Aus finanziellen Gründen wechselte er nunmehr auch den Beruf und begann seine Laufbahn als Bergarbeiter. Auch ihm fiel die Arbeit schwer, sie war ihm nichts Selbstverständliches. Die Arbeitsbedingungen erkann te er als veränderbar - genauso veränderbar wie die sozialen und politischen Verhältnisse insgesamt: Parallel zu seiner Tätigkeit als Bergarbeiter begann er als gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Agitator zu wirken. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Berichte über politische Aktivitäten in Wolfsegg und Kohlgrube3 , ohne daß darin jedoch der Name Rocks troh erwähnt wird. Die politische Arbeit des Vaters ist es auch, die in den Erinnerungen von Rockstroh III eine zentrale Stelle einnimmt. „Am Sonntag, wenn wir aufgestanden sind, ist die Mutter schon aufgewesen. Wo ist der Va ter? ,Der ist schon wieder in Holzleithen, Hausrucked t, Thomasroith ... Versammlungen abhalten. ' Er ist ers t wieder am Abend heimgekommen. Den ganzen Tag ist er aus gewesen. Jeden Sonntag. Er ist nie daheim gewesen. Oft ist er ga r ni cht heimgekommen, weil er verhaftet worden ist. Zum Beispiel im Siebener-Jahr (1907) haben sie ihn verhaftet. Ein Nachbar ist gekommen, der war auch organisiert, und sagt: ,Du Rockstohin, Dein Mann kommt nicht, sie haben ihn wieder verhaftet.' Na ja, die Mutter hat wieder gewein t. ,Kann man nix machen. Gut, daß Du mir 's gesagt has t. ' Meistens haben sie ihn bald wieder ausgelassen. Damit er wieder arbeiten hat können." Aus vielen Erzählstellen werden die Selbstdisziplin des Vaters, die Härte gegen sich und die Fanülie, sein Fleiß und eine schlaue Sturheit, die Bergarbeitern allgemein eigen war, deutlich. In den meisten Bergarbeiterfamilien gab es ein strenges Ritual bei der Heimkehr des Vaters. Daß die gesamte Familie versammelt sein mußte, war selbstverständlich. Während sich viele Bergarbeiter nach dem Essen niederlegten oder im Garten und im „Stall" arbeiteten, war bei Rockstroh nun zumeist „Schreibstunde". Die Kinder machten unter der Aufsicht ihres Vaters, der ihren schulischen Fortgang genau kontrollierte, die Hausaufgaben, der Va ter selbst erledigte die „Buchführung" und den Schriftverkehr von Partei und Gewerkschaft. Beim Adressieren der Gewerkschaftszeitung mußten die Kinder mithelfen, allfällige Gespräche mit Genossen wurd en zumindest teilweise in ihrer Gegenwart geführt. „Der Vater hat uns erzählt, daß di e sozialdemokratische Partei mehr Recht für den Arbeiter schafft. Mehr Wohlstand aufbaut. Die Christlichsozialen sind gegen uns, hat er uns damals schon gesagt." Die politische Tätigkeit wurde weder vorn Unternehmen noch von der Kirche gern gesehen und neben offenen Disziplinierungen gab es auch andere Versuche, Rockstroh II von seinen Ansichten abzubringen. ,,Der Direktor (des Bergwerks, H.H.) hat zu meinem Vater gesagt: ,Ich mache Sie zum Aufseher. ' Mein Vater hat das aber nicht gemacht." Die Kirche versuchte ihren Einfluß auf den „Aufrührer" indirekt, über die Kinder, geltend zu machen. „Ihr wär t recht liebe Kinder, hat er (der Pfarrer, H .H.) zu uns gesagt, ihr wä r't ja recht liebe Buben, aber Euer Vater. . ." Die Gegenstrategie des Vaters baute bewußt auf den sozialen Unterschieden auf und verwendete sie als Argument, etwa, als der Pfarrer ihn schriftlich aufforderte, die Kinder in die Sonntagsmesse zu schicken. ,,Die Bauernkinder sind jeden Sonntag in die Kirche gegangen, wir sind aber nicht gegangen, weil wir keine Schuhe gehabt haben und kein ri chtiges Gewand . Der Vater hat deswegen einmal einen Brief gekriegt, eh vorn Pfarrer. ,Wenn Du den Kindern Gewand und Schuhe kaufst, dann schick ich sie alle Sonntag in die Ki rche', hat er ihm geantwortet." Das „Kleidungsargument" ist dabei vermutlich nicht nur als schlaue Taktik zu verstehen. In der Familie Rockstroh II mischte sich das allgemeine Bestreben von Sozialdemokraten, durch eine ordentliche bürgerliche Kleidung Selbstbewußtsein und gesellschaftlichen Anspruch zu verdeutlichen, mit den berufsständischen Traditionen der Bergknappen, die im Tragen einer eigenen Uniform ihren sichtbaren Ausdruck gefw1den haben. Rockstroh III wird nach seinem Eintritt in den Beruf überdurchschnittlich viel für Kleidung ausgeben und konnte im Gespräch, Jahrzehnte später, noch genaue Preise nennen . Rockstroh III wurde in seiner Kindheit natürlich nicht nur durch die bisher angedeuteten unmittelbar politischen Elemente geprägt. Wahrscheinlich waren sie - trotz des Vaters - nicht einmal vorherrschend. Ohne daß hier ein differenzier tes Bild gezeichnet werden kann, sei auf einige weitere Bestandteile hingewiesen. In der Äußerung über den Kirchenbesuch ist schon ein Schlaglicht auf die Bedeutung der sozialen Unterschiede gefallen. Sie bestanden in erster Linie zwischen Bergarbeitern und Bauern sowie zwischen Bergarbeitern und Kleinbürgern, vor allem Anges tellten. So wie die Kolonien im ländlichen Umfeld regelrechte Fremdkörper waren, stellten die Bergarbeiterkinder in den Schulen etwas „Fremdes" dar. Zwar bildete sich der Gegensatz zwischen Kolonie und Umfeld erst unter den sozialen und politischen Bedingungen der Ersten Republik zur vollen Schärfe aus. ,,Fremd" waren die Bergarbeiterkinder aber allemal dort, wo sie auch zahlenmäßig eine Minderheit darstellten. 95
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