Eine österreichische evangelische Parochie

24 Schritt. Man kann sich dabei an das Wort St. Pauli (l Kor. 16, V. 9) er­ innern : Eine große Tür ist ausgetan, die viel Frucht wirkt und sind viele Wider­ sacher da. Die Tür ist geöffnet, aber an der Türschwelle sitzen die Widersacher, die Macht der Gewohnheit, die nicht unbegründete Furcht vor gewaltigen Nachteilen im persönlichen, geschäftlichen und bürgerlichen Leben, die ledigliche Verneinungssucht, die das „Hin zum Evangelium" nicht finden kann, die abstoßende Kleinheit und Armseligkeit der evangelischen Kirche und vieles andere. Manchen lärmenden Sturm- geistern dieser Bewegung soll man mit Recht Goethes Wort zurufen: „Wer recht wirken will, muß nicht schelten, sondern das Gute tun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingerifien, sondern daß etwas aufgebaut werde, woran die Menschheit reine Freude empfindet." Unser drei sprachen einst über diese Dinge, ein katholischer Ingenieur, ein katholischer Beamter, der evangelische Pfarrer. Hoffnungen wurden laut, Ziele genannt, Schwierigkeiten nicht verhehlt. Der Ingenieur meinte, um evangelisch zu werden, besprechen die Leute sich zu viel mit Fleisch und Blut; der Beamte aber: Märtvrer sollten wir haben und daran hab'n's kein' Freud. Die Äußerungen treffen den Nagel auf den Kopf. Ohne volle Bereitwilligkeit, die Schmach Christi auf fich zu nehmen, kann tliemand mit rechtem Ernst übertreten. Überdies ist die Unwiffenheit in Sachen der evangelischen Lehre wahrhaft gräulich. Eine katholische Magd, beauftragt, dem Rabbiner anläßlich der Geburt eines Kindes eine Henne zum Opfer hinzutragen, bringt dieselbe ins evangelische Pfarrhaus dicht neben der kreuzgezierten Kirche; sie hätte gemeint, hier wäre der Judentempel! Von einem kleinen Buben, den eine Frau auf der Straße bewundert, sagt sie, als sie erfahren, daß er einem Evangelischen gehöre: Schad', daß er nit tast (getauft) ist! Ein höherer katholischer Offizier fragt beim Kaisersest den evangelischen Pfarrer, ob denn die evangelische Kirche auch so etwas, wie, daß Christus für uns gestorben sei, lehre! Ziemlich allgemein heißen die Katholiken die Christen; die Protestanten als solche zu bezeichnen, ist nicht ohne weiteres gebräuchlich. Solche Stücke ließen sich in Menge erzählen. Kann man sich wundern, daß bei solchen Vorstellungen nicht so leicht einer der evangelischen Lehre nachfragt oder willig wird, einer solchen „halbjüdischen" Gemeinde anzugehören? Dennoch ist auch viele Hochschätzung der Evangelischen vorhanden. Dem Pfarrer wird mit großem Respekt begegnet und die Macht protestantischer Bildung wird rückhaltlos und willig anerkannt. Von dieser Erwägung aus, daß das biblische Christentum der evangelischen Kirche den sich zn ihm bekennenden Völkern überaus viel vorausgibt vor den römisch-katholischen, wird denn auch noch mancher den Weg zu unserer Kirche finden unb in ihrem Lichte wandeln. „Verdirb es nicht, es ist eilt Segen darin", heißt's auch diesen zunächst nur Deutschtum und Volkstum pflegenwollenden Bestrebungen gegenüber. Ob einer von dem Heilsbedürfnis seiner eigenen Seele getrieben oder in der Sorge um die beste geistige Kraft für die großen heiligen Güter des Volkslebens evangelisch wird, das ist schließlich einerlei. Wir begrüßen die Frage: Was muß geschehen, daß unseres Volkes sittliche Kraft und Frische erhalten bleibe? ebenso als das Morgenwehen einer neuen Zukunft, wie die andere, rein persönliche: Was muß ich tun, daß ich selig werde? Der Anlaß, evan­ gelisch zu werden, mag verschieden sein, wenn nur das nachherige evangelische Sein ein aufrichtiges, lebensvolles, geisterjülltes wird.

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