisie rung aus dem Glauben" (ich weiß, das klingt vielleicht blöd, aber mir fällt beim besten Wil len nix Gscheiteres ein!) schon einen längeren Weg zurückgelegt. Da waren mehrere Ent wicklungen nach-, hinter- und nebeneinander gelaufen, und ob ich die jetzt alle in die richtige Reihenfolge bringen kann, da bin ich mir nicht so sicher, aber ich probiere halt: Schon seit dem Konzil lag etwas in der Luft, wobei das II. Vatikanische Konzil selber gänz lich an uns einfachen Katholiken vorbeigegan gen ist, da sind nur die Überschriften bei uns angekommen, und darunter konnte sich nie mand etwas vorstellen. Aber es muss um 1967 gewesen sein, dass die ersten rhythmischen Kirchenlieder bei uns aufgetaucht sind. Dass sie die Übertragungen traditioneller amerika nischer Spirituals bzw. Gospels waren, haben wir gar nicht überrissen, aber sie hatten den Rhythmus und das Feuer unserer neuen Rockund Pop-Musik - und die Älteren regten sich furchtbar darüber auf. Das machte sie unge fragt zu „unserer" Musik. Also sangen wir, noch außerhalb von Gottesdienst und Kirchenmau ern „Ja wenn der Herr einst wieder kommt" oder „Kommt, sagt es allen weiter...". Einen besonderen Stellenwert unter die sen neuen Liedern hat in meiner Erinnerung „Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr...", eigentlich ein ganz schlichtes Liedl der Sceur Sourire, das aber bereits in seiner ersten Zei le

le einen neuen Blick auf die Welt signalisier te: Nein, die Erde ist kein Jammertal! Nicht: „In von Gott verfluchten Gründen/herrschen Satan, Tod und Sünden", sondern, ja: Die Erde ist schön, wir wollen uns des Lebens erfreuen, und Gott will, dass das so ist! In seinem Kern hatte sich ja das ganze bisherige christkatho lische Denken um Sünde, Tod und Jenseits gedreht. Dieses Lied bezeichnet für mich bis heute den historischen Kamera-Schwenk von Tod und Jenseits auf Leben im Diesseits, von der Sündenfurcht zur Lebensfreude. Die Leonsteiner Jungschar In diesen Jahren habe ich mich für einige Zeit der Leonsteiner Jungschar angeschlos sen. An den Sonntagnachmittagen fuhr ich mit dem Radi hinüber nach Leonstein zu den Jungscharstunden, und der Jungscharführer damals war der Walter Pfaffenhuemer. Es war mein Freund Joe Asch, der mich auf Walters neu bemaltes Auto, einen Fünfhunderter, auf merksam machte: Er hatte es mit vielen bun ten Farben bemalt, und es damit ganz bewusst zu einem schreienden Protest gegen den Völ kermord an den Igbos in Biafra gemacht! Natürlich hatte ich von diesem Krieg im damals noch jungen Staat Nigeria in den Ra dio-Nachrichten gehört, dass das Volk der Ig bos einen eigenen Staat hatte gründen wollen, und das militärisch siegreiche Nigeria die Ig bos von alles Versorgungslinien abgeschnitten und dem Verhungern und Verrecken preisge geben hat. Aber der Walter Pfaffenhuemer hatte seinen Fünfhunderter händisch mit Pro testparolen gegen diesen Völkermord bemalt, und er ließ sich einen Vollbart wachsen, den er erst abrasieren wollte, wenn das Morden ein Ende hatte. Das war damals etwas völlig Neues: Man kannte zwar die 68er Proteste aus den Fern sehnachrichten, aber die hatten in den fernen Städten Paris und Berlin stattgefunden, und was genau diese Protestierer wollten, au ßer ein Ende des Vietnamkrieges, hat sowie so keiner von uns so recht verstanden. Aber dass jetzt ein Sprössling aus einer der ange sehensten Leonsteiner Familien, einer erzka tholischen dazu, plötzlich gegen Ereignisse im fernen Afrika protestiert, das war völlig neu und irritierend. Das Politische im Katholischen hatte sich bisher ausschließlich auf die ÖVP beschränkt und war ohne jede Betroffenheit und jeden Aktionismus ausgekommen. Wenn ich so an die Jahre 1968 bis 1970/71 zurückdenke: Damals schwirrte und flirrte al les, soviel Neues lag in der Luft. Da waren die Studentenproteste von 1968, da begannen wir die „Dritte Welt" wahrzunehmen mit dem Hun ger in Afrika und den grauenhaften Diktato ren in Mittel- und Südamerika, da lenkte der Mord an Martin Luther King 1968 unsren Blick auf die Rassendiskriminierung in den USA und die Bürgerrechtsbewegung, Vietnam war, eine entsprechende Wachheit vorausgesetzt, schon fast ein Alltagsthema und mit Bob Dylan bekam auch unsere, die populäre, die rockige Musik einen neuen, einen politischen Prophe ten. Die 68er und die Kirche Manchmal wurde ich, auch von mir selber, gefragt, inwiefern ich mich zu den „68ern" rechne. Streng genommen nicht, denn im Mai 1968 war ich noch keine sechzehn Jahre alt, ging in die erste HAK und war in dem welt fernen Franziskanerkonvikt sowieso von den meisten Informationen abgeschnitten. Nimmt man „1968" aber als Chiffre, als Zu sammenfassung all der neuen Themen, wie ich sie oben skizziert habe, dazu die Aura des Anti-Autoritären, das bei uns gerade zu einem Autoritäts-Kritischen reichte, dann kann man sehr wohl von so etwas wie Spät-68ern spre chen. Was zu diesem Komplex noch untrenn bar gehört, sexuelle Revolution, freie Liebe und natürlich Drogen, waren in unserem Um feld aber überhaupt keine Themen. Dafür hatten wir etwas ganz 68-Untypisches: unsere Bindung an die Kirche. Wir alle 17

stammten aus katholischen Elternhäusern, die meisten unserer Eltern hatten pfarrliche Dienste geleistet, wir selber waren schon als Kinder Ministranten und in der Jungschar und begannen dann mit 16,17 Jahren Verantwor tung zu übernehmen, ich eben als Jungschar führer. Die Prägung erfolgte dabei auf zwei miteinan der verbundenen Ebenen: Da war als erste die Arbeit mit den Buben, Heimstunden, Aktionen, Teilnahme an kirchlichen Festen. Das bedeu tete Planung und Vorbereitung, war aber auch ein wichtiger Teil meiner jugendlichen Per sönlichkeitsbildung. Die zweite Ebene war die Zusammenarbeit der Führungskräfte auf der Dekanatsebene, bei den diözesanen Schulun gen und den Diözesanleitungskreisen. In ihrer Summe war das eine Gemeinschaft ungefähr gleich junger Menschen mit engagierten Kaplänen, die von der kirchlichen Aufbruchstimmung der Synodenjahre geprägt war und ihrerseits wieder andere, vor allem die Jungschar kinder, zu prägen versuchte. Da war z. B. die alljährliche Dreikönigsak tion, damals schon rund fünfzehn Jahre alt, die aus ihrer anfänglichen Armuts- und Hun gerhilfe einen kritischen Blick auf das schiefe Verhältnis zwischen „entwickelten" und „un terentwickelten" Regionen zu werfen begann, also Ansätze eines entwicklungspolitischen Bewusstseins entwickelte. Zur Vorbereitung der Aktion gab es immer zumindest zwei Heimstunden, in denen ich meinen Buben, so gut ich es eben wusste, die ungerechten Ver hältnisse zwischen Nord und Süd zu erklären versuchte. Der Grundgedanke war, den Schritt von der Barmherzigkeit zur Gerechtigkeit zu machen. Um beim Gesellschaftspolitischen zu blei ben: Es mag ja beim Lesen schon die unge nierte Verwendung des Jungschar-„Führers" aufgefallen sein. Einige Jahre später wurde der Begriff dann auch durch „Leiter" ersetzt, aber in den Jahren so um 1970 war er nieman dem ein Problem. Diese Gedankenlosigkeit spiegelt einfach die Haltung der damaligen Gesellschaft zur NS-Vergangenheit wider: Die war noch völlig unsensibel gegenüber solchem Vokabular, aber, um auch das klar zu sagen: Wir waren keine „Führer" im nationalsozialis tischen Sinn. Ja, wir haben auch unsere Geländespiele gespielt und hatten keine Ahnung, dass die aus dem Fundus der Hitlerjugend stammten. Und wir haben sie auch nicht in diesem Geist gespielt. Sie waren keine vormilitärische Aus bildung, keine Vorbereitungen auf Krieg und Soldatentum, sondern quasi-sportliche Wett kämpfe in der frischen Luft. Bei einem solchen Geländespiel in Leonstein drüben erlebte ich einmal eine saftige Überra schung: Um mich vor den Gegnern zu verste cken, kam mir gerade ein Heustadel Recht, doch als ich beim Stadeltor hineinstürmte, blieb ich wie angewurzelt stehen: Auf einem Heuhaufen saßen ein junger Bauernbursch aus unserer weiteren Nachbarschaft und sein Mädchen, das dort in der Gegend zu Hause war. Genau genommen war die Situation völ lig unverfänglich, die beiden waren ordentlich gekleidet und saßen sittsam nebeneinander, aber die Lokalität Heustadel hatte an sich schon so viel Zweideutiges, dass wir einander vor lauter Schrecken nicht einmal gegrüßt ha ben und ich, so schnell ich konnte, wieder das Weite gesucht habe. Die katholische Aufbruchsstimmung In unserer katholischen Aufbruchsstim mung war uns alles Neue Recht: die Gottes dienste mit Gitarrenbegleitung, oft in kleiner Runde und manchmal sogar mit echtem Brot und in beiderlei Gestalt, und die lebhaften De batten über die starren Sittengesetze. Dazu hatten wir gleich einen Paradefall in unseren eigenen Reihen: Die Dekanatsführerin der Mädchen hatte sich mit ihren Eltern überwer fen und war aus dem Elternhaus aus- und zu ihrem Freund, dem Dekanatsführer, gezogen - ohne Heirat und Trauschein! Der darauffolgen de Wirbel zog weite Kreise in den katholischen 18

Kernschichten, und unser Jungscharseelsor ger Joschi Zauner (bitte vor den Vorhang!) hat von seinen klerikalen Mitbrüdern sicher so manchen harten Vorwurf einstecken müssen, aber er hat sich vor die beiden gestellt. Auch die neu eingeführte Handkommunion begrüßten wir und lachten laut, als ein em pörtes Flugblatt auftauchte: und dann legt man den allerheiligsten Leib des Herrn in die schmutzigen Finger der kleinen Kinder und in die gelben Nikotinfinger der armen Süchti gen!" Am meisten, so denk ich mir, haben aber eh die Priester davon profitiert, denn bei der alten Mundkommunion taten sich ihnen oft genug alte Mäuler voller verfaulter Zähne und stinkendem Atem auf, denn Zähneputzen war damals noch keineswegs gang und gäbe. Jede Neuerungsbewegung arbeitet sich natürlich auch an dem Althergekommenen ab. Der Kern unserer Kritik war, dass der tra ditionelle Katholizismus sich allzu oft auf die Einhaltung formaler Vorschriften beschränkte und von einer christlichen Lebensweise weit entfernt war. Die Kritik von uns Jungen, pau schal und damit natürlich auch ungerecht, kristallisierte sich interessanterweise um die Frauen mit dem charakterisierenden Satz: „Am Sunnda in da Kircha tuats recht heilig, und unter der Wochn iss' die größte Bissgurn!" Insgesamt traut ich mich schon zu sagen, dass damals ein Schritt gemacht wurde von Eine-Religion-haben zu Gläubig-sein. Das äu ßerte sich z. B. auch darin, dass in den Got tesdiensten im kleinen Rahmen von uns erst mals auch persönliche Gebete und Gedanken formuliert wurden. Als ich das dann einmal während des Heiligen-Nacht-Betens im Fami lienkreis gemacht habe, hat Mutter das zwar gut gefallen, aber Vaters unausgesprochenen Widerwillen habe ich, übers Tischeck' herüber, fast körperlich gespürt. Das FlÜ-Jugendzentrum So vor- und aufbereitet bin ich dann mit meinen neuen Freunden ins FlO-Jugendzentrum in der jungen Pfarre Steyr-Ennsleite aufgebrochen. Die Organisationsform des Ju gendzentrums war damals noch ganz neu, sie lag außerhalb der üblichen Gliederungen, wie etwa der Katholischen Studierenden Jugend, und verkörperte eine neue Offenheit. Initiiert von den beiden Kaplänen Franz Haidinger und Josef Friedl, und besiedelt hauptsächlich von Schülern der HTL und Schülerinnen der HBLA, hatte sein Name schon eine interessante dop pelte Bedeutung. „Fio" ist einerseits lateinisch und heißt: „Ich werde", und genau das war das Anliegen der beiden Kapläne: Uns Jugendli chen Raum zum Reifen zu geben, mit dem Ziel eines mündigen erwachsenen katholischen Christen. Die zweite Deutung von FIO ist die Abkür zung des englischen „Future is ours", also „Die Zukunft gehört uns", und das war zweifelsfrei unser Selbstverständnis. Wir glaubten noch allen Ernstes, wir könnten die alte, vollgerümpelte Kirche hinter uns lassen, und die unge rechte Gesellschaft gleich mit, und wir könn ten sie bauen, die neue Stadt auf dem Berg, eine neue Kirche und eine neue Gesellschaft. Strukturiert war das FIO in Clubs, Gruppen von maximal zehn/zwölf Burschen oder Mäd chen, die ihre wöchentlichen Clubabende selbständig gestalteten. Der Name unseres sechs Burschen umfassenden Clubs war „Pro Nova", also „Für das Neue". Über das Clubleben hinaus gab es Vorträge, Konzerte und Partys, vor allem aber die legen dären monatlichen FlO-Messen, zu denen auch Jugendliche aus dem weiten Steyrer Umland und den Tiefen des Steyr- und des Ennstales anreisten. Wichtig für mich war jedoch, dass genau zu der Zeit, als wir ins FIO kamen, der Sepp Kroiss einen Arbeitskreis „Dritte Welt" initiiert hatte. Das war eine Abweichung vom FlO-Clubsystem, das keine thematische Fixierung kannte. Auslöser dafür war eine Kampagne des Öster reichischen Jugendrates für Entwicklungs hilfe mit dem Titel „Nicken Sie nicht - tun Sie was!" Der oberflächliche Aktionismus dieses Aufrufes hat mich nicht gestört, hat nieman19

den gestört, er lag mitten im Zeitgeist, und ich habe mich mit Feuer und Flamme dieser Grup pe angeschlossen. Festes statt, setzen den befreienden Weg Got tes mit seinem Volk auf eine neu und radikal zugespitzte Weise fort. Der neue Blick auf Christentum und Politik In ungefähr dieser Zeit kamen mit Hans Wührer und etwas später Rup Federsei zwei ausgesprochen politische, linke Kapläne auf die Ennsleite. Und die vertieften unseren neu en Blick auf Christentum und Politik um ganz wesentliche theologische Dimensionen: näm lich um die biblischen. Die Bibel, also das Alte Testament und insbesondere die Evangelien neu zu entdecken, das war ein gedankliches Abenteuer, das mich eigentlich bis heute nicht loslässt. Was war so neu an diesen Geschichten, die du als Siebzehnjähriger regelmäßig an den Sonntagen schon x-mal gehört hast, was soll daran noch aufregend sein? Beginnen wir am Anfang, also mit dem Schöpfungsbericht: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich." (Gen 1,26) und einen Absatz weiter: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild: als Abbild Gottes schuf er ihn." Der Mensch als Abbild Gottes, das ist für mich bis heute das tiefstgründige Fundament der Menschenrechte, was meinen Respekt vor all jenen, die sich aus anderen Motiven heraus dafür einsetzen, keineswegs mindert. Als nächstes Schlüsselereignis galt es den Exodus zu entdecken, den Auszug der Israeli ten aus Ägypten. Jahwe führt sein Volk aus der Sklaverei, und erst aus dieser Befreiungstat leitet er seinen Anspruch ab, diesem seinem Volk ein neues Gesetz zu geben, den Dekalog, die Zehn Gebote. Jahwes Ordnung für das Le ben von uns Menschen ist als Befreiung, als Freiheit grundiert. Das jüdische Pessach- oder Passahfest ist das Erinnerungsfest an diese Befreiungstat Jahwes, und Jesu Tot und Auferstehung fin den unmittelbar im zeitlichen Rahmen dieses Das Leben vor dem Tod Und dann kam plötzlich dieser Satz, wann genau und wie, weiß ich nicht mehr, ich sage heute, er ist vom Himmel gefallen: Ich glaube an ein Leben vor dem Tod! Denn zumindest nach meiner Wahrnehmung war der christ liche Glaube, und ist es z. T. heute noch, auf das Jenseits fixiert. Jesus ist von den Toten erstanden, um uns ewiges Leben zu schenken. Okay, mag sein, aber dann lasst uns dieses ewige Leben doch hier und jetzt im Diesseits beginnen, Jesus hat uns erlöst, damit wir er löst leben. An dieser Stelle muss ein sehr persönlicher Einschub erlaubt sein: In keiner Passage diese Buches ist mir das Schreiben so schwer gefal len, wie hier. Denn dass jemand seinen Glau ben aus der Bibel ableitet, das passiert bei Ka tholiken ganz selten. Ich habe auch überhaupt kein Gefühl dafür, wen von meinen Leserinnen und Lesern das eigentlich interessiert, die ganze innerkirchliche Debatte ist, wenn sie überhaupt geführt wird, auf das Thema Zölibat eingeschränkt, und darüber hinaus ist Sende pause. Eine breite Debatte über Geschichte und Inhalt der Offenbarung findet nicht statt, und den immer noch gültigen Opfercharakter der Eucharistie stellt auch keiner in Frage, ein ganz böses Versäumnis in meinen Augen. „Als Katholik kannst du nur links sein", sagt mein Freund Hannes Hiesimayr. Ja freilich", sage ich, „eh klar, was sonst?" Aber dann komme ich ins Grübeln: Warum sind dann die europäischen Katholiken bes tenfalls bürgerlich rechts angesiedelt (CDU/ CSU in Deutschland, ÖVP in Österreich, die frühere DC in Italien) und in schlimmeren Fäl len (aktuell Polen!) widerlich rechtsnationalis tisch? Warum haben, blickt man etwas weiter zurück, die Kirchen offen menschenverach tende faschistische Regime (den österreichi20

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