Eine österreichische evangelische Parochie

18 großen Teile auch aus dem Deutschen Reich hereingezogenen Fabriksarbener, ein wenig seßhafter, sehr von der Gunst oder Ungunst der jeweiligen Geschäftslage ab­ hängiger Gemeindeteil mit unsicherem Verdienst. In gleicher Lage befinden sich die zu der Gemeinde eingepfarrten Arbeiter in den Fabriken um Waidhofen, in Böhler­ werk, Hilm-Kematen, Ulmerfeld. Nennen wir noch die paar Geschäftsleute und die vereinzelten evangelischen Beamten in der Industrie, der Forstwirtschaft, in der k. k. Strafanstalt, unter denen auch zum guten Teil Auswärtige und im Ausland Ge­ bürtige sind, und die wenig zahlreichen Übergetretenen aus anderen Kronländern, so haben wir die bunte Zusammensetzung der kleinen Gemeinde beschrieben. Hier fehlt von Hause aus alles, was der Seelsorger in geschlossenen, uralten evangelischen Ge­ meinden zu gemeindebildenden Mächten vorfindet, die gemeinsame Heimat, die land­ schaftliche Sitte, die durch Generationen gepflogene Beziehung zu derselben Kirche und Pfarrei. Das Glaubensband muß zunächst allein die Glieder zusammenhalten und die kirchliche Gemeinschaft die Kette zwischen ihnen schmieden. Wie rein und reich kann also solcher Gemeindebund werden, wenn diese innerlichsten Bindemittel vorhanden sind und treu gepflegt werden! Wie haltlos und zerrissen wird derselbe aber dastehen, wenn ihm diese Kräfte abgehen und nicht einmal äußere Interessengemeinschaft einen schwachen Ersatz dafür bietet! Abgesehen von den im Toleranzjahr gebildeten Land­ gemeinden haben fast alle neueren Stadtgemeinden dieselben Schwierigkeiten zu überwinden. Bleiben die Gemeindeglieder Jahrzehnte lang im Gemeindeverband, ge­ winnen vielleicht gar die Kinder der ersten Ankömmlinge, die in der kleinen Diaspora­ kirche getauft und konfirmiert wurden, die neue Heimat lieb und bleiben ihr treu, dann grünt und gedeiht der mütterliche Gemeindebodcn; aber wie unzuverlässig, flug­ sandartig sind doch die Verhältnisse der meisten zur Gemeinde ihres Ortes? Alle Jahre verziehen kaum Eingewanderte und alle Jahre treten Fremde ein. Am 23. Oktober 1875 wurde die evangelische Gemeinde in Steyr behördlich genehmigt. Bis heute hat sie nur eine geringe Zahl der ersten Mitglieder behalten und ihr Angesicht des öfteren verändert, wie auch ihre ruhige, gleichmäßige Ent Wicklung mannigfach behindert worden ist. Der fünfte Pfarrer steht heute der Ge­ meinde vor. In den Jahren 1881 bis 1888 hat aus Mangel an Mitteln eine Vakanz statthaben müssen, während derselben die Gemeinde von Linz aus pastoriert wurde. Gemeindebildung im wahren Sinne des Wortes, nämlich Zusammenschluß zu einem einigen, in Bruderliebe und helfender Arbeit vereinten Körper und Pflege der persönlichen, auch außergottesdienstlichen Gemeinschaft, das ist für die meisten unserer österreichischen Gemeinden die erste Aufgabe. Die römische Sakramentskirche über­ schätzt den Gottesdienst; die evangelische Gemeindekirche darf nicht in denselben Fehler fallen. Unsere Pflicht ist in der Diaspora vorerst die Darstellung der „einen, heiligen, christlichen Kirche, der Gemeinde der Heiligen". Sie muß in ihrem gemein­ samen Leben die im Gottesdienste und durch Gotteswort erfahrene Kraft wieder aus­ atmen und in ihren Lebensordnungen die evangelische Wahrheit abbilden. Ähnlich wie in der ersten Christenheit hört man auch heute von Katholischen das Lob: die Evangelischen halten vielmehr zusammen und tun viel mehr für einander als die Unsrigen. Das Lob beschämt uns und spornt uns nur zur vermehrten Bemühung

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