Erschwerend kam vor dem Ersten Weltkrieg hinzu, daß die Bergarbeiter kein ausgeprägtes Selbstbewußtsein als eigene Klasse hatten und daß eine stützende Struktur - von Vereinen bis zur Werksschule und eigenen einflußreichen Vertretern im öffentlichen Leben - noch kaum existierte. Die sozialen Unterschiede waren für die Kinder nicht nur an der Kleidung, sondern beispielsweise auch an der Wohnungsgröße sichtbar, an der unterschiedlichen Jause in der Schule „schmeckbar" und an der ihnen entgegengebrachten Wertschätzung spürbar. „Den Bauernkindern waren die Kolonistenkinder zminder. Das waren ,die Behm '. Die haben keinen Wert gehabt gegenüber den Bauernkindern", so Frau Caroline Reisseg, die spätere Lebensgefährtin von Rockstroh III, die selbst von einem Bauernhof kam und die Kindheit aus dieser Perspektive erlebt hat. „Die Bergarbei ter sind besitzlos gewesen, und die anderen haben Besitz gehabt", nennt Rockstroh III rückblickend einen zentralen Punkt. Dabei war die Situation der meisten Bauern gar nicht rosig; aber immerhin mußten sie auch während des Ersten Weltkriegs, als Rockstroh III seine Schulzeit absolvierte, nicht hungern. Für die Bergarbeiterfamilien jener Zeit hingegen war Hunger eine ständige Drohung, vor allem wenn der Vater verunglückte oder längere Zeit krank war. Auch die Familie Rockstroh II erlebte eine solche Phase. Beerenpflükken wurde zur Überlebenstechnik. „Die Himbeeren haben wir dann in Bruckmühl verkauft. Der Grünner, der Jud, hat uns mehr bezahlt pro Kilo. Es war eine schwere Zeit." In den Erzählpassagen über die alltägliche Existenzsicherung taucht auch die Mutter auf. Sie schuf, wie unzählige andere Frauen auch, ers t jene Voraussetzungen, die eine politische Arbeit möglich machten, und sie wurde gerade durch das politische Engagement fortwährend vor neue Schwierigkeiten ges tellt. Obwohl sie die politische Einstellung ihres Mannes teilte, konnte ihr dessen Agitation nur Sorgen machen . Die dritte Generation: Hoffnung, Niederlage, pragmatisches Gerechtigkeitsgefühl So wenig wie Rockstroh II eine „normale" Bergarbeiterlaufbahn durchgemacht hatte, wollte er eine solche für seinen Sohn, und dieser wollte sie auch nicht. Das unterscheidet diese Familie von vielen anderen . Rockstroh III 96 wünschte sich schon als Schüler, einen Beruf zu erlernen, und lag damit auf der Linie des Vaters, der meinte: ,, In die Grube darfst Du mir nicht hinein ." Entsprechend begann Rockstroh III eine Lehre als Schlosser in der Feilenfabrik Braun in Vöcklabruck. Lange Arbeitszeiten, kriegsbedingter Hunger und das überhebliche bis sadistische Verhalten von Offizieren einerseits, lange Gespräche mit dem Großvater andererseits blieben aus dieser Phase stark in Erinnerung. Man redete auch in der Werkstatt über den Krieg und gab dem Kaiser die Schuld daran. Geradezu euphorisch wurde im „Revier" die Gründung der Ers ten Republik gefeier t. Rockstroh III begegnete auf dem Heimweg von Vöcklabruck den begeisterten Bergarbeitern, die, teilweise im Bergkittel, von Kohlgrube nach Wolfsegg zogen und immer wieder in den Ruf „Hoch die Freihei t" einstimmten . Vater Rockstroh wurde Arbeiterra t und organisierte den Tausch von Kohle gegen Getreide, das in der konsumeigenen Mühle gemahlen wurde. Nach den ersten Wahlen wurde er erster soziald emokra tischer Bürgerm.eister von Wolfsegg und nutzte diese Position, um an der Verwirklichung seiner Ziele zu arbei ten . 1919 beende te Rockstroh III seine Lehre. Eigentlich wollte er nun bei der Eisenbahn beginnen. Seine Eltern rieten ihm aber wegen der schlechten Verdienstaussichten ab, und so nahm er 1920 eine Arbeit in der Werkstatt des Bergbauunternehmens auf. Im gleichen Jahr aß er seine ers te Orange - eine Erinnerung, die sich tief eingeprägt hat - und trat der sozialdemokra tischen Partei und der Gewerkschaft bei. In der Kolonie war er eher ein Außenseiter, der auf Mädchen „nicht reagiert" hat, keinen Alkohol trank und stets gut gekleidet war. 1922 kaufte er sich, mit 20 Jahren, ein Fahrrad und trat dem 1920 gegründeten Arbeiterradfahrverein bei. 1926 verlor er bei einer großen „Abbauaktion" des Werkes seine Arbeit. Ledige und Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes waren die Hauptbetroffenen. Das Werk machte Politik, viele seiner Aufsichtsorgane waren aktive Heimwehrmitglieder. Neben alltäglichen Repressalien wurden Entlassungen als politisches Hauptdruckmittel eingese tzt. Besondere Erregung in der Bevölkerung lös te eine Entlassungswelle 1933 aus, bei der erfahrene Häuer aus politischen Gründen ihre Arbeit verloren und durch Bauernburschen aus der Umgebung ersetzt wurden. Rockstroh III wollte neuerlich zur Bahn, wurde neuerlich von seinen El tern zum Bleiben überredet und erhielt über Intervention seines Bürgermeistervaters wieder Arbeit im Werk: Allerdings eine minderqualifizierte und schlecht bezahl te.
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